FOLGEN DES KLIMAWANDELS

Wie viele Menschen Dürren und Extremwetter künftig vertreiben werden

August 2021 | Euböa, Griechenland

April 2022 | Doolow, Somalia

September 2022 | Fort Myers, Florida

Mai 2023 | Borgo di Villanova, Italien

Mai 2023 | Lugo, Italien

August 2021 | Euböa, Griechenland

April 2022 | Doolow, Somalia

September 2022 | Fort Myers, Florida

Mai 2023 | Borgo di Villanova, Italien

Mai 2023 | Lugo, Italien

FOLGEN DES KLIMAWANDELS

Wie viele Menschen Dürren und Extremwetter künftig vertreiben werden

Nach neuen Zahlen gab es 2022 mehr als 30 Millionen Vertreibungen aufgrund von Extremwetterereignissen und Dürren.

Klima und Migration hängen auf komplexe Weise zusammen.

Forscher prognostizieren zukünftig stärkere Folgen für Europa.

Eine visuelle Reise in sechs Etappen von Tobias Graf und Ifeoma Moira Ikea.

Wo vertreibt der Klimawandel Menschen?

Am meisten Vertreibungen innerhalb der Landesgrenzen aufgrund von Naturkatastrophen gab es 2022 in Pakistan. Das Land wurde von einer verheerenden, monatelang andauernden Flutkatastrophe schwer getroffen. 8,17 Millionen Mal mussten dort Menschen nach neuesten Zahlen des Internal Displacement Monitoring Center (IDMC) vor Naturgewalten fliehen.

5,44 Millionen Vertreibungen im Inland sind die traurige Bilanz von Stürmen und Flut auf den Philippinen. Alleine der Tropensturm "Nalgae" vertrieb im Oktober 3 Millionen Menschen im ganzen Land.

3,63 Millionen Binnenvertreibungen gab es durch sturmbedingte Ereignisse und Überschwemmungen, insbesondere in der Regenzeit, in China. Für ein gutes Drittel davon ist nach Einschätzung des IDMC Taifun "Muifa" verantwortlich.

Auch für die 2,51 Millionen Vertreibungen im indischen Inland sind Überschwemmungen und Stürme die Ursache.

2,44 Millionen Binnenvertriebene werden für Nigeria nach schweren Regenfällen und darauffolgenden Überschwemmungen zwischen Juni und November angesetzt.

In Summe gab es 2022 aufgrund von Naturkatastrophen weltweit 32,56 Millionen Vertreibungen innerhalb von Landesgrenzen, so viele wie zuletzt im Jahr 2010. In dieser Zahl können Personen auch mehrfach enthalten sein – dann, wenn sie katastrophenbedingt mehrfach fliehen mussten.

Damit gab es mehr Binnenvertreibungen aufgrund von Katastrophen als aufgrund von bewaffneten Konflikten und Gewalt. Zweiteres sorgte für 28,32 Millionen Vertreibungen in Inland – 16,87 Millionen davon entfielen alleine auf die Ukraine.

Zum Jahresende 2022 lebten weltweit noch 8,66 Millionen Menschen in ihrem Heimatland in Vertreibung, nachdem sie aufgrund von Naturkatastrophen flüchten mussten.

Besonders viele dieser Personen lebten in Afghanistan (2,16 Millionen) und Pakistan (1,02 Millionen). Die hohe Zahl in Afghanistan begründet sich dabei vor allem durch Menschen, die in den Jahren zuvor vertrieben wurden (2022 gab es "nur" rund 220.000 Vertreibungen).

Zahlreiche Katastrophen-Binnenvertriebene gab es zum Jahresende auch noch in Nigeria, Äthiopien und dem Südsudan – in Summe 2,24 Millionen Menschen.

Übrigens: Nicht nur in Afrika und Asien zwingen Naturkatastrophen die Bevölkerung zur Flucht – auch im sogenannten "Westen". In den USA lebten zum Ende des Vorjahres beispielsweise 543.000 Menschen in Vertreibung. Insbesondere Hurrikans, Tornados und Waldbrände sorgten in den Vereinigten Staaten dafür, dass Menschen ihren Wohnraum verloren.

Durch den Klimawandel treten extreme Wetterereignisse häufiger und schwerer auf. Zwar sind längst nicht alle Naturkatastrophen auf die Erderhitzung zurückzuführen, dennoch ist sich die Forschung einig, dass sie Migrationsbewegungen beeinflussen kann. Menschen geraten an die Grenzen ihrer Überlebensfähigkeit und suchen anderswo Schutz und Arbeit. Aber die Zusammenhänge sind komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.

Welche Länder sind künftig besonders betroffen?

Besondere Hotspots für klimabedingte Vertreibung sieht Migrationsforscher Roman Hoffmann vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg zukünftig "in der Sahelzone, Ostafrika, dem Horn von Afrika, Südasien, Inselstaaten und Bergregionen". Hoffmann stellte zwar bei seiner Arbeit eine Verbindung zwischen dem Klimawandel und Migration her, warnt aber vor Verallgemeinerungen: "Eine umweltliche Veränderung allein ist selten die Ursache für Migration. Migration ist ein Zusammenspiel von verschiedenen Einflüssen." Diese Faktoren sind vielfältig. Oft ist es eine Mischung aus Bevölkerungswachstum, Armut, Staatsführung, Sicherheit und Konflikten. Der Klimawandel spielt, je nach Situation, eine unterschiedlich große Rolle.

Migrationsforscher Roman Hoffmann

Migrationsforscher Roman Hoffmann

Dennoch stammen laut dem Flüchtlingskommissariat UNHCR derzeit 70 Prozent aller Schutzsuchenden aus Ländern, die besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind.

Umweltkatastrophen führen laut Hoffmann aber nicht automatisch zu Fluchtbewegungen. Ärmeren Bevölkerungsgruppen fehlt es oft an finanziellen Mitteln, um zu migrieren. Solche Bevölkerungsgruppen werden laut der Forschung vor Ort eingeschlossen.

Wie viele Menschen werden zukünftig vertrieben?

Die Schätzungen gehen weit auseinander, wie viele Menschen zukünftig tatsächlich von den Auswirkungen des Klimawandels zur Flucht gezwungen werden. Wir geben Ihnen hier eine Auswahl über einige der prominentesten und am häufigsten zitierten Werte, die der Humangeograf David Durand-Delacre und weitere Forscher in einem Artikel zusammengestellt haben.

1988veröffentlicht die US-Journalistin und Forscherin Jodi Jacobson einen ersten Ansatz zu diesem Thema in einem Artikel, bei dem sie von 10 Millionen Umweltflüchtlingen ("Environmental Refugees") ausgeht. Der Bezugszeitraum ist nicht bekannt.

1993sagt der britische Forscher und Naturschützer Norman Myers 150 Millionen Flüchtlinge – sowohl Binnenvertriebene als auch internationale Flüchtlinge – bis 2050 voraus. Er berücksichtigt dabei Bangladesch, Ägypten, China, Indien sowie andere Küsten- und Flussdelta-Gebiete, Inselstaaten und landwirtschaftlich benachteiligte Gebiete.

2002prognostiziert Myers in einem überarbeiten Artikel 200 Millionen Flüchtlinge bis 2050.

2007geht der Ökonom Nicholas Stern unter Bezugnahme auf die Forschung von Myers sowie Jennifer Kent (1995) von 150 bis 200 Millionen Flüchtlingen bis 2050 aus.

Ebenfalls 2007prognostiziert die Umweltschutzorganisation "Friends of the Earth" in Referenz auf Myers 200 Millionen Flüchtlinge bis 2050.

2010sagen der deutsche Forscher Frank Biermann und die US-Forscherin Ingrid Boas, ebenfalls unter Bezugnahme auf Myers und Kent, 200 bis 250 Millionen Flüchtlinge bis 2050 voraus.

2016gibt die Hilfsorganisation Care Dänemark die erwartete Flüchtlingszahl bis 2050 mit 250 Millionen an. Sie bezieht sich dabei auf Myers sowie die Hilfsorganisation Christian Aid.

2017prognostizieren die US-Forscher Charles Geisler und Ben Currens in einem Artikel sogar 1,4 Milliarden Klimamigranten ("Climate Migrants") aus Küstengebieten, allerdings bis 2060.

2018gehen Kanta Kumari Rigaud und andere in einem Bericht für die Weltbank (Groundswell Report) von 143 Millionen Binnenvertriebenen bis 2050 in Subsahara-Afrika, Südasien und Lateinamerika aus.

2020geht ein Bericht des australischen Institute for Economics and Peace von 1,2 Milliarden Menschen in 43 Ländern, die bis 2050 aufgrund der Klimaveränderungen "von Vertreibung bedroht" sind, aus.

2021sagen in einem zweiten, erweiterten Weltbank- bzw. Groundswell-Bericht Viviane Clement, Kanta Kumari Rigaud und weitere Forschende 216 Millionen Binnenvertriebene bis 2050 in Lateinamerika, Afrika, Osteuropa, Asien und dem Pazifik voraus.

Bei der Prognose des Institute for Economics and Peace wurden die Zahlen der Binnenvertriebenen vergangener Jahre auf das Jahr 2050 hochgerechnet, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass viele Menschen bereits nach kurzer Zeit wieder nach Hause zurückkehren können. Die Zahl taucht dennoch immer noch in aktuellen Berichten auf. Experten wie Roman Hoffmann betrachten solche Schätzungen nicht nur deshalb kritisch: "Es kann möglich sein, dass Mobilität in einem größeren Rahmen beeinflusst wird, aber es ist sehr schwierig, es auf eine Zahl herunterzubrechen."

Kommen diese Menschen nach Europa?

Vermutlich nicht, meint Politikwissenschaftlerin Sarah Louise Nash, die an der Donau-Universität Krems und der BOKU in Wien forscht. "Die Mehrheit der Menschen, die aufgrund von Klimaereignissen migrieren, bleiben innerhalb ihres eigenen Landes", sagt sie und viele weitere Forscher stimmen dem zu. Auch wenn die Sicherheit Europas anziehend wirkt, versuchen wandernde Menschen oft, so nah wie möglich an ihrer Heimat zu bleiben. Sie ziehen meist in Ballungsräume und gehen nur selten über Grenzen. Vielen fehlt ganz einfach das Geld für eine weite Flucht.

Politikwissenschaftlerin Sarah Louise Nash

Politikwissenschaftlerin Sarah Louise Nash

Migrationsprozesse in Bezug auf den Klimawandel können oft als Arbeitsmigration verstanden werden. "Es gibt nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die tatsächlich lange internationale Wege hinter sich legen, aber diese ist auch am schwierigsten zu erfassen", sagt Nash. Im Gegensatz zu den relativ genauen Zahlen bei der Migration innerhalb von Ländern gibt es zu grenzübergreifender Wanderung aufgrund von Extremwetterereignissen keine genauen Zahlen.

Was tun mit den Vertriebenen?

Sachverständige fordern Klima-Pass, um Betroffenen zu helfen

In welcher Form ist Europa dennoch betroffen?

Obwohl Europa keine massiven Flüchtlingswellen aus dem globalen Süden erwarten muss, machen die Herausforderungen der Klimakrise keinen Halt vor dem Kontinent. "In Südeuropa sehen wir in der Landwirtschaft jetzt schon erhebliche Produktivitätsverluste, die sich auf diese ländlichen Regionen auswirken und natürlich zu einem weiteren Wegzug beitragen können", sagt Roman Hoffmann. In Europa waren 2022 hauptsächlich Waldbrände dafür verantwortlich, dass knapp 100.000 Menschen ihr Zuhause zumindest vorübergehend verlassen mussten.

Die Temperaturen stiegen in Europa in den vergangenen 30 Jahren doppelt so schnell wie im globalen Mittel. Politikwissenschaftlerin Nash betont deshalb, dass die EU die Situation innerhalb ihrer Grenzen zunehmend im Blick behalten muss und, wie alle Industrieländer, darüber hinaus Verantwortung trägt.

Treibhausgasausstoß nach Weltregionen

"Viele Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, wollen nicht als Flüchtlinge bezeichnet werden. Sie argumentieren, dass ihr Staat nicht an ihrer Situation schuld ist. Eher sind es Industriestaaten, die hohe Treibhausgasemissionen haben und viele Jahre schon gehabt haben", sagt Nash.

Der Treibhausgasausstoß Chinas betrug im Jahr 2021 (neueste Daten) beispielsweise 11,47 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente.

Der Rest Asiens – ohne China und auch Indien – kam immerhin auf 7,51 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente.

Die USA stießen 2022 5,01 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente aus. Würde man hingegen den Pro-Kopf-Ausstoß der US-Amerikaner betrachten, wäre er fast doppelt so hoch wie jener der Chinesen.

Die 27 EU-Staaten emittierten 2,79 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente.

Es folgt Indien, das nicht nur bei der Bevölkerungszahl, sondern mit 2,71 Milliarden Tonnen auch beim Ausstoß von CO2-Äquivalenten kräftig aufholt. Pro Kopf stößt Indien indes noch verhältnismäßig wenig aus.

Europa ohne die 27 EU-Staaten stieß 2,51 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente aus.

Die restlichen Weltregionen – Afