Reise in das Innere von Amerika
Der Soldat und die Armen
Reportage. Wer darf herein, wer nicht? Das Thema Migration spaltet das Einwanderungsland wie kein zweites. Begegnungen im wichtigsten Swing State, Pennsylvania – Teil sieben unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Dennis Alter ist ein heimatloser Republikaner. Der Banker aus Philadelphia teilt die Grundannahme der Partei, dass Menschen mit mehr Handlungsfreiheit besser geholfen ist als mit steuerfinanzierten Unterstützungsprogrammen. Ein starkes Heer ist ihm wichtig, woke Modethemen weniger. Der Gedanke, Donald Trump die Verantwortung für das Land zu überlassen, treibt ihm trotzdem Angstschweiß auf die Stirn – wegen dessen Unberechenbarkeit, die er unumwunden „verrückt“ nennt. Es gibt nur wenige Gründe, warum er ihn trotz allem wählen könnte. Der wichtigste ist Trumps Migrationspolitik.
Nicht die Menge der Menschen, die über die südliche Grenze strömt, findet Alter besorgniserregend. Es ist die Art, wie sie kommen. „Mich beunruhigt, dass der Übertritt illegal passiert, dass wir unsere eigenen Gesetze missachten.“ Ob eine oder zehn Millionen Menschen jährlich zusätzlich ins Land kämen, halte er nicht für entscheidend. Seit Joe Biden Präsident ist, sollen sechs Millionen Menschen illegal die Südgrenze überschritten haben.
Jasmine Rivera leitet die Pennsylvania Immigration Coalition (PIC) in Philadelphia, unter deren Dach 60 Organisationen zusammenwirken, die sich mit Zuwanderung befassen. In ihrem Auftrag ließ die PIC eine Studie erstellen, die mit rein wirtschaftlichen Argumenten für mehr Zuwanderung in den Swing State plädiert. „Wir erinnern die Menschen daran, dass wir Leute brauchen, die unterschiedliche Jobs erledigen“, sagt sie. Die Bevölkerung altere rasch und die Geburtenraten seien viel zu niedrig. Einen Sitz habe das Land deshalb im Kongress schon verloren, von den wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Dass die Schrumpfung nicht dramatischer ausgefallen ist, sei den Zuwanderern zu danken, sagt Rivera. In den USA leben 45 Millionen Menschen, die nicht hier geboren sind, eine Million in Pennsylvania, liest man in ihrer Studie.
Im erhitzten Vorwahlklima weist Rivera auf einen tiefen Widerspruch hin, mit dem sie Politiker zu konfrontieren versucht. „Wir haben festgestellt, dass sie das Problem der Immigration nicht verstehen“, erzählt sie. Ein Politiker habe zu ihr gesagt: „Ich frage mich, warum die Leute nicht mit einer Einreiseerlaubnis zu uns kommen.“ Als sie ihm aufzählte, was alles nötig ist, um offiziell in die USA einwandern zu können, gab er zu, davon nichts gewusst zu haben. „Die Leute kommen illegal, weil es 10 bis 20 Jahre dauern kann, bis alle Hürden aus dem Weg geräumt sind“, sagt Rivera. „Man wartet nicht so lange, wenn man von Drogen-Kartellen bedroht ist oder seine Kinder nicht ernähren kann“, sagt die in Chicago geborene Amerikanerin, deren Großvater einst selbst über den Rio Grande ins Land gekommen ist.
Mike sitzt auf seiner Veranda im irischen Viertel von Scranton und erzählt von seiner Erfahrung mit Zuwanderung. Er ist Lehrer und will seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Vor Jahren noch waren an seiner High-School zehn Prozent der Kinder schwarz und etwa fünf Prozent Lateinamerikaner, schätzt der Psychologie-Lehrer. „Jetzt sprechen sechzig Prozent der Kinder spanisch“.
