Naturparadies und Kulturlandschaft
Was den Neusiedler See bedroht
DOSSIER. Ein See braucht Hilfe. Trockenheit und Bauprojekte setzen dem Neusiedler See und dem umliegenden Gebiet zu. Deshalb schickte auch die Unesco eine Delegation, um die Welterbe-Würdigkeit der Seeregion zu prüfen. Unsere große Rundschau, womit man derzeit kämpft und an welchen Lösungen gearbeitet wird.
Von Anna Stockhammer, Jonas Binder und Eva Wabscheg
Der Wind bringt das Wasser leicht zum Kräuseln, die Sonne scheint, am Holzsteg hängt ein oranger Rettungsring. Nein, hier muss kein Mensch aus dem See gerettet werden, es ist das Gewässer selbst, das in Not ist.
Die Region Neusiedler See ist vieles: Als „Meer der Wiener“ rasch erreichbares Ziel für Urlaubsgäste und Wassersportler, wichtigster touristischer Wirtschaftsfaktor des Burgenlandes; als bedeutendes Feuchtgebiet Habitat von mehr als 300 verschiedenen Vogelarten; als Nationalpark Paradebeispiel für gelungene grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Österreich und Ungarn; als Kulturlandschaft von einer charakteristischen Lebensweise geprägt, von der Unesco sogar zum Welterbe geadelt.
Das Gebiet mit seinen vielfältigen Landschaftstypen – Steppensee, Schilfgürtel, Salzlacken, Niedermoor, Mischwäldern und Weideflächen – und seiner Flora und Fauna ist ein Naturparadies, zugleich aber „sehr stark durch den Menschen verändert worden“, erklärt Christian Sailer, Leiter des Hauptreferats Wasserwirtschaft beim Land Burgenland.
Beginnend vor mehreren hundert Jahren, drückten Entwässerungsmaßnahmen, Landwirtschaft, Verbauung, Tourismus und Energieerzeugung der Seeregion ihren Stempel auf. Eine zentrale Herausforderung ist heute die Trockenheit und damit das Damokles-Schwert Austrocknung oder Verschlammung des Sees. „Vor dieser Veränderung stehen wir jetzt. Das ist die große Problematik, mit der wir uns beschäftigen, wie wir da in Zukunft durchtauchen können“, sagt Sailer.
Der See im
Überblick
Östlich des Sees liegt ein „Seewinkel“ genanntes Gebiet mit rund 40 Salzlacken, die einzigen Salzgewässer Österreichs. Je nach Jahreszeit kann ihr Wasserpegel zwischen 70 und null Zentimeter schwanken. Die Lacken trocknen aus, ihre Zahl ging von ursprünglich 139 – vielfach durch menschliche Eingriffe – stetig zurück. Nur etwa fünf bis sieben sind noch in einem sehr guten Zustand.
Der Pegelstand des Neusiedler Sees selbst ist stark vom Niederschlag abhängig, drei Viertel des Wassers gelangen so in den See. Zuflüsse gibt es kaum, den größten Anteil haben die Wulka sowie noch der Golser Kanal und in Ungarn der Rákos-Bach. Historisch waren der See und das ehemalige Hanság-Moor südöstlich davon ein zusammenhängendes, abflussloses Feuchtgebiet.
Je nach Niederschlags- bzw. Hochwassersituation konnte das Wasser im See bis zu zwei Meter höher (!) als heute stehen, aber auch gänzlich austrocknen, zuletzt war das von 1865 bis 1872 der Fall. Durch den Bau von Kanälen und Dämmen ab dem 16. Jahrhundert änderte sich der Wasserhaushalt. 1909 wurde mit dem Einserkanal ein künstlicher Abfluss fertiggestellt. Er lässt sich mittels Wehr regulieren – seit 1965 stimmen sich Österreich und Ungarn dabei ab –, doch Verdunstung spielt eine weitaus größere Rolle: Die Wehr war zuletzt 2014/15 geöffnet.
