Tipps zur Leipziger Buchmesse
Die Bücher
des Frühlings


Norwegen ist mit ganzer literarischer Breite Ehrengast auf der Leipziger Buchmesse von 27. bis 30. März 2025, Österreich mit rund 50 Verlagen vertreten. Lesen Sie hier 14 Buchtipps für den Frühling.
Von Bernd Melichar
Hierzulande denkt man bei diesem Namen eher an Schuhe, in Oslo hingegen steht der Name „Deichman“ für die größte Bibliothek des Landes. Die „Deichmanske bibliotek“, in dieser Form 2020 eröffnet, zählt heute zu den architektonischen Wahrzeichen der Stadt und spiegelt auch gut die Einstellung der Bevölkerung zu Büchern wider. Denn Norwegen, das Land im Norden Skandinaviens zählt nur rund 5,5 Millionen Einwohner, ist ein Literatur-Eldorado mit großer Vergangenheit, Gegenwart und wohl auch Zukunft.
Das „Innenleben“ der „Deichmanske bibliotek“ in Oslo
Das „Innenleben“ der „Deichmanske bibliotek“ in Oslo
Ob Henrik Ibsen, nach Shakespeare noch immer der meistaufgeführte Dramatiker der Welt, die Bestseller-Autoren Maja Lunde oder Jostein Gaarder, der Literaturnobelpreisträger Jon Fosse, Krimiautor Jo Nesbø oder Literatur-Popstar Karl Ove Knausgård – die Bandbreite an herausragenden Schriftstellerinnen und Schriftstellern und literarischen Zugängen ist breit gefächert. In Norwegen hoch geschätzt, bei uns aber noch weniger bekannt, ist übrigens die Autorin Vigdis Hjorth, die – ähnlich wie Knausgård in seinem „Min Kamp“-Zyklus, der ihn berühmt machte – einen sehr selbstreflexiven, autobiografischen Zugang in ihren Romanen hat.
Düstere, depressive Kommissare, mystische Sagen, melancholische Geschichten, das Klischee greift also zu kurz. Denn Norwegen ist auch im Bereich der Literatur äußerst experimentierfreudig, das wiederum hängt eng mit dem staatlichen Fördersystem zusammen. Seit den 1960er-Jahren werden von Verlagen eingereichte Titel von einem Gremium geprüft und eine feste Anzahl an Büchern in die nationalen Bibliotheken verteilt. Damit sind Veröffentlichungen neuer norwegischer Bücher sichergestellt. Autorinnen und Autoren haben durch diese Regelung eine gewisse Grundsicherung, so Oliver Møystad von NORLA, dem Zentrum für norwegische Literatur im Ausland. „Das heißt, dass die Autorinnen und Autoren experimentieren können, nicht so kommerziell sein müssen. Das erklärt auch die Vielfalt in der norwegischen Literatur.
Die Leipziger Buchmesse findet von 27. bis 30. März statt, am Eröffnungstag wird auch der Leipziger Buchpreis verliehen. Chancen hat diesmal Wolf Haas.
Rund 130.000 Besucherinnen und Besucher werden heuer erwartet, zeitgleich geht an verschiedenen Orten in der Stadt das Festival „Leipzig liest“ über die Bühne(n).
Møystad koordiniert auch den Gastlandauftritt Norwegens bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse, die von 26. bis 30. März stattfindet und unter dem Motto „Traum im Frühling“ stattfindet. Dieser Slogan spiegelt die Idee von Neuanfang und Erneuerung wider, die eng mit dem Frühling verknüpft ist. Rund 50 norwegische Autorinnen und Autoren werden in Leipzig anwesend sein, darunter mit Swetlana Alexijewitsch und Olga Tokarczuk auch zwei Nobelpreisträgerinnen.
Die belarussische Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch wird zu einer Gesprächsrunde mit Exil-Verlegern ihres Heimatlandes erwartet. Die ebenfalls mit dem Preis ausgezeichnete polnische Autorin Olga Tokarczuk wird über ihr Schreiben sprechen. Aus Norwegen werden Maja Lunde und Karl Ove Knausgård erwartet, Letzterer hat seinen neuen Roman „Die Schule der Nacht“ aus dem „Morgenstern“-Zyklus im Gepäck. Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit kommt zur Leipziger Buchmesse. Die begeisterte Leserin ist seit 2017 Botschafterin für norwegische Literatur im Ausland. Der Leipziger Buchpreis wird traditionell am Eröffnungstag, also diesmal am 27. März, verliehen. Als einziger Österreicher ist Wolf Haas mit seinem Roman „Wackelkontakt“ nominiert.
Österreich – 2023 unter dem Motto „meaoiswiamia“ als Gastland geladen – präsentiert sich wieder mit einem Gemeinschaftsstand und Wiener Kaffeehaus mit eigener Veranstaltungsbühne. Rund 50 österreichische Verlage sind mit einem eigenen Stand vertreten, zusätzlich stellen 24 Verlage am Gemeinschaftsstand aus. Geplant sind auch zahlreiche Lesungen, u. a. mit Erika Pluhar, Eva Rossmann, Lydia Mischkulnig, Vladimir Vertlib, Andreas Unterweger, Stanislav Struhar.
JOHAN HARSTAD
Unter dem Pflaster
liegt der Strand
Von Bernd Melichar
Was für ein Brocken, fast furchterregend! Doch für alle jene, die Lesen auch als Herausforderung sehen, ist der neue Roman von Johan Harstad ein Glücksfall. Festgemacht am Physiker Ingmar Olsen, der für eine Tagung zum Thema Atommüll nach Warschau reist, umkreist der Norweger sprach- und denkoriginell das Innenleben seiner Figuren und das Außenleben einer Welt, die in eine ungewisse Zukunft kreiselt.
Johan Harstad. Unter dem Pflaster liegt der Strand. Claassen, 1147 Seiten, 36,50 Euro.
KRISTIN VALLA
Ein Raum
zum Schreiben
Von Bernd Melichar
Ausgehend von Virginia Woolfs Essay „Ein Zimmer für sich allein“ begibt sich Kristin Valla auf eine ebenso schmerzhafte, erhellende und letztendlich befreiende Selbsterkundungsreise. Nachdem sie realisiert, nicht mehr als Schriftstellerin, sondern nur noch als Familienmensch wahrgenommen zu werden, sucht sie ein Refugium nur für sich selbst. Es geht Valla aber nicht nur um schreibende Frauen, sondern um weibliche Autonomie generell.
Kristin Valla. Ein Raum zum Schreiben. Mare, 262 Seiten, 25 Euro.
SIMON STRANGER
Museum der Mörder und Lebensretter
Von Bernd Melichar
Was für eine unfassbare wahre Geschichte, die Simon Stranger literarisiert und in einen packenden Roman gegossen hat. Zufällig stieß er auf Material, wonach jener selbstlose Fluchthelfer, der die Großeltern seiner Frau 1943 in Norwegen vor den Nazis in Sicherheit brachte, zuvor ein jüdisches Ehepaar ermordet hatte. Ein großartiges Buch darüber, wie eng das Gute und Böse oft beieinander liegen.
Simon Stranger. Museum der Mörder und Lebensretter. Eichborn, 367 Seiten, 22 Euro.
CHIMAMANDA NGOZI ADICHIE
Vier Frauen und
zu viele Männer

Von Selbstermächtigung und Zeiträubern: Der neue Roman „Dream Count“ der US-nigerianischen Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie.
Von Bernd Melichar
So gehypt werden sonst nur Pop-Stars. Seit dem Sensationserfolg ihres Romans „Americanah“ wird Chimamanda Ngozi Adichie als große Stimme der Weltliteratur gefeiert – zu Recht. Ihr neuer Roman „Dream Count“ wird entsprechend in lichte Höhen gehoben. „Über dieses Buch wird die ganze Welt sprechen“, wird der „Independent“ auf dem Buchrücken zitiert. Der „Telegraph“ schreibt von der „Rückkehr einer literarischen Titanin“. Rückkehr deshalb, weil „Dream Count“ der erste große Roman seit „Americanah“ ist. In der Zwischenzeit hat Adichie über den Tod ihrer Eltern geschrieben und sich als Feministin etabliert. Passagen aus ihrem millionenfach geklickten TED-Talk wurden von Beyoncé gesampelt. Pop-Stars unter sich also.
