Corona, Krieg, Teuerungen
Zeugnistag für die
österreichische Bundespolitik

ZEUGNISTAG. Zwischen Corona, Ukrainekrieg und Teuerung navigierte die Bundespolitik in diesem Halbjahr auf unsicherem Terrain.
Scrollen Sie weiter, um zu erfahren, wer dabei gute Figur macht und wer auslässt!
KARL NEHAMMER (ÖVP)
Politischer
Mehrfrontenkrieg
Bundeskanzler und ÖVP-Chef Karl Nehammer kämpft politisch derzeit an mehreren Fronten. Geschieht nicht noch ein Wunder, steuert Österreich auf einen gesellschaftspolitisch hochexplosiven Winter zu. Selbst wenn Kreml-Chef Putin nicht das Gas abdreht, frisst die unaufhaltsame Preisspirale vielen Bürgerinnen und Bürgern das Einkommen und die Ersparnisse weg. Ob die milliardenschweren Bonus-Aktionen tatsächlich bei der Bevölkerung ankommen oder verpuffen, bleibt abzuwarten. Anders als bei Sebastian Kurz und bei Corona erweckt der Kanzler nicht den Eindruck, dass er die gewaltige Krise zur Chefsache gemacht hat. Nehammer wie auch Energieministerin Gewessler beteuern zwar unentwegt, Österreich sei vorbereitet, die Regierung hätte die Sache im Griff. Dass kurzfristig Kohlekraftwerke angeworfen werden bzw. die Industrie von Gas auf Öl umsatteln muss, hat eher den Charakter von Hauruckaktion. Auch als ÖVP-Chef weht Nehammer ein eisiger Wind ins Gesicht. Die diversen Affären erschüttern das Vertrauen in die immer noch türkise Volkspartei und bescheren der Partei katastrophale Umfragewerte. Derzeit liegt die SPÖ mit deutlichem Vorsprung auf Platz eins, ein Ende der türkisen Talfahrt ist nicht in Sicht. Ob Nehammer in einem Jahr noch Kanzler ist, hängt von der innerparteilichen Dynamik ab. Werden die Länder nervös, wird es knapp für Nehammer.
WERNER KOGLER (GRÜNE)
Der grüne Frontmann lässt anderen das Sonnenlicht
Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler ist (gemeinsam mit seiner Klubchefin Sigrid Maurer) hauptverantwortlich für den Fall von Sebastian Kurz und die folgenden Umbauten der Regierung. Seither hat die Macht der kleineren Partei in der Koalition spürbar zugenommen – auch, weil sie (zumindest in Umfragen) bei einer Neuwahl zum ersten Mal eine realistische Chance auf eine Ampelkoalition mit SPÖ und Neos hätte.
Während die Grünen das durchaus zu nutzen wissen und im letzten halben Jahr zahlreiche „ihrer“ Projekte umgesetzt haben – Parteiregeln, Erneuerbare Wärme, Straßenverkehrsordnung usw. –, ist Kogler darauf bedacht, dadurch sein gutes Einvernehmen mit Nehammer nicht zu gefährden. Das Rampenlicht überlässt er lieber anderen, wie zum Beispiel der Klimaministerin.
GERHARD KARNER (ÖVP)
Grenzen zu und
nach rechts dicht
Der Niederösterreicher setzt zwei ÖVP-Traditionen fort: Parteifreundliche Besetzungen im Polizeiapparat – und im Wochentakt die illegale Migration betonen.
SUSANNE RAAB (ÖVP)
Frauen und Medien
im Nirvana
Durch öffentliche Abwesenheit glänzte Frauen- und Medienministerin Susanne Raab. Obwohl es – Stichwort Inserate und Medienkorruption – durchaus viel
zu tun gäbe.
MAGNUS BRUNNER (ÖVP)
Aufräumen und
Distanz zu Türkis
Der neue Chef im Finanzministerium, wo Thomas Schmid die Fäden zog, punktet als Aufräumer und Reformer (Kalte Progression, Transparenz).
KAROLINE EDTSTADLER (ÖVP)
Parteipolitisch
freigespielt
Zählt anders als die Frauen-, Familien- und Medienministerin nicht zum Inner Circle des Kanzlers. Hat sich nach dem Abgang von Kurz politisch freigespielt. Ist als Europaministerin angekommen. Sollte Nehammer aufgeben, sind Edtstadler, Brunner, allenfalls Kocher mögliche Nachfolger.
ALEXANDER SCHALLENBERG (ÖVP)
Comeback im
Außenamt
Ist als Außenminister wieder in der Rolle seines Lebens. Der Vollblutdiplomat empfand die Übernahme der Kanzlerschaft im Herbst als staatsbürgerliche Pflicht.
MARTIN POLASCHEK (ÖVP)
Schwieriger
Quereinstieg
Sorgte vor allem mit seiner Frisur und unglücklichen Zib-2-Auftritten für Schlagzeilen. Kennt sich auf den Unis aus, bei Schulen ist noch Luft nach oben.
MARTIN KOCHER (ÖVP)
Ein Experte
als Minister
Der Wirtschafts- und Sozialminister bleibt der Fachmann im Kabinett. Lässt sich als Politiker nicht verbiegen, umschifft elegant die Parteiräson.
NORBERT TOTSCHNIG (ÖVP)
Scheu vor dem
Rampenlicht
Als Politiker hat der Bauernfunktionär und ausgewiesene Landwirtschaftsexperte noch nicht Fuß gefasst. Ist ein politischer Kopf, scheut aber das Rampenlicht.
KLAUDIA TANNER (ÖVP)
Schwache
Feldarbeit
In einer riesigen militärischen Krise führt eine Ex-Agrarlobbyistin das Heer. Klare Antworten auf Fragen zur Sicherheitsarchitektur bleibt sie bisher schuldig.
LEONORE GEWESSLER (GRÜNE)
Nicht die Rolle
ihres Lebens
Die Klimaministerin war eigentlich angetreten mit dem Vorsatz, Österreich für die Klimaneutralität 2040 aufzustellen – schon in normalen Zeiten eine Herkulesaufgabe. Jetzt kommt eine Energiekrise dazu, Gewessler muss wieder Kohlekraftwerke eröffnen, Gasalternativen erarbeiten usw. Sie schlägt sich nicht schlecht – nur schafft ihr deutscher Parteifreund Robert Habeck die Kommunikation um Welten besser.
ALMA ZADIC (GRÜNE)
Zu wenig Druck
trotz vieler Themen
Im Justizressort sind etliche versprochene Reformen ausständig – etwa die Ausweitung des Korruptionsstrafrechts nach Ibiza oder die Einrichtung eines Bundesstaatsanwalts. Insider vermuten, dass Ministerin Zadić zu wenig Druck macht.
JOHANNES RAUCH (GRÜNE)
Holpriger Start,
heißer Herbst
Obwohl kein Quereinsteiger, weil erfahrener Landespolitiker, hatte der Vorarlberger einen holprigen Start. Als Gesundheitsminister steht ihm noch ein heißer Herbst ins Haus.
PAMELA RENDI-WAGNER (SPÖ)
Auf Konfrontationskurs mit populistischen Ansätzen
Liegt zwar in den Umfragen in Front, ist und bleibt innerparteilich umstritten. Setzt nicht nur in der Teuerungsfrage auf konfrontative, bisweilen populistische Antworten. Fremdelt nach wie vor mit der Politik. Gibt aus Angst vor Hoppalas ganz selten innenpolitische Interviews.

HERBERT KICKL (FPÖ)
Die Ruhe nach (und
vor) dem Coronasturm
Seit die Konkurrenz am Obskuranten-Rand in Gestalt der Liste MFG in den Umfragen absackt, hat sich auch die FPÖ im Ton wieder gemäßigt. Das kann sich aber rasch wieder ändern – einerseits, wenn im Coronaherbst wieder Maßnahmen verhängt werden, andererseits, wenn die Konkurrenz durch Ex-BZÖ-Chef Gerald Grosz bei der Bundespräsidentenwahl den Blauen Stimmen zu kosten droht. In Umfragen erholt die FPÖ sich – aber weit unter Strache-Höhen.

BEATE MEINL-REISINGER (NEOS)
Neos in der konstruktiven
Warteschleife auf die Ampel
Die Neos, die gerade ihr zehnjähriges Bestehen gefeiert haben, punkten – etwa in den Verhandlungen zum Parteiengesetz – als konstruktive Oppositionspartei. Strategisches Ziel ist es, in einer rot-pink-grünen „Ampel“ in die nächste Regierung einzuziehen. Wie schwer das Regierungsleben mit einem größeren Partner ist, erlebt die Partei gerade in Wien.

Karikaturen: Petar Pismestrovic