Die ersten Seebäder wurden in Österreich ab 1960 errichtet, der Tourismus sukzessive zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Es folgten Hafenanlagen und Wochenendhäuser. Im Seevorgelände, also dem Schilfgürtel und den ihn umgebenden Wiesen, Äckern und Weingärten, nahmen Freizeiteinrichtungen in den 1960ern eine Fläche von weniger als zehn Hektar ein, 2005 waren es bereits 362 Hektar. Auch die Siedlungsgebiete wuchsen in dieser Zeit ins Seevorland hinein, von 13 auf 237 Hektar.
Der Uferbereich des Sees selbst ist, da weitgehend von Schilf umgeben, „zu mehr als 90 Prozent von Verbauung freigehalten“, heißt es aus dem Büro der burgenländischen Landeshauptmann-Stellvertreterin Astrid Eisenkopf (SPÖ). „Die Verbauung konzentriert sich auf die Seebadbereiche“, sie werde „von den Gemeinden mittels Flächenwidmungsplänen und Bebauungsbestimmungen gesteuert. “ 2023 hat das Land um alle Bäder „Siedlungsgrenzen gezogen“ – über deren Grenzen hinaus darf kein Bauland gewidmet werden.
55
Prozent der 3,15 Millionen Nächtigungen im Burgenland entfielen 2023 auf die Region Neusiedler See. Bei den Ankünften (landesweit 1,14 Millionen) waren es sogar 58 Prozent. Gegenüber 2022 nahmen die Nächtigungen am See um knapp 12 Prozent, die Ankünfte um 18 Prozent zu.
„Die touristische Entwicklung erfolgt sehr behutsam, allen ist bewusst, dass es um einen sensiblen Lebensraum geht“, sagt Patrik Hierner, Geschäftsführer der Neusiedler See Tourismus GmbH. Es gebe bereits genügend Richtlinien und Einschränkungen. Konfliktpotenzial mit dem Naturschutz, den verschiedenen Schutzgebietsklassen und dem Weltkulturerbe sieht er nicht. Natürlich habe der Tourismusverband aber Interesse daran, dass es dem Gebiet gut geht. „Der See ist der wesentliche Faktor für den Tourismus“. So gebe es auch eine eigene Nachhaltigkeitsbeauftragte im Tourismusverband.
Der See ist der wesentliche Faktor für den Tourismus.
An Gästen könne der See sogar „auch noch mehr vertragen“, sagt Hierner. Es sei aber der Plan, die Vor- und Nachsaison zu stärken und die Besucherströme zu lenken. Vom Tourismus profitiere schließlich die ganze Region, ist Hierner überzeugt. „Von der Infrastruktur, also den Radwegen, zum Beispiel.“
Für Christian Schuhböck, Geschäftsführer der Naturschutzorganisation „Alliance For Nature“, ist in puncto Verbauung „die rote Linie erreicht, wenn nicht überschritten“. Auch der Tourismus gehe „schon viel zu weit“. Als Beispiele nennt er Seevillen bzw. -häuser in Oggau, Jois und Neusiedl am See. „Wir haben als Umweltorganisation ja nichts gegen Tourismus, aber es muss sanfter Tourismus sein. Die Architektur muss an die Gegebenheiten angepasst sein.“ Schuhböck stellt sich Niedrigbauten vor, „und Baumaterialien, die nicht Stahl, Beton und Glas sind.“
Wir haben als Umweltorganisation ja nichts gegen Tourismus, aber es muss sanfter Tourismus sein. Die Architektur muss an die Gegebenheiten angepasst sein.
Eines der jüngsten großen Bauprojekte war die Modernisierung des Seebads Breitenbrunn, das im Eigentum der Esterhazy-Stiftungen bzw. ‑betriebe steht, den größten Grundeigentümern am See. Im Oktober 2022 erfolgte der Spatenstich, Anfang Juni 2024 wurde das Ferienresort samt Gastronomie und Veranstaltungsbereich eröffnet.
Das Marina-Gebäude sei mit dem Gestaltungsbeirat abgestimmt, mit naturnahen Materialien und „im Einklang mit der Natur“ gebaut worden, teilen die Esterhazy-Betriebe auf Anfrage mit. Weitere Maßnahmen seien die Bewässerung mit Regenwasser und der Einsatz trockenheitsresistenter Gründächer.