Aber bleiben wir auf dem Boden. „Dream Count“ ist ein blitzgescheites, engagiertes Buch, das darüber hinaus großes Leseglück beschert – denn Adichie ist eine grandiose Erzählerin mit langem Atem. Konkret erzählt sie von vier Frauen: Hauptfigur ist die Reiseschriftstellerin Chiamaka, die sich während eines Corona-Lockdowns an ihre gescheiterten Liebschaften zurückerinnert. Ihre beste Freundin ist Zikora, eine Anwältin in Washington D.C., ihre geliebte Cousine Omelogor – eine toughe Bankerin – lebt indessen in Nigeria. Und dann ist da noch Kadiatou, Chiamakas Haushälterin, die sich nach einem sexuellen Übergriff in einem Hotelzimmer einem demütigenden Gerichtsverfahren stellt. Unschwer ist darin die Affäre rund um Dominique Strauss-Kahn wiederzuerkennen.
Alle Frauen – taumelnd zwischen afrikanischem und amerikanischem Geschlechterverständnis – sehnen sich danach, „erkannt“ zu werden. Was allerdings (ver-)stört: In einem Buch, in dem es um weibliche Selbstbestimmung geht, dreht sich allzu viel um Männer. Um solche, die Zeiträuber sind; um solche, die furchtbare Duftkerzen zum Geschenk machen; und um solche, deren Gemächt zu klein und deren Bauch zu groß ist.
Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie
Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie
Chimamanda Ngozi Adichie. Dream Count. S. Fischer, 528 Seiten, 28,50 Euro.
Chimamanda Ngozi Adichie. Dream Count. S. Fischer, 528 Seiten, 28,50 Euro.
YASMINA REZA
Die Kipppunkte des Lebens
Von Bernd Melichar
Sie zählt zu den interessantesten, originellsten Autorinnen Frankreichs, wurde mit dem Stück „Der Gott des Gemetzels“ bekannt und hat mit ihrem letzten Roman „Serge“ tief in die seelischen Eingeweide einer jüdischen Familie geblickt. Der neue Erzählband „Die Rückseite des Lebens“ zeichnet sich durch Lebensklugheit aus, aus der Reza eine Lakonie destilliert, die aber nie abgebrüht wirkt. Szenen aus Gerichtsverfahren, die sie verfolgt hat, wechseln sich ab mit Beobachtungen und Momentaufnahmen aus dem eigenen Alltag. Oft geht es dabei um Kipppunkte der Existenz jenseits der Frage nach Schuld oder Unschuld. Ein kluges, mildes, tröstliches Meisterwerk mit dem Fazit, dass man nicht nach dem Sinn des Lebens suchen soll. Das Leben selbst ist der Sinn.
Yasmina Reza. Die Rückseite des Lebens. Hanser, 195 Seiten, 24,70 Euro.
FERNANDO ARAMBURU
Der Tod und der Junge
Von Bernd Melichar
Mit seinem großen Roman „Patria“ wurde Fernando Aramburu auch bei uns bekannt. Um familiäre Verwüstungen geht es auch in seinem neuen Roman „Der Junge“; allerdings steckt diesmal kein Anschlag dahinter, sondern eine Gasexplosion an einer baskischen Schule, bei der 50 Kinder getötet werden – darunter auch der sechs Jahre alte Nuco. Die verheerende Explosion hat sich tatsächlich ereignet, und zwar am 23. Oktober 1980. Aramburu greift das historische Unglück auf und gestaltet daraus einen zutiefst bewegenden Familienroman, wobei er sich jedes Pathos verbietet. Das wird durch einen zunächst irritierenden literarischen Kunstgriff verdeutlicht. In Zwischenkapiteln kommt der Roman selbst zu Wort und redet seinem Autor immer wieder ins Gewissen. Wie umgehen mit dem Tod des Kindes, wie nicht zerbrechen daran? „Der Junge“ behandelt ein elementares, existenzielles Thema auf behutsame, literarisch hochinteressante Weise.
Fernando Aramburu. Der Junge. Rowohlt, 254 Seiten, 25,50 Euro.
CHRISTIAN KRACHT
Als nur Fiktion, oder was?
Von Bernd Melichar
Erste Sätze kann er: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich.“ So beginnt der neue Roman „Air“ des Schweizer Schriftstellers Christian Kracht, an dem sich auch diesmal wieder die Geister scheiden werden. Zwischen wunderbar originell und furchtbar manieriert changiert die Bandbreite. Auch „Air“ wird wieder wahlweise verrissen - oder mit Verzückung aufgenommen. Die Wahrheit - wobei das bei Kracht wie alles relativ ist - liegt in der Mitte. Die Story: Dekorateur Paul lebt auf einer kleinen schottischen Insel und erhält von einem Design-Magazin einen recht obskuren Auftrag, der ihn nach Norwegen führt. Dort gerät er in eine fantastische Parallel. Alles nur Fiktion, oder was? Wer weiß das schon. Jedenfalls ein grenzenloses Leseabenteuer!
