Reise in das Innere von Amerika
Die Lebenden und die Toten
Reportage. Am 11. September strömen 50 Freiwillige auf den Richmond National Cemetery. Zu Ehren der Opfer des Anschlags in New York reinigen sie die Grabsteine der Soldaten. Teil drei unserer achtteiligen Reise in das Innere von Amerika vor der US-Präsidentschaftswahl 2024.
Von Thomas Götz (Text) und
Marco Longari (Fotos)
Die schmalen Wege zwischen den stramm ausgerichteten weißen Grabsteinen sind zugeparkt. Von überall her im Land sind Freiwillige gekommen. Gerufen hat sie „Carry The Load“, eine Non-Profit-Organisation, die sich um die Würdigung des Einsatzes amerikanischer Soldaten bemüht. Die Gründer fanden, dieser Respekt für den Beitrag der Soldaten für die Freiheit sei nicht mehr selbstverständlich. Am Jahrestag des Anschlags auf das World Trade Center säubern ihre Mitglieder auf 60 Soldatenfriedhöfen die Grabsteine. Jedes Jahr werden es mehr.
„Ich kann das Bild der Feuerwehrleute nicht aus dem Kopf bekommen, die um Leben kämpften“, sagt Nathan, der Leiter des Veteranen-Netzwerks bei der Bank J.P. Morgan in Richmond, in seiner kurzen Ansprache. Nathan koordiniert den Einsatz hier. Dann ruft er zu einer Schweigeminute auf, ehe er seine Leute losschickt. „Ihr nehmt einen Kübel, Bürsten, Reinigungsmittel“, sagt er und erwähnt noch, dass die Lösungsmittel biologisch abbaubar seien. „Und nicht vergessen zu trinken“, ruft Nathan den Leuten nach, die sich schon über das weite Gräberfeld verteilt haben. Es gibt Wasser und Energydrinks an diesem heißen Tag.
Einen Mann hat Nathan namentlich begrüßt – Gary Cooper. Der ältere Herr ist der Einzige unter den Helfern, der den 11. September aus nächster Nähe erlebt hat, an seinem Arbeitsplatz im Pentagon. Der Navy-Veteran, der im Vorjahr in Pension gegangen ist, nennt seinen Besuch auf dem Friedhof „therapeutisch“. „Es hilft mir, alles in eine Perspektive zu bringen, mich gut zu fühlen, statt einfach nur traurig zu sein.“
Ich war nahe genug, um es zu fühlen, nahe genug, um den Aufprall zu hören und zu wissen, dass etwas passiert ist.
Cooper arbeitete im benachbarten Flügel des fünfeckigen Verteidigungsministeriums, als das Flugzeug sich ins Pentagon bohrte. „Ich war nahe genug, um es zu fühlen“, erzählt er unter der stechenden Herbstsonne Virginias, „nahe genug, um den Aufprall zu hören und zu wissen, dass etwas passiert ist.“ Gestorben ist niemand aus seinem unmittelbaren Bekanntenkreis, aber ein paar seiner Freunde waren verletzt, erzählt er.
Konfusion war das erste, woran er sich erinnert. „Alles ist dunkel und verraucht. Du weißt nicht, was los ist und schon gar nicht, warum es passiert ist. Die erste Reaktion ist: wie komm ich da raus, an einen sicheren Ort?“ Und das im Pentagon, wo immer ein Gefühl der Sicherheit herrschte. „Dort würde nie etwas passieren“, hatte er bis zu jenem Augenblick gedacht. Schockiert rannte er mit den Anderen zum nächstgelegenen Schutzraum. „9/11 ist ein dunkler Tag für mich und wird es immer sein.“
Auf sein Leben im Dienst der Verteidigung der USA blickt er mit Dankbarkeit zurück. „Meine Arbeit für das Militär war etwas vom Besten, was ich getan habe“, sagt er spontan. „Sie haben mir dort alles gegeben, was ich brauchte: Eine Karriere, einen Beruf, den ich liebte, die Möglichkeit zu reisen. Ich lernte dort auch meine Frau kennen“, erzählt Cooper. „Es war phantastisch.“
Zwei Freiwillige von der Organisation Carry The Load säubern Grabsteine am Richmond National Cemetery.
Zwei Freiwillige von der Organisation Carry The Load säubern Grabsteine am Richmond National Cemetery.
