Reise in das Innere von Amerika
Zwei Glocken der Freiheit
Reportage. 1776 verkünden in Philadelphia 13 Kolonien ihre Unabhängigkeit; in den Wäldern Virginias gründen Sklaven ihre Kirche. Der Besuch bei der First Baptist Church in Williamsburg ist Teil fünf unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Misstrauisch schaut der junge Mann mit schusssicherer Weste zu den Weißen her, die sich der Kirche nähern. Am Halfter trägt er gut sichtbar seine Waffe. Er werde fragen, ob jemand von der Gemeinde zu sprechen sei, sagt er, lässt das Kirchtor kurz unbewacht und kommt mit Mike Harshaw aus dem strengen Ziegelbau.
Der Pensionist, der für die Navy als Ingenieur gearbeitet hatte, ist schon eine Stunde vor dem Gottesdienst da, weil heute er die Kirchgänger empfangen muss, die zum Gottesdienst strömen. Freundlich schüttelt er allen die Hand, wechselt ein paar Worte. Zwischendurch zeigt er den Gästen aus Europa die Ausstellung zur Geschichte des Hauses, die im Vorraum des Gotteshauses eine Brücke zur Vergangenheit schlägt. Alte Fotos aus den Tagen der Bürgerrechtskämpfe, nachgestellte Szenen aus den Anfängen der Gemeinde, Geschichte und Geschichten.
Vor fast siebzig Jahren, erzählt Harshaw, stand seine Kirche noch näher am Zentrum, im historischen Teil der alten Hauptstadt Virginias. 1955 musste sie weichen, und das sagt viel über das damalige Klima. „Colonial Williamsburg“, eine Stiftung, die sich mit dem Geld der Rockefellers die Rekonstruktion des historischen Stadtkerns zur Aufgabe gemacht hat, kaufte den Grund. Eine von Sklaven gegründete Kirche passte nicht ins Selbstbild der Nachfahren britischer Siedler. Man riss sie nieder und asphaltierte den Platz für Autos. Der großzügige Kaufpreis erlaubte der Gemeinde den Bau ihrer neuen Kirche zwei Straßen weiter.
Touristen an der historischen Adresse der First Baptist Church in Williamsburg.
Touristen an der historischen Adresse der First Baptist Church in Williamsburg.
Mike Harshaw zählt genau auf, welche Gegenstände man mitgenommen hat aus dem alten Bau. Vor allem die Glocke ist ihm wichtig. Sie mache deutlich, was sich alles geändert hat in der Stadt und im ganzen Land. Harshaw erzählt, dass die Glocke kürzlich auch mit Geldern von „Colonial Williamsburg“ restauriert werden konnte; dass sie 2016 nach Washington gebracht wurde, damit Präsident Barack Obama mit ihrem Klang das Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur einweihen konnte; dass sie nun wieder im Turm hängt und jeden Sonntag die Gemeinde zusammenruft, und dass man sie auch die Zweite „Liberty Bell“ nennt, neben der mit dem Sprung, die einst in Philadelphia die Freiheit der Kolonien eingeläutet hatte. Nicht zufällig prägt die Glocke das Logo der Stiftung, die sich der Erforschung der Geschichte der Gemeinde verschrieben hat. „Let freedom ring“ steht unter der Silhouette der Glocke, nach einem Zitat aus Martin Luther Kings großer Traum-Rede in Washington.
Die älteste Kirche der Afroamerikaner begann mit der Versammlung verängstigter Sklaven im Wald außerhalb der Stadt, erzählt Harshaw. Dort beteten und sangen sie heimlich. Das änderte sich, als Jesse Cole, ein weißer Kaufmann in Williamsburg, im frühen 19. Jahrhundert den Christen einen kleinen Holzschuppen am Rande der Stadt zur Verfügung stellte. Ein Weißer tritt einem versklavten Pastor Land ab – es muss eine Provokation für die Nachbarn gewesen sein.
