Reise in das Innere von Amerika
Wo die Adler wieder nisten
Reportage. In den Wäldern Virginias hat der Stamm der Rappahannock seinen Sitz. Ein Treffen mit dem einzigen weiblichen Häuptling in den USA. Teil vier unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz
Im Rappahannock Tribal Center im kleinen Dorf Indian Neck steht Chief Anne Richardson vor dem wandfüllenden Foto eines Felsabbruchs am nahen Rappahannock River und zeigt stolz auf das Bild. Ihrem Stamm ist es gelungen, die Rechte an einem kleinen Bruchteil des ursprünglichen Siedlungsgebiets zurückzubekommen. Zurückzukaufen besser gesagt.
Chief Anne Richardson ist eine resolute Frau. Seit 1998 steht sie an der Spitze ihres Stammes, den schon ihr Vater, ihr Großvater und ihr Urgroßvater geführt hatten. Sie ist die einzige Frau in den USA, die sich Häuptling nennen darf. Zuletzt hatte es das im 18. Jahrhundert gegeben.
Eigentlich sollte es Indianerstämme in Virginia nicht mehr geben. 1924 hatte der Gesetzgeber den „Racial Integrity Act“ verabschiedet. Das Gesetz definiert die „Ein-Tropfen Regel“. Wem auch nur einen Tropfen nichtweißen Blutes in den Adern fließt, der oder die galt den Statistikern des Staates als „coloured“, Indianer wie Schwarze gleichermaßen. Ehen mit Weißen verbietet das Gesetz. „Papier-Genozid“ nennt Chief Anne die Regel, weil sie indigene Völker spurlos aus dem Bevölkerungsregister getilgt hat.
Chief Anne Richardson: Die resolute Frau ist der einzige weibliche Häuptling in den USA. 1956 kam sie in dem Haus ihrer Großeltern, vor dem sie für unser Porträt posiert, auf die Welt. In den letzten Jahren wurde das alte Gebäude von Grund auf erneuert und soll schon bald als „Rappahannock Healing Center“ dienen. Hier will der Stamm seine traditionellen Heilmethoden vermitteln. Auch will man dort die Geschichte des Stammes und seines Überlebens erzählen. Foto: Marco Longari
Chief Anne Richardson: Die resolute Frau ist der einzige weibliche Häuptling in den USA. 1956 kam sie in dem Haus ihrer Großeltern, vor dem sie für unser Porträt posiert, auf die Welt. In den letzten Jahren wurde das alte Gebäude von Grund auf erneuert und soll schon bald als „Rappahannock Healing Center“ dienen. Hier will der Stamm seine traditionellen Heilmethoden vermitteln. Auch will man dort die Geschichte des Stammes und seines Überlebens erzählen. Foto: Marco Longari
Dass es der Verwaltung nicht gelang, die Rappahannock zu brechen, liegt auch an der Hartnäckigkeit der Großeltern von Chief Anne. Chief Otho Nelson und seine Frau Susie, die für den Häuptling die Schreibarbeit erledigte, fanden Wege, das Gesetz zu umgehen. „Wir hatten unsere eigenen Hebammen, die haben die Geburtsurkunden ausgefüllt. Wir haben diese Aufzeichnungen noch, viele Stämme nicht.“ Der schriftliche Nachweis der Abkunft von den Ureinwohnern ist wichtig für die Zuerkennung ihrer Rechte.
Unser Volk entschloss sich, Leute nach Norden zu schicken, wo sie Jobs und Bildung bekommen konnten. Von dort haben sie Geld zurückgeschickt, damit wir Anwälte anheuern konnten, um für unsere Anerkennung zu kämpfen.
Der Mann, der die Regel erfand, welche die Ureinwohner auf bürokratischem Wege zum Verschwinden bringen sollte, heißt Walter Plecker. Ab 1912 leitete er über dreißig Jahre lang das Bureau of Vital Statistics, aus seiner Feder stammt auch das Rassenreinheitsgesetz. Wenn Chief Anne den Namen des Eugenikers nennt, verhärten sich ihre Züge. „Meine Großeltern haben Plecker bekämpft. Mit ihrer alten Schreibmaschine schrieb meine Großmutter gegen die verschiedenen Agenturen und Würdenträger des Staates an“, erzählt sie. „Unser Volk entschloss sich, Leute nach Norden zu schicken, wo sie Jobs und Bildung bekommen konnten. Von dort haben sie Geld zurückgeschickt, damit wir Anwälte anheuern konnten, um für unsere Anerkennung zu kämpfen“.
Mit spürbarem Abscheu erzählt sie, dass Plecker beste Beziehungen zum NS-Regime pflegte und die Radikalität bewunderte, mit der die Nationalsozialisten ihre Rassenideologie umsetzten. Sie berichtet von einer Vortragsreise Pleckers nach Deutschland, wo er seine „Errungenschaften“ anpries. „Ich hoffe, dass im Auto, das ihn 1947 niederfuhr, kein Indianer saß“, sagt sie und lacht bitter. Erst 1967 hob der Oberste Gerichtshof im Urteil Loving v. Virginia das Rassenreinhaltungsgesetz auf, das in Virginia seit 1924 gegolten hatte. 43 Jahre lang hatte es seine Wirkung getan.
Es war Anne Richardsons Vater, der erste Besserungen für sein Volk erkämpfen konnte. 1983 erkannte Virginia die Rappahannock als Stamm an. „Die Entscheidung kostete den Staat keinen Cent, aber es war politisch korrekt“, erzählt Chief Anne. Der große Schritt für ihr Volk kam 2018, als der Kongress bundesweit Indianern ihre Rechte zuerkannte.
Wir hatten Unterstützung von beiden Seiten im Kongress, weil das Männer der Gerechtigkeit waren.
Unterstützung kam von beiden Parteien, betont die kämpferische Frau. „Es gibt Menschen, die haben ein Herz für Gerechtigkeit und Menschen, die nichts darauf geben“, sagt Richardson. Mit Parteifarbe habe das nichts zu tun. „Wir hatten Unterstützung von beiden Seiten im Kongress, weil das Männer der Gerechtigkeit waren.“ Im Sitzungssaal des Tribal Center hängt eine Kopie der Urkunde. Sie trägt die überdimensionale Unterschrift von Donald Trump. Erst durch die offizielle Anerkennung konnte der Stamm mit dem Aufbau einer Stammesregierung und Verwaltung beginnen. „Ohne die großzügigen staatlichen Covid-Unterstützungen hätte es Jahre gedauert, all das aufzubauen, was wir heute haben“, schreibt Richardson im Magazin des Stamms.
Ihr größter sichtbarer Erfolg ist der Erwerb von Fones Cliff, des Waldgebietes am Rappahannock-River, dessen Foto vor ihrem Büro hängt. Ein riesiges Hotel hätte an dem heiligen Ort ihres Stammes entstehen sollen. Der Investor ging nach illegalen Rodungen in Konkurs und der Landschaftsschutz-Fonds von Virginia ersteigerte das Land, um es für die Rappahannock zu sichern. „Wir sammeln jetzt Geld, um es von ihnen zu kaufen.“ 8,8 Millionen kostet das Terrain, auf dem Archäologen Spuren von drei der einst 14 Siedlungen der Rappahannock fanden. Die Hälfte der Summe muss der Stamm auftreiben, den Rest steuert der Staat bei, der Jahrhunderte früher die hier ansässigen Stämme vertrieben hatte. Land Back Lady nennt man Chief Anne deshalb in Virginia.
Gemeinsam mit dem US Fish and Wildlife Service werden die Rappahannock das Kliff als Naturschutzgebiet bewahren. In ihrer jüngsten Publikation warnen die künftigen Besitzer vor dem Plan, entlang des Flusses fünf Serverfarmen zu errichten, weil sie enorme Mengen von Kühlwasser brauchen. Das ökologische Gleichgewicht im Fluss ist bedroht, schreibt das Blatt. Auch brauchen die Anlagen, von denen es in Virginia mehr gibt als in jedem anderen US-Bundesstaat, enorme Mengen an Strom.
Fones Cliff ist ein Nistplatz für Adler. Sie sind schon vor uns dorthin zurückgekommen. Wir glauben, dass sie zurückkamen, damit auch wir zurückkehren können.
Vor dem frisch renovierten Haus, in dem schon ihr Vater und sie selbst zur Welt gekommen waren, begründet Chief Anne, warum das Naturschutzgebiet so wichtig ist für ihr Volk. „Fones Cliff ist ein Nistplatz für Adler. Sie sind schon vor uns dorthin zurückgekommen“, sagt Richardson. „Wir glauben, dass sie zurückkamen, damit auch wir zurückkehren können.“ Adler sind für ihr Volk mehr als nur majestätische Vögel. „Wir glauben, dass sie Boten des Schöpfers für die Menschen sind. Und weil sie sich dort niedergelassen haben, ist das Land heilig.“
Bald werden die Rappahannock, von denen nur noch etwas mehr als 300 in Virginia leben, auf Fones Cliff nach den Spuren ihrer Vorfahren suchen; sie werden wieder – wie vor der Ankunft der weißen Siedler – ihre religiösen Zeremonien vollziehen; sie werden sich jährlich zu Pow Wows, den traditionellen Stammestreffen, zusammenfinden, und sie wollen ein Besucherzentrum auf dem Territorium errichten. „Dort werden wir die wahre Geschichte dieses Orts erzählen.“
Auf Weg zu den Rappahannock fährt man durch dünn besiedelte, grüne Landstriche Virginias. Diese Tankstelle musste aufgelassen werden. Foto: Marco Longari
Auf Weg zu den Rappahannock fährt man durch dünn besiedelte, grüne Landstriche Virginias. Diese Tankstelle musste aufgelassen werden. Foto: Marco Longari