Gastgeber auf diesem historischen Friedhof ist Paul Powell. Er ist für die Betreuung der 11.000 Gräber zuständig, die weiß aus dem Rasen ragen. Sie sind aus Marmor oder Granit, die älteren aus Sandstein. Tote beider Seiten des Bürgerkriegs liegen hier, Weltkriegsveteranen, Teilnehmer am Vietnamkrieg und an der Operation „Desert Storm“ im Irak. „Jetzt ist kein Platz mehr“, erzählt Powell und schildert die Gebräuche auf solchen Soldatenfriedhöfen. Auch die Familie sei berechtigt, sich hier im Ehrengrab beisetzen zu lassen. Mit dem Finger weist Powell auf die Namen von Angehörigen auf der Rückseite mancher Grabsteine. „Auch eine Urnenbestattung ist möglich“, stellt Powell klar und die jungen Freiwilligen hören ihm aufmerksam zu.
Alles, was wir hier haben, begann in Europa. Ich stecke hier fest.
24 Jahre hat Paul Powell in der Army gedient, neun davon in Deutschland – in Heidelberg und Mannheim. Er hat gute Erinnerungen an diese Zeit, ans Oktoberfest, an die schöne Landschaft und an die freundlichen Menschen. Dass er bei der Weltkriegs-Gedenkfeier in der Normandie einst die Flugzeuge von Wladimir Putin und der Queen auftanken durfte, macht ihn stolz. „Sie haben Glück, dass Sie von dort kommen“, sagt er. „Alles, was wir hier haben, begann in Europa. Ich stecke hier fest.“
Auch Paul Powell ist Veteran und für die Betreuung der 11.000 Gräber auf dem Richmond National Cemetery zuständig.
Auch Paul Powell ist Veteran und für die Betreuung der 11.000 Gräber auf dem Richmond National Cemetery zuständig.
Unter den Freiwilligen, die „Patriots Day“ mit dem Säubern von Soldatengrabsteinen verbringen wollten, sind viele junge Frauen, weiße und schwarze. Manche sind selbst beim Militär, andere sind verheiratet oder verwandt mit Soldaten. Kristen Ricks hat Verwandte – Schwiegervater, Großvater, Cousinen, die „gedient haben“, wie sie sich ausdrückt. Dienen ist ein wichtiges Wort hier. „Danke für Ihren Dienst“ ersetzt oft den Gruß.
Du weißt, dass diese Leute Opfer für Dich bringen. Ich habe großen Respekt vor ihnen.
Kristen kommt aus der Umgebung von Norfolk. „In meiner Gegend kann man keine tote Katze über dem Kopf schwingen, ohne einen Soldaten zu treffen“, sagt sie und geniert sich gleich für das an diesem Ort unpassende Sprachbild. „Du weißt, dass diese Leute Opfer für Dich bringen“, sagt sie zur Begründung, warum sie hier ist und weist auf das weite Gräberfeld. „Ich habe großen Respekt vor ihnen.“ Dann erzählt sie, wie ihre Kinder unaufgefordert den Rasen bei den Nachbarn gemäht haben, der einberufen worden war. „Nicht, weil sie gebeten worden wären, sondern weil die Nachbarn ein Opfer für unser Land gebracht haben.“
Tausende ziehen in den Krieg und kommen gebrochen zurück. Sie haben posttraumatische Störungen, Verletzungen oder gescheiterte Ehen – es gibt viele Formen, gebrochen zu sein.
Die Motivation für diesen Einsatz kommt aus ihrer Überzeugung: „Wir wurden immer gelehrt, unsere Freiheiten sind garantiert, weil wir ein Heer haben, das sie schützt, auch in Übersee.“ Was sie empfinde angesichts der jüngsten Demütigung der Streitkräfte ihres Landes in Afghanistan, wollen wir wissen. Sie holt weiter aus und erzählt, was in der offiziellen Rhetorik kaum vorkommt. „Tausende ziehen in den Krieg und kommen gebrochen zurück. Sie haben posttraumatische Störungen, Verletzungen oder gescheiterte Ehen – es gibt viele Formen, gebrochen zu sein“, sagt Kristen und kommt zum Punkt. „Manchmal bringen sie diese Opfer und die Regierung führt die Sache dann nicht bis zum Ende – aber das ist Politik, ein anderes Hornissennest.“ Was sie sich wünscht? „Ich hätte gerne, dass Politiker die Fragen beantworten, die man ihnen stellt.“