Die Seeregion ist indes nicht nur als Tourismusdestination, sondern auch als Wohnort interessant. Laut Prognose der Österreichischen Raumordnungskonferenz entwickelt sich das Nordburgenland bis 2050 am stärksten, den größten Einwohnerzuwachs soll es, ausgehend von 2021, mit einem Plus von knapp 20 Prozent im Bezirk Neusiedl geben.
Droht der Welterberegion ein Eintrag auf der „Roten Liste“?
„Alliance For Nature“-Geschäftsführer Christian Schuhböck, der auch als Gerichtssachverständiger in Sachen Schutzgebiete und Unesco-Welterbestätten tätig ist, drängt, dass die Seeregion „sofort“ auf die „Rote Liste“ der gefährden Stätten zu setzen sei. „Denn wenn es so weitergeht, dann hat die Unesco bald keine Möglichkeit mehr, zu rechtfertigen, dass das Gebiet Weltkulturerbe sein soll.“
Dass der Welterbe-Status angesichts von Bauvorhaben, Windkraftprojekten und Überlegungen, dem See Donauwasser zuzuführen, bedroht sein könnte, wurde in den letzten Jahren immer wieder kolportiert. Schon im Managementplan der Welterberegion aus dem Jahr 2003 ist von einer „Gefahr der Umwidmung und Verbauung von sensiblen Flächen im Bereich der Ortsränder aufgrund von touristischen Investitionsvorhaben, wie Hotels, Erlebnisparks oder Zweitwohnsitzen“ zu lesen. Auch „Zweitwohnsitze in der Schilfzone“ sind als potenzielle Konfliktquelle aufgeführt.
Im Oktober 2023 war eine Delegation mit Vertretern von Unesco, Icomos (Internationaler Rat für Denkmalpflege) und Ramsar-Sekretariat vier Tage lang rund um den See unterwegs. Die „Advisory Mission“ nahm auf Einladung Österreichs und Ungarns den Zustand des Welterbegebiets unter die Lupe. Im Mittelpunkt stand neben besagten Tourismusprojekten die mögliche Wasserzuführung zum See. Weiterer Schwerpunkt war der Windpark Neusiedl-Weiden unweit des Welterbegebiets. Dessen 44 Windräder sollen in einem Modernisierungsprojekt durch 23 Anlagen ersetzt werden, die jedoch deutlich höher als bisher ausfallen (200 bzw. 244 statt 120 Meter).
Zu Jahresende 2023 lag ein Entwurf des „Advisory Mission“-Berichts vor. Um den Welterbe-Status müsse man nicht bangen, sagte Hannes Klein, bis März 2024 Geschäftsführer des Vereins „Welterbe Neusiedler See“, der als Bindeglied zwischen Unesco und der Region fungiert, bereits vor Veröffentlichung des offiziellen Endberichts zur Kleinen Zeitung. „Die Rote Liste steht absolut nicht im Raum, davon sind wir weit entfernt“, so Klein. Insgesamt seien die Ergebnisse des Berichts „erwartbar, es gibt keine großen Überraschungen“, fasste der damalige Site-Manager im Februar 2024 zusammen. Die Tonalität sei „relativ wohlwollend“.
Die Rote Liste steht absolut nicht im Raum, davon sind wir weit entfernt.
Seit Anfang März 2024 ist der Bericht öffentlich. Darin wird festgehalten, „dass Umfang und Ausmaß der bestehenden touristischen Infrastruktur am See die maximale Kapazität erreicht haben und ein weiterer Ausbau in Zukunft nicht mehr zugelassen werden sollte.“ Empfohlen werde daher, die Seeanlagen nicht mehr zu erweitern und notwendige Sanierungen zu nutzen, um frühere Eingriffe zu korrigieren – sowie die Koordination zwischen Österreich und Ungarn zu verstärken.
Konkret kritisiert der Bericht auf österreichischer Seite etwa die neuen touristischen Anlagen in Weiden am See sowie das im Umfeld des Welterbegebiets geplante Krankenhausprojekt in Gols. „Wir können die Welterbestätte nicht unter einen Glassturz stellen. Es ist nicht richtig und auch nicht notwendig, Naturschutz gegen Gesundheit auszuspielen“, teilte Landeshauptmann-Stellvertreterin Astrid Eisenkopf dazu der APA mit.