Christian Kracht. Air. Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 26,50 Euro.
COLUM MCCANN
Tauchgang in menschliche Abgründe

Mit „Twist“ hat der irische Schriftsteller Colum McCann einen trügerisch einfachen Roman geschrieben, in dem es nur vordergründig um die Reparatur von Tiefseekabeln geht.
Von Bernd Melichar
Der gute Mann ist nicht nur ein Meister des Erzählens, sondern auch des Understatements. Zu seinem neuen Roman „Twist“ meinte Colum McCann in einem Interview: „Es ist ein trügerisch einfaches Buch für mich. Ich geniere mich fast dafür, wie scheinbar einfach es ist.“ Nun, wie immer bei diesem Schriftsteller muss man auf die Zwischentöne hören, in diesem Fall auf die Wörtchen „trügerisch“ und „scheinbar“. Es stimmt schon: Der Roman ist chronologisch aufgebaut, handelt von einer Dreierbeziehung, und es gibt nur eine Erzählstimme. Dennoch hat das Buch mehrere titelgebende „Twists“, also Wendungen, und nur oberflächlich geht es um die Reparatur von Tiefseekabeln.
Denn das ist die Kernstory: Anthony Fennell, ein mäßig erfolgreicher Autor und Journalist aus Irland, erhält den Auftrag, für ein Online-Magazin eine Reportage über ein Reparaturschiff für Kabelbrüche in der Tiefsee zu schreiben. Kabel, durch die die globalen Datenflüsse gejagt werden, und die durch Naturereignisse, Krieg oder Terrorismus immer wieder beschädigt oder zerstört werden. Fennell begibt sich nach Südafrika und geht nach längerer Wartezeit in Kapstadt an Bord der „George Lecointe“, die unter dem Kommando von John Conway steht, ebenfalls ein Ire, allerdings aus dem Norden. Mit dem neugierigen Journalisten an Bord hat er keine Freude.
„Wir zerbrechen alle aneinander. Unser Leben, selbst das ungebrochene, taumelt über den Meeresgrund. Eine Weile mögen wir andere sanft streifen, doch am Ende kollidieren wir zwangsläufig und werden zerstört.“ Mit diesen Sätzen beginnt ein Buch, das auf hoher See ins Herz der Finsternis führt. Denn beschädigt sind nicht nur die Datenkabel, sondern so ziemlich alle menschlichen Beziehungen. Conway, nach außen hin stoisch, wird getrieben von inneren Zwängen – und der abgöttischen Liebe zu seiner Frau Zanale. Auf diese, eine Schauspielerin, die in England Becketts „Warten auf Godot“ aufführt, wird ein Anschlag verübt. Auf dem Reparaturschiff spitzt sich indessen der Konflikt zwischen Fennell und Conway zu, Letzterer verschwindet plötzlich.
„Twist“ ist eine grandiose, packende und doppelbödige Mischung aus Kriminalgeschichte und psychologischem Kammerspiel. Ja, es geht um Tiefenbohrungen – aber nicht nur am Meeresgrund. „Es war eine Zeit voller Gier, voll idiotischer Sehnsucht und, am Ende, abgrundtiefer Einsamkeit“, schreibt der Erzähler Anthony Fennell über die Geschehnisse, der er dann Revue passieren lässt. „Twist“ ist ein ebenso faszinierender wie gefährlicher Tauchgang in menschliche Abgründe – und nur trügerisch einfach.
Arbeitet auch in seinen Büchern gerne mit Spiegelungen: Colum McCann
Arbeitet auch in seinen Büchern gerne mit Spiegelungen: Colum McCann
Colum McCann. Twist. Rowohlt, 415 Seiten, 28,50 Euro.
Colum McCann. Twist. Rowohlt, 415 Seiten, 28,50 Euro.
