Reise in das Innere von Amerika
Ein Dorf erfindet sich neu
Reportage. Wie ein toter Olympionike der verfallenden Boomtown Mauch Chunk eine neue Zukunft zu verheißen schien und was Karl Schranz damit zu tun hat. Teil sechs unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Breitbeinig steht Emilio Sanchez vor dem Porphyr-Sarkophag an der Ortseinfahrt und schiebt bedächtig den Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen. Mit seiner Familie ist er eigens aus Arizona angereist, um dem Toten seine Reverenz zu erweisen. Schon als Kind war Sanchez ein Buch über Jim Thorpe und dessen Großtaten in einem guten Dutzend Sportarten in die Hände gefallen. „Er ist einer meiner Helden“, erzählt der gebürtige Mexikaner mit Army-Kappe auf dem Kopf und zeigt mit seinem Stock zum Sarkophag. „Ich wollte ihn unbedingt sehen – ein großartiger Typ.“
Sanchez ist bei weitem nicht der einzige Tourist, den es an diesem x-beliebigen Werktag außerhalb der Ferienzeit nach Jim Thorpe verschlagen hat. Es gibt nur zwei Gründe, hierherzukommen. Entweder man lässt sich in einem Raftingboot den Lehigh-Fluss hinuntergleiten oder man ist ein Fan des Olympiasiegers im Fünf- und Zehnkampf, der 1912 für die USA in Stockholm zwei Medaillen und sieben Weltrekorde erkämpft hat. Fünf sind bis heute nicht übertroffen.
Der Ort, an dessen Einfahrt die bombastische Grabstätte Jim Thorpes liegt, hieß ursprünglich Mauch Chunk, was in der Sprache der Ureinwohner „Bärenberg“ heißt. Seine Gründung 1818 verdankt Mauch Chunk der Entdeckung von Anthrazit im Bergrücken. Diese Region Pennsylvanias heißt deshalb Carbon County, auch wenn schon lange keine Kohle mehr abgebaut wird.
Die gut gebuchte Tour im fensterlosen Bus, die sich auch Sanchez und seine Familie nicht entgehen lassen, beginnt beim alten Bahnhof im Stadtzentrum. Erstes Ziel sind die Prunkvillen der Millionäre, die im 19. Jahrhundert mit dem Bodenschatz Vermögen aufgehäuft hatten. Der Ort strahlt noch den Reichtum seiner Gründungszeit aus: solide gemauerte, reich verzierte Fassaden in allen Baustilen säumen das schmale Tal. Das kleine „Mauch Chunk Opera House“ weist die Gründungsväter als Mäzene aus. Sogar einen Pfarrer hat die 4500-Seelen Gemeinde angelockt. „Thou shalt not park here“ steht neben dem für ihn reservierten Parkplatz vor der Kirche in biblischem Drohton. Das Gefängnis verkleideten die Dorfbewohner aufwendig als finstere Ritterburg, was die Umwandlung in eine Touristenattraktion erleichtert.
Die Entdeckung von Öl läutete den Niedergang von Mauch Chunk ein. Die Stadt musste sich etwas anderes einfallen lassen als den Abbau immer tieferer Schichten des Berges, an dessen Fuß sie liegt. 1954 kam dem Bürgermeister eine Idee. Er kaufte der Witwe den Leichnam des jüngst verstorbenen Athleten Jim Thorpe ab und ließ das Grabmal an der Ortseinfahrt errichten. Porphyr, der für kaiserliche Grabstätten seit der Antike gebräuchliche Stein, schien gerade gut genug für den Mann, der nicht nur Leichtathlet, sondern auch erstklassiger Football-, Baseball und Basketballspieler gewesen war. Damals änderte Mauch Chunk seinen Namen und heißt seither Jim Thorpe. Das müsste, so hoffte der Ort, Touristen anlocken. Vielleicht würde jemand zu Ehren des Namenspatrons den Bau einer Hall of Fame finanzieren, ein Krankenhaus stiften oder eine Schule, kalkulierte die Gemeinde. Die Zukunft schien gesichert.
„Man wartete und wartete, aber die Erwartungen erfüllten sich nicht“, verkündet die Busfahrerin mit schriller Stimme, während sich ihr Gefährt den steilen Weg vom alten Bahnhof zum Sarkophag des Athleten hinaufquält. Familie Thorpe war enttäuscht und wollte sogar ihren Toten wieder zurück, erzählt sie, um ihn im heimatlichen Oklahoma zu bestatten. Die Gerichte lehnten das ab. In den siebziger Jahren nahm der Tourismus doch noch Fahrt auf und schuf Jobs wie ihren. „Heute sind Sie unsere wichtigste Einnahmequelle“, ruft sie ihren Fahrgästen zu. „Sie und Ihr Geld werden hier geschätzt – ein kleiner Applaus für Sie!“ Das Publikum klatscht artig.
Der Bus hält vor dem „Kronjuwel“, wie die schrille Stimme den Toten nennt, dessen Grab wir bei der Ankunft umrundet hatten. Eine hellblaue Plastikplane verdeckt die Statue von Jim Thorpe als Baseballspieler. In Football- und Basketballmontur umspielt er schon länger sein Grab. Der Ort scheut keine Kosten für seine wichtigste Attraktion. Schautafeln schildern ausführlich die Leistungen des Indianers – und seine Tragik.
Im ganzen Ort hängen Bilder von Kriegsveteranen aus Jim Thorpe, Fahnen und Wahlplakate.
Im ganzen Ort hängen Bilder von Kriegsveteranen aus Jim Thorpe, Fahnen und Wahlplakate.
Ein Jahr nach dem Olympiasieg wurden ihm die Medaillen aberkannt. Er sei kein Amateur, klagte deren Verband, geleitet von Thorpes unterlegenem Teamkollegen Avery Brundage. Vorurteile werden auch eine Rolle gespielt haben, vermutet die Buschauffeurin. Versuche, Thorpe die Medaillen später zurückzuerstatten, scheiterten am langjährigen IOC-Präsidenten, zu dem Brundage 1952 aufgestiegen war.
Brundage ist in Österreich aus einem ähnlichen Grund unvergessen. Sechzig Jahre nach den Stockholmer Spielen hatte der greise IOC-Präsident mit demselben Argument Karl Schranz von den Olympischen Spielen in Sapporo ausgeschlossen. Schranz war als umjubelter Held, aber ohne Medaille nach Österreich zurückgekehrt. Die Urenkel Thorpes erhielten erst 1983 Kopien der Trophäen des Athleten. Schon lange vorher war nachgewiesen worden, dass der Einspruch gegen Thorpes Amateurstatus lange nach der Frist erhoben worden war. Im Register des IOC wird der um seine Triumphe Betrogene erst seit 2022 wieder als alleiniger Olympiasieger gelistet.
Der Bus kämpft sich jetzt den Kohlenberg hinauf, vorbei an der schwarzen Bärensilhouette, die man als Touristenschreck in den Wald gestellt hat, vorbei am ausrangierten Kohlenwagen, in dem nach der Anthrazit-Ära mutige Touristen gegen Geld zu Tal rasen durften. Zurück im Ort rät die schrille Stimme der Busfahrerin, die Shops und Lokale im Ort nicht zu versäumen. Souvenirgeschäfte, Cafés, ein altes Hotel, alles heute auf Gäste ausgerichtet.
Die Wahl hinterlässt auch hier ihre Spuren. Im ersten Souvenirladen deutet Uncle Sam, die Personifikation der USA, mit dem Finger drohend auf Besucher und fordert: „Hört auf, für dumme Menschen zu stimmen.“ Ein T-Shirt-Aufdruck verkündet unverhohlen Politikverweigerung: „Republikaner sind rot, Demokraten blau und mir ist egal, was beide tun“. Von vielen Häusern hängen US-Flaggen, an Straßenlaternen Bilder von Kriegsveteranen, die aus Jim Thorpe stammen. Es sind viele, die ihr Auskommen bei der Armee gesucht haben. Vor manchen Häusern verkünden Schilder die politische Präferenz der Bewohner.
Der Thorpe-Fan Antonio Sanchez macht aus der Seinen keinen Hehl. Er sei nicht Demokrat und nicht Republikaner, sondern Konstitutionalist, also Verteidiger der Verfassung. Was einen Konstitutionalisten ausmache? „Er tut alles, um Kamala zu verhindern“, sagt er und nennt die Kandidatin der Demokraten verächtlich beim Vornamen, wie Donald Trump es vormacht. Warum er sie verhindern wolle? „Sie ist gefährlich für Amerika, weil sie eine Kommunistin ist. Ich möchte nicht enden wie Venezuela“, sagt der 76-Jährige und zitiert Margaret Thatcher: „Sozialismus funktioniert so lange gut, bis einem das Geld der anderen ausgeht.“