Reise in das Innere von Amerika
Ein Mann wird Amerikaner
Reportage. Henry Pachnowski hat 84 Jahre ohne Staatsbürgerschaft verlebt. Wenige Wochen vor der US-Wahl erhielt er seinen ersten Pass. Der Besuch beim ältesten Jungwähler ist der letzte Teil unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Auf der Kommode im Vorraum des Hauses in Silver Spring, Maryland, liegt originalverpackt eine große amerikanische Flagge. Vor wenigen Tagen hat Henry Pachnowski in feierlicher Zeremonie die Staatsbürgerschaft erhalten. Die Fahne mit nur 13 Sternen und 13 Streifen, Symbole für die 13 Kolonien, die 1776 ihre Unabhängigkeit von Englands König erklärt hatten, kaufte er zum Zeichen für die späte Zugehörigkeit zu seinem Staat.
Es war ein weiter Weg für den Mann, der von sich sagt, er habe zeitlebens am Peter-Pan-Komplex gelitten. Ewig jung fühlt sich die Märchenfigur und auch Pachnowski dachte nicht daran, dass er vielleicht einmal krank und hinfällig werden würde. So hat er fast sein ganzes Leben ohne Staatszugehörigkeit verbracht, ohne dass ihn das gestört hätte. Bis er herausfand, dass ihm weder die 1200 Dollar Pension zustanden, für die er zeitlebens eingezahlt hatte, noch medizinische Versorgung.
Henry Pachnowskis Leben begann in Deutschland. Seine Eltern waren als Zwangsarbeiter aus dem polnischen Lodz in die deutsche Stadt Celle verschleppt worden, wo er 1940 zur Welt kam, nicht als Pole, nicht als Deutscher. Als die Eltern im britischen Lager für Heimatvertriebene die Möglichkeit sahen, mithilfe einer kirchlichen Organisation in die USA auszuwandern, ergriff seine Mutter die Chance, der Vater wollte nach Polen zurück.
Pachnowski sitzt im Wohnzimmer des Hauses seiner Lebenspartnerin Anna, das vollgestellt ist mit den Resten seiner Altwarensammlung. Sein halbes Leben hat er mit Antiquitätenhandel sein Geld verdient, später als Installateur. Nach einem Herzinfarkt kann er nicht mehr schwer arbeiten, erzählt er, nur einfache Reparaturen am Haus traut er sich noch zu. Baba Yaga und Mojo, die beiden Hunde, streifen misstrauisch um die Fremden, während Henry seine Odyssee erzählt.
Die Erinnerung an die Ankunft im Hafen von New York überwältigt ihn jedes Mal, wenn er davon spricht. Elf Jahre war Henry alt, als seine Mutter ihn aus dem Bauch des Transatlantikdampfers holte und rief, „Schau, schau, Madame Liberty“. Henry Pachnowski braucht lange, bis er die Tränen zurückgekämpft hat und weiterreden kann.
Nichts deutete beim Anblick der Freiheitsstatue auf die Schwierigkeiten hin, die ihn auf dem neuen Kontinent erwarteten. Henry zog mit 18 nach Kalifornien und gründete eine Familie. Zwei große Cannabis-Pflanzen im Fenster, von Nachbarn zur Anzeige gebracht, beendeten das Idyll abrupt. Henry erhielt drei Jahre bedingt und auch die Green Card, seine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, war weg. Der Staat, in dem Henry glaubte, angekommen zu sein, wollte ihn ausweisen. Aber wohin? Zum ersten Mal erfuhr er, dass er nirgends hingehörte. Deutschland fühlte sich nicht zuständig, Polen auch nicht und die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß er nicht. Mit dem Urteil schien sie in weite Ferne gerückt. Henry Pachnowski wechselte den Wohnort und schlug sich irgendwie durch. „Das ging damals noch leichter.“
Völlig unerreichbar schien die Staatsbürgerschaft nach seiner Verhaftung wegen Homosexualität. Das war 1967 ein schweres Delikt gegen „Gott und Natur“, wie es im Urteil hieß. Pachnowski holt einen blauen Umschlag aus dem Schrank und schlägt ihn auf. Neben dem goldenen Siegel des Staates Kalifornien zeigt er auf die Unterschrift von Gouverneur Gavin Newsom.
Ich möchte von der deutschen Regierung Reparationen für das verlangen, was sie meiner Familie angetan haben.
2022 hat der Staat, der ihn einst für ein Delikt eingesperrt hatte, das heute keines mehr ist, den alten Mann pardoniert. Seine Verurteilung zu zehn Tagen Haft und drei Jahren bedingter Strafe sei „auf der Grundlage von Stigma, Vorurteil und Unwissenheit“ erfolgt. „Mit dieser Begnadigung anerkenne ich die inhärente Ungerechtigkeit dieser Verurteilung“, schreibt der Gouverneur. Damit war das letzte Hindernis auf dem steinigen Weg zur Staatsbürgerschaft beseitigt. „Ich hatte endlich das Gefühl, Teil von etwas zu sein.“ Ergriffen sang er mit hundert anderen Neubürgern „The Star Spangled Banner“, die Hymne der USA, und sprach den Fahneneid. Nun habe er noch ein Ziel, sagt Henry Pachnowski: „Ich möchte von der deutschen Regierung Reparationen für das verlangen, was sie meiner Familie angetan haben.“
Lange hatte Henry geglaubt, völlig allein mit seinem Fall zu sein. Bis er Karina Ambartsoumian-Clough kennenlernte. Die 36 Jahre alte Frau aus Philadelphia kämpft seit ihrer Schulzeit um die Anerkennung als Amerikanerin. Außer einer sowjetischen Geburtsurkunde beweist nichts ihre Identität. Die Ukraine, die bei der Ausreise der Eltern 1991 noch kein eigener Staat war, anerkennt ihre Staatszugehörigkeit nicht, die Sowjetunion gibt es nicht mehr. Der Asylantrag der Familie wurde abgelehnt, weil der Asylgrund, Verfolgung in der Sowjetunion, weggefallen war. Seit sie mit Kevin verheiratet ist, ist die Diabetikerin mit ihm wenigstens krankenversichert.
Karina Ambartsoumian-Clough ist Direktorin der Menschenrechtsorganisation United Stateless. Sie kam 1996 im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie als Asylwerberin in die USA.
Karina Ambartsoumian-Clough ist Direktorin der Menschenrechtsorganisation United Stateless. Sie kam 1996 im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie als Asylwerberin in die USA.
Vor einigen Jahren hat Karina mit anderen Betroffenen die Organisation „United Stateless“ ins Leben gerufen. Gemeinsam ist der kleinen Gruppe schon viel gelungen. Mithilfe des Flüchtlingshilfswerks der UNO gründete sie eine „Legal Clinic“, die ambulante Rechtsberatung für Menschen anbietet, die wie sie staatenlos sind. Der „Stateless Protection Act“, ein Gesetz, das es Staatenlosen erleichtern soll, in den USA Fuß zu fassen, liegt im Kongress. „Wir werden parteiübergreifende Unterstützung brauchen“, sagt Karina Ambartsoumian-Clough. „Wir wissen, dass es Republikaner gibt, die das Thema wichtig finden.“
Ich bin erst 36, ich hoffe, die Staatsbürgerschaft zu erleben.
Eine weitere Trump-Präsidentschaft, fürchtet sie, wäre das Ende der Gesetzesinitiative. Es gäbe mehr Geld für ICE, die für Abschiebungen zuständige Behörde, und weniger Verständnis für Staatenlose, von denen es ungefähr 200.000 Menschen in den USA gibt. Für ihre eigene Sache sieht es inzwischen gut aus. 2023 gelang es ihr, die Green Card zu erkämpfen, 2026 kann sie als Ehefrau eines Amerikaners um die Staatsbürgerschaft ansuchen. „Ich bin erst 36, ich hoffe, es zu erleben“, sagt Karina. „Dann möchte ich als Erstes nach Italien fahren.“ Und dann weiterarbeiten mit der kleinen, entschlossenen Organisation, die sie leitet. „Wir wollen das gelöst bekommen.“
Henry ist schon einen Schritt weiter. Nun muss er sich noch für die Wahl registrieren lassen, ein Formalakt für Staatsbürger. Seine Lebensgefährtin Anna wird ihm auch dabei behilflich sein, verspricht sie und fügt lachend eine Drohung hinzu: „Wenn Du Trump wählst, bring ich Dich um.“