KRISTINE BILKAU
Zwischen den Generationen
Von Bernd Melichar
Die Mutter, Bibliothekarin Ende 40, hat sich am nordfriesischen Wattenmeer zurückgezogen; die Tochter, Umweltaktivistin Mitte 20, zog es hinaus in die Welt. Dann der Zusammenbruch – der Tochter. Und die Heimkehr. Und die vielen Fragen zwischen Mutter und Tochter. Warum ist man so jung schon an einem Nullpunkt angekommen? Hat man als Elternteil dem Kind genügend Rüstzeug mit auf den Weg gegeben? Mit „Halbinsel“ hat die deutsche Schriftstellerin Kristine Bilkau einen hell- und weitsichtigen Generationenroman geschrieben, der ohne Plattitüden auskommt und die zentrale Frage stellt: Wie können wir wieder unser erschöpftes Gespür für das Zwischenmenschliche mobilisieren?
Kristine Bilkau. Halbinsel, Luchterhand, 221 Seiten, 24,70 Euro.
MARIO WURMITZER
Nomade in der Großstadt
Von Karin Waldner-Petutschnig
Das Probewohnen in einem „tiny house“ einer Musterhaussiedlung wird per Livestream im Internet übertragen, während der Held in Mario Wurmitzers skurriler Geschichte an einem Buch über Rainald Götz schreibt. Der sorgte seinerzeit für einen Skandal beim Wettlesen um den Bachmann-Preis, weil er sich vor laufenden Kameras die Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt. Mario Wurmitzer trat 2023 (40 Jahre nach Götz) mit seinem klugen und kapitalismuskritischen Text ebenfalls beim Wettlesen in Klagenfurt an. Nun liegt sein satirischer Roman über einen Großstadtnomaden im digitalen Zeitalter als Buch vor und amüsiert mit feinem Humor und scharfer Sozialkritik.
Mario Wurmitzer. Tiny House. Aufbau Verlag. 221 Seiten, 24,60 Euro.
SUSANNE GREGOR
Welten voneinander entfernt
Von Karin Waldner-Petutschnig
Da ist die Karrierefrau Klara, die froh ist, mit der Slowakin Paulina eine verlässliche Pflegekraft für ihre Mutter gefunden zu haben. Und da ist Paulina mit ihrem „halben Leben“, das sich in zwei Wochen als Pflegerin in Österreich und zwei Wochen daheim bei ihren Söhnen aufteilt. Nur wenige Stunden sind in diesem Kammerspiel die Heimatorte der Frauen voneinander entfernt, und dennoch liegen Welten dazwischen. Klara ist das nicht bewusst. Sie bietet der neuen Hausbewohnerin das Du-Wort an und fühlt sich als ihre Freundin. Doch die scheinbare Harmonie klingt bald dissonant, der Chauvinismus der Arbeitgeberin führt zu Verletzungen und Missverständnissen, die Ungleichheit zwischen den Frauen wird zum explosiven Grundton der Atmosphäre zwischen den Frauen.
Susanne Gregor. Halbe Leben. Zsolnay. 192 Seiten, 23.70 Euro.
ANNA WEIDENHOLZER
Wo das Kartoffelherz austreibt

Anna Weidenholzer macht in ihren Erzählungen „Hier treibt mein Kartoffelherz“ das Unspektakuläre zum Gegenstand ihrer Poesie.
Von Karin Waldner-Petutschnig
Zarte, poetische Miniaturen sind es, die in dem schmalen, gewichtigen Band zu einem lesenswerten Ganzen zusammengefügt werden: Die Linzerin Anna Weidenholzer hat diese Technik schon in ihrem Debüt „Der Platz des Hundes“ (2010) angewandt und perfektioniert sie nach drei Romanen nun in ihrem jüngsten Erzählband „Hier treibt mein Kartoffelherz“.
Es ist eine lose, in die vier Jahreszeiten gegliederte Geschichtensammlung voll genauer Alltagsbeobachtungen, Straßenszenen, Zufallsbegegnungen, bei der die Erzählungen sanft miteinander verflochten sind. Es geht um die Berge und das Meer, das Freibad, die Frühstückspension oder die Farben der Natur: „Im Herbst ist der Himmel nur an der Unterseite grau. Denn die Sonne ist immer noch da.“ Oft ist es nur ein Wort, eine Landschaft, eine Stimmung oder Farbe, die weitergezogen wird in den nächsten Text. „Formen der Kontaktaufnahme“ und „Möglichkeiten der Zeitgestaltung“ wiederholen sich und finden sich in allen vier Jahreszeiten.
Irgendwie hängt alles zusammen, ergibt sich ein Stimmengewirr, das vertraut klingt und zum genauen Beobachten einlädt. Da ist Hanna, die in den Bergen daheim ist und alle Fotos einer gefundenen Kamera löscht bis auf drei Meeresbilder. Da gibt es einen der „Tage, an denen der Nachbar den Arbeitsmantel trägt“ oder die Frau, die ins Auto einsteigt: „Ich muss los, so ist das Leben, ständig müssen wir woandershin.“ Die Mini-Geschichte von der Frau, die eine Kartoffel in Herzform betrachtet, liefert den Titel des Buches: „Kinder kommt und seht, hier treibt mein Kartoffelherz. Gleich, Mutter, hört sie es in verschiedenen Stimmlagen und Varianten antworten, gleich sind wir bereit für dein Stück Hoffnung, aber erst müssen wir ins nächste Level kommen.“
Anna Weidenholzer ist eine präzise Beobachterin mit genauem Blick und aufmerksamen Sinnen, die das Unspektakuläre zum Gegenstand ihrer Poesie macht, ihre manchmal nur halbseitige Prosa wirkt fast wie japanische Haikus. Mit dieser Stimmung entlässt uns die Autorin zum Ausklang auch in unseren Alltag: „Sie geht, die Tauben zerstreuen sich. Unsere Herzen beruhigen sich ein paar Momente lang. Die Augen halten wir weit offen.“
Die Schriftstellerin Anna Weidenholzer
Die Schriftstellerin Anna Weidenholzer
Anna Weidenholzer. Hier treibt mein Kartoffelherz. Matthes und Seitz, 160 Seiten, 20,95 Euro.
Anna Weidenholzer. Hier treibt mein Kartoffelherz. Matthes und Seitz, 160 Seiten, 20,95 Euro.
ERIKA PLUHAR
Zärtliches Wiedersehen
Von Karin Waldner-Petutschnig
Alt geworden sind sie nur körperlich: Luisa und Heinrich, ein einstiges Liebespaar, längst beide zur 80plus-Generation zählend, begegnen einander zufällig und lassen in Gesprächen ihre (kurze) Jugendliebe aus der Tanzschulzeit und die darauf folgenden, jeweils getrennten Leben Revue passieren. Spät, aber doch bekennen sie einander schließlich ihre wieder aufgeflammten Gefühle. Es ist ein zärtlicher, rührender Roman, der der 86-jährigen Schauspielerin, Sängerin und Schriftstellerin Erika Pluhar da gelungen ist, ein Plädoyer für junge Gefühle, zeitlose Sehnsucht und ein Altern in Würde, g´schamig und mutig zugleich.
Erika Pluhar. Spät aber doch. Residenz Verlag. 160 Seiten, 22 Euro.
JAQUELINE SCHEIBER
Wenn die Welt still steht
Von Karin Waldner-Petutschnig
Wie sich Jaqueline Scheiber in ihrem ersten Roman „dreimeterdreißig“ mit dem Erlebnis von Todesfällen im engsten Umfeld auseinandersetzt, ist poetisch und brutal zugleich. Eindringlich schildert sie den Moment, wenn die Welt still steht; Schock und Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen; überwältigende Emotionen von Liebe, Trauer und Erinnerungen. All das lässt die Autorin die Leserin mit ihrer Protagonistin Klara in einer surrealen Nacht nachvollziehen. Die unnahbar wirkende Klara lebt mit dem Ungarn Balazs in einer Wiener Altbauwohnung mit drei Meter dreißig hohen Räumen, Flügeltüren und zunehmender Vertrautheit. Dabei wechseln die Erzählperspektiven und Zeitebenen, die Lebensgeschichten der Protagonisten werden im Rückblick aufgerollt, erst nach und nach werden die Figuren greifbarer.
Jaqueline Scheiber. Dreimeterdreißig. Leykam Verlag, 224 Seiten, 24,50 Euro.
Digitale Aufbereitung: Oliver Geyer
Fotos: Adobe Stock, Gettyimages, Leykam Verlag, Residenz Verlag, Matthes und Seitz, Imago (3), Luchterhand, Aufbau Verlag, Zsolnay, Rowohlt (2), Hanser, Kiepenheuer & Witsch, S. Fischer, Claassen, Mare, Eichborn, Lukasbeck