Auch der Seebad-Neubau in Breitenbrunn war von der Unesco-Mission besichtigt worden. Dort sei zwar vorab eine Abstimmung mit der Unesco („Heritage Impact Assessment“) verabsäumt worden, trotzdem, so Klein, sei das Projekt als Positivbeispiel in den Bericht aufgenommen worden.
Entscheidung in Neu-Delhi
Unter diesen Vorzeichen stand der Neusiedler See Ende Juli 2024 auf der Tagesordnung der Welterbekomitee-Sitzung in Neu-Delhi (Indien). Dieses Gremium entscheidet letztlich darüber, ob eine Stätte ihren Welterbestatus verliert oder – als Vorstufe – auf die Rote Liste gesetzt wird.
Eine solche Negativeinstufung des Sees war zwar, wie sich zuvor schon abgezeichnet hatte, in Neu-Delhi kein Thema. Österreich und Ungarn sind aber nun aufgefordert, bis Dezember 2025 erneut über den Erhaltungszustand der Welterberegion (und durchgeführte Verbesserungsmaßnahmen) zu berichten. Die aktuellen Bemühungen um einen neuen Managementplan für die Seeregion würdigte das Welterbekomitee in seiner Entscheidung, folgte aber den Kritikpunkten und Empfehlungen im Bericht der „Advisory Mission“.
Die Empfehlungen der Unesco-Mission
Keine Erweiterungen der österreichischen Seebäder hinsichtlich Größe oder Kapazität.
Keine weitere Verbauung entlang der Zufahrtsstraßen von den Ortschaften zu den Seebädern.
Gestaltung des Strandbad- bzw. Hafenprojekts im ungarischen Fertőrákos unter Berücksichtigung der regionalen Bauweise und Baukultur sowie innerhalb eines strengen Rahmens, was dessen Umfang betrifft, und in Einbeziehung von lokalen Interessensgruppen, dem Welterbezentrum sowie dem Ramsar-Sekretariat.
Schließung von noch bestehenden Wissenslücken hinsichtlich der Umweltauswirkungen einer möglichen Wasserzuleitung in den See.
Reduktion der visuellen Beeinträchtigung durch neue Windräder nahe des Welterbegebiets (wenn möglich keine roten Streifen auf den Rotorblättern).
Auswahl eines alternativen Standorts für das geplante Krankenhaus Gols.
Keine Errichtung von Solarparks innerhalb des Welterbegebiets.
Festlegung von Siedlungsgrenzen für die Dörfer, gesetzlicher Schutz der historischen Zentren sowie rechtliche Verankerung von Baukriterien und Vergrößerung der Pufferzone des Welterbegebiets.
Verstärkte Koordination der burgenländischen Welterbe-Bürgermeister sowie verbesserte bilaterale Abstimmung von Österreich und Ungarn.
Besonders deutliche Worte hatte die „Advisory Mission“ für das Hafenprojekt am ungarischen Strand Fertőrákos gefunden. „Der Sukkus im Bericht war eigentlich ,Zurück an den Start, bitte vergesst das alles, was ihr bisher gemacht habt‘“, analysierte der ehemalige Site-Manager Klein Anfang 2024. Das redimensionierte bzw. neu geplante Strandbadprojekt müsse jedenfalls, so die Forderung des Welterbekomitees, auf ihre Kulturerbe-Verträglichkeit geprüft werden. Das Ergebnis samt detaillierten Projektplänen ist dem Welterbezentrum zu übermitteln.
Fertőrákos: Das umstrittene ungarische Hafenprojekt
Immer dem Bach entlang führt die Zufahrt nach der Abzweigung in Fertőrákos unweit der Grenze zu Österreich mitten hinein ins Schilf. Nach zweieinhalb Kilometern ist Schluss, Stacheldraht statt Seeufer, Bauzäune und Beton verweigern den Panoramablick. Die Fahrt endet auf einem kleinen Parkplatz.
„Építési terület!“, steht in großen Lettern auf dem Schild, das am Zaun hängt, „Baustellenbereich!“, kein Zutritt für Unbefugte. Ein Security-Mitarbeiter flüchtet sich in den bereitstehenden Wohnwagen, nachdem das Auto mit österreichischem Kennzeichen ausgerollt, die beiden Journalisten ausgestiegen sind.