Den massiven Zuzug erklärt er mit der Inflation, dem zweiten großen Thema dieser Wahl. „Das Leben in New York oder Boston ist so teuer geworden.“ Das ziehe viele Zuwanderer nach Scranton. „Billiger, sicherer und leiser ist es hier“, habe ihm ein aus Brooklyn zugezogener Schüler erklärt. Die Schattenseiten der Entwicklung verschweigt Mike nicht: Gangs, die im ganzen Land aktiv sind, kamen auch nach Scranton und rekrutieren unter jungen, entwurzelten Kindern. „Vier Schüler von mir sind für Mord ins Gefängnis gegangen“. Das ist Wasser auf die Mühlen der Trump-Kampagne.
Mein Friseur ist aus der Dominikanischen Republik. Ich bin der Einzige in seinem Laden, der Englisch spricht.
„Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass sie alle schlecht sind“, unterbricht sich Mike selbst und erzählt, was ihm an positiven Entwicklungen in der Stadt einfällt, die mit der Zuwanderung zusammenhängen. „Es gibt wieder kleine Lebensmittelläden und Schuster“, erwähnt er. Beides war aus seinem Viertel verschwunden, viele Geschäftslokale standen leer. „Mein Friseur ist aus der Dominikanischen Republik. Ich bin der Einzige in seinem Laden, der Englisch spricht.“ Nette Leute seien das, die einen mit offenen Armen empfangen.
Auch Mike sieht die Notwendigkeit, Arbeitskräfte in die Stadt zu holen. An seiner Schule fehle viel Personal. „Ein Turnlehrer unterrichtet Naturwissenschaften.“ Seine Schwester arbeite im Spital, erzählt Mike. „Dort finden sie auch keine Arbeitskräfte. Und die Restaurants schließen um neun, weil niemand mehr da ist, zu servieren.“
Den Zuzug an Migranten spürt auch Adam Lynch, der für die Franziskaner eine Suppenküche, eine Gratis-Lebensmittelausgabe und einen Altkleider-Laden in Scranton führt. „Früher wusste ich ziemlich genau, was ich in einer Woche brauchen würde. Jetzt kann ich den Bedarf kaum decken. Was früher eine Woche lang hielt, verbrauche ich jetzt in vier Tagen.“ Eier könne er wegen der enorm gestiegenen Kosten gar nicht mehr anbieten.
Lynch war mit den Marines in Pakistan, in Afghanistan und im Irak im Einsatz. Mit Posttraumatischem Stresssyndrom kam er zurück und fand bei den Franziskanern Unterschlupf. Vom freiwilligen Helfer arbeitete er sich empor zum Leiter der karitativen Einrichtung. „Diese Arbeit ist therapeutisch für mich. Wenn die Leute mir danken, fühle ich mich fast schuldig“, erzählt er und umarmt einen Bekannten, der seine Essensration abholt.
Reportage. Wer darf herein, wer nicht? Das Thema Migration spaltet das Einwanderungsland wie kein zweites. Begegnungen im wichtigsten Swing State, Pennsylvania – Teil sieben unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Dennis Alter ist ein heimatloser Republikaner. Der Banker aus Philadelphia teilt die Grundannahme der Partei, dass Menschen mit mehr Handlungsfreiheit besser geholfen ist als mit steuerfinanzierten Unterstützungsprogrammen. Ein starkes Heer ist ihm wichtig, woke Modethemen weniger. Der Gedanke, Donald Trump die Verantwortung für das Land zu überlassen, treibt ihm trotzdem Angstschweiß auf die Stirn – wegen dessen Unberechenbarkeit, die er unumwunden „verrückt“ nennt. Es gibt nur wenige Gründe, warum er ihn trotz allem wählen könnte. Der wichtigste ist Trumps Migrationspolitik.
Nicht die Menge der Menschen, die über die südliche Grenze strömt, findet Alter besorgniserregend. Es ist die Art, wie sie kommen. „Mich beunruhigt, dass der Übertritt illegal passiert, dass wir unsere eigenen Gesetze missachten.“ Ob eine oder zehn Millionen Menschen jährlich zusätzlich ins Land kämen, halte er nicht für entscheidend. Seit Joe Biden Präsident ist, sollen sechs Millionen Menschen illegal die Südgrenze überschritten haben.
Jasmine Rivera leitet die Pennsylvania Immigration Coalition (PIC) in Philadelphia, unter deren Dach 60 Organisationen zusammenwirken, die sich mit Zuwanderung befassen. In ihrem Auftrag ließ die PIC eine Studie erstellen, die mit rein wirtschaftlichen Argumenten für mehr Zuwanderung in den Swing State plädiert. „Wir erinnern die Menschen daran, dass wir Leute brauchen, die unterschiedliche Jobs erledigen“, sagt sie. Die Bevölkerung altere rasch und die Geburtenraten seien viel zu niedrig. Einen Sitz habe das Land deshalb im Kongress schon verloren, von den wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Dass die Schrumpfung nicht dramatischer ausgefallen ist, sei den Zuwanderern zu danken, sagt Rivera. In den USA leben 45 Millionen Menschen, die nicht hier geboren sind, eine Million in Pennsylvania, liest man in ihrer Studie.
Die Leute kommen illegal, weil es 10 bis 20 Jahre dauern kann, bis alle Hürden aus dem Weg geräumt sind.
Im erhitzten Vorwahlklima weist Rivera auf einen tiefen Widerspruch hin, mit dem sie Politiker zu konfrontieren versucht. „Wir haben festgestellt, dass sie das Problem der Immigration nicht verstehen“, erzählt sie. Ein Politiker habe zu ihr gesagt: „Ich frage mich, warum die Leute nicht mit einer Einreiseerlaubnis zu uns kommen.“ Als sie ihm aufzählte, was alles nötig ist, um offiziell in die USA einwandern zu können, gab er zu, davon nichts gewusst zu haben. „Die Leute kommen illegal, weil es 10 bis 20 Jahre dauern kann, bis alle Hürden aus dem Weg geräumt sind“, sagt Rivera. „Man wartet nicht so lange, wenn man von Drogen-Kartellen bedroht ist oder seine Kinder nicht ernähren kann“, sagt die in Chicago geborene Amerikanerin, deren Großvater einst selbst über den Rio Grande ins Land gekommen ist.
Mike sitzt auf seiner Veranda im irischen Viertel von Scranton und erzählt von seiner Erfahrung mit Zuwanderung. Er ist Lehrer und will seinen richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen. Vor Jahren noch waren an seiner High-School zehn Prozent der Kinder schwarz und etwa fünf Prozent Lateinamerikaner, schätzt der Psychologie-Lehrer. „Jetzt sprechen sechzig Prozent der Kinder spanisch“.
Den massiven Zuzug erklärt er mit der Inflation, dem zweiten großen Thema dieser Wahl. „Das Leben in New York oder Boston ist so teuer geworden.“ Das ziehe viele Zuwanderer nach Scranton. „Billiger, sicherer und leiser ist es hier“, habe ihm ein aus Brooklyn zugezogener Schüler erklärt. Die Schattenseiten der Entwicklung verschweigt Mike nicht: Gangs, die im ganzen Land aktiv sind, kamen auch nach Scranton und rekrutieren unter jungen, entwurzelten Kindern. „Vier Schüler von mir sind für Mord ins Gefängnis gegangen“. Das ist Wasser auf die Mühlen der Trump-Kampagne.
Mein Friseur ist aus der Dominikanischen Republik. Ich bin der Einzige in seinem Laden, der Englisch spricht.
„Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass sie alle schlecht sind“, unterbricht sich Mike selbst und erzählt, was ihm an positiven Entwicklungen in der Stadt einfällt, die mit der Zuwanderung zusammenhängen. „Es gibt wieder kleine Lebensmittelläden und Schuster“, erwähnt er. Beides war aus seinem Viertel verschwunden, viele Geschäftslokale standen leer. „Mein Friseur ist aus der Dominikanischen Republik. Ich bin der Einzige in seinem Laden, der Englisch spricht.“ Nette Leute seien das, die einen mit offenen Armen empfangen.
Auch Mike sieht die Notwendigkeit, Arbeitskräfte in die Stadt zu holen. An seiner Schule fehle viel Personal. „Ein Turnlehrer unterrichtet Naturwissenschaften.“ Seine Schwester arbeite im Spital, erzählt Mike. „Dort finden sie auch keine Arbeitskräfte. Und die Restaurants schließen um neun, weil niemand mehr da ist, zu servieren.“
Den Zuzug an Migranten spürt auch Adam Lynch, der für die Franziskaner eine Suppenküche, eine Gratis-Lebensmittelausgabe und einen Altkleider-Laden in Scranton führt. „Früher wusste ich ziemlich genau, was ich in einer Woche brauchen würde. Jetzt kann ich den Bedarf kaum decken. Was früher eine Woche lang hielt, verbrauche ich jetzt in vier Tagen.“ Eier könne er wegen der enorm gestiegenen Kosten gar nicht mehr anbieten.
Lynch war mit den Marines in Pakistan, in Afghanistan und im Irak im Einsatz. Mit Posttraumatischem Stresssyndrom kam er zurück und fand bei den Franziskanern Unterschlupf. Vom freiwilligen Helfer arbeitete er sich empor zum Leiter der karitativen Einrichtung. „Diese Arbeit ist therapeutisch für mich. Wenn die Leute mir danken, fühle ich mich fast schuldig“, erzählt er und umarmt einen Bekannten, der seine Essensration abholt.
Der Kriegsveteran Adam Lynch leitet die Essens- und Kleiderausgabe der Franziskaner in Scranton.
Der Kriegsveteran Adam Lynch leitet die Essens- und Kleiderausgabe der Franziskaner in Scranton.
Dass Kamala Harris als Vizepräsidentin die liberale Grenzpolitik der ersten drei Regierungsjahre Bidens mittrug, geht nun zu ihren Lasten. Erst im Juni, als der Wahlkampf Fahrt aufzunehmen begann, unterzeichnete der aus Scranton stammende Joe Biden am Kongress vorbei eine drastische Verschärfung der Grenzregelungen der USA. Sobald die Grenzer im Tag mehr als 1500 Menschen aufgreifen, wird für eine Woche das Asylsystem des Landes blockiert. Waren allein im vergangenen Dezember noch 250.000 Menschen illegal aus Mexiko gekommen, so fiel diese Zahl im Juli auf 56.000. Als Harris Ende September den Abschnitt des Grenzzauns in Arizona abschritt, der unter der Präsidentschaft Barack Obama gebaut worden war, kündigte sie vage weitere Maßnahmen zum Schutz der Grenze an.
Donald Trump verspricht Massendeportationen und Auffanglager für illegale Zuwanderer und verschärft von Tag zu Tag den Ton. Vor Menschenmassen warf er Migranten vor, „das Blut unseres Landes zu vergiften“. Seine Gegnerin verdächtigt er der Heuchelei, weil ihre harte Rhetorik zum Thema der zuwanderungsfreundlichen Politik des Weißen Hauses widerspricht. Nach der Wahl werde sie wieder so agieren, unterstellt er ihr.
Biegt man in Scranton von der Biden-Street in die Washington Avenue ab, kommt man zum Amtsgebäude von Lackawanna County. Evie Rafalko McNulty leitet hier das Katasteramt. Sie ist Demokratin und hält mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg: Harris hätte das Thema Migration früher und entschlossener aufgreifen müssen, findet sie ein paar Tage vor dem Überraschungsbesuch der Kandidatin an der mexikanischen Grenze. Es sei wohl ein Fehler gewesen, das Thema lange Trump zu überlassen, statt klar und differenziert gegenzuhalten, sagt sie. Ihr stärkstes Argument zur Versachlichung der überhitzten Auseinandersetzung bezieht Rafalko McNulty aus ihrer irisch-polnischen Familiengeschichte: „Wir waren alle einmal Einwanderer.“