Die neue Kirche hat sich halb gefüllt, der kleine, stimmgewaltige Chor hat Platz genommen. Wir, die wir nicht zur Gemeinde gehören, sind aufgerufen, uns vorzustellen. Freudige Rufe und Applaus begrüßen uns. Die Gemeinde gibt Hinweise, wie man sich zur Wahl registrieren kann. Es wird gesungen und aus dem Buch des Propheten Jeremias gelesen: „Wenn du mit Fußgängern läufst und sie dich schon ermüden, wie willst du da mit Rossen um die Wette rennen?“ Dann erhebt Pastor Reginald Davis seine Donnerstimme.
Pastor Reginald F. Davis in der First Baptist Church von Williamsburg. Auch Martin Luther King hielt dort im Jahr 1962 eine Rede.
Pastor Reginald F. Davis in der First Baptist Church von Williamsburg. Auch Martin Luther King hielt dort im Jahr 1962 eine Rede.
Seit 21 Jahren ermutigt er seine Gemeinde, nicht klein beizugeben, sich mehr zuzutrauen, Widerstand zu leisten und aufzustehen gegen Ungerechtigkeit. Der alte Text passt gut dazu. „Wart Ihr je knapp daran, aufzugeben?“, fragt er in den Raum, in dem nur eine weiße Williamsburgerin sitzt. Laut schallt Zustimmung zurück. „Cheer up!“, ruft Davis. „Wenn schon ein Maulwurfshügel zu hoch ist für euch, was passiert, wenn Ihr vor einem Berg steht?“ Zustimmendes Gemurmel. Dann wird Reverend Davis politisch. „Sie beschimpfen sie, sie reden über ihre Rasse, aber sie kämpft immer noch.“ Keine Frage, Davis spricht von Kamala Harris. Auch auf sie, meint er, passe das Wort des angefeindeten Propheten.
„Ich habe niemandem gesagt, was er wählen soll“, rechtfertigt sich Davis nach dem Gottesdienst. „Ich habe die Leute aufgefordert, zu wählen.“ Mit dem Beispiel der Präsidentschaftskandidatin wollte er seiner Gemeinde nur sagen: „Du musst immer dranbleiben, wenn Du mit den Pferden laufen willst.“ Ermutigung sei seine Aufgabe. Im Dokumentarfilm „Halb erzählte Geschichte ist nicht erzählte Geschichte“, der den Werdegang seiner Gemeinde erzählt, sagt Davis: „Ich möchte, dass die Menschen spüren, dass Heilung möglich ist, dass Gemeinsamkeit möglich ist und all die Dinge, von denen wir glaubten, dass sie nicht passieren können.“
Ich möchte, dass die Menschen spüren, dass Heilung möglich ist, dass Gemeinsamkeit möglich ist und all die Dinge, von denen wir glaubten, dass sie nicht passieren können.
Die Zähigkeit von Generationen von Gläubigen der First Baptist Church trägt langsam Früchte, erzählt Connie Matthews Harshaw, die Präsidentin der Stiftung „Let Freedom Ring“, die den Film initiiert und finanziert hat. Er dokumentiert den Stimmungswandel in der Stadt und zeigt, wie mithilfe von „Colonial Williamsburg“ und vielen weißen Geldgebern der Asphalt über der alten First Baptist Church aufgebrochen und die Grundmauern freigelegt werden konnten. Er zeigt die 62 Gräber, die dort gefunden wurden, berichtet von den DNA-Untersuchungen an den Knochenfunden und der Suche nach lebenden Verwandten der dort begrabenen Afroamerikaner. Auch die Nachfahren der Cole-Familie, die einst das Tabu brach und Sklaven einen Gottesdienstraum gab, kommen zu Wort. Und er spricht vom Plan, die ursprüngliche Holzkirche an ihrem angestammten Platz im kolonialen Williamsburg wieder zu errichten. 2026 soll sie fertig sein, zum 250. Gründungstag der Kirche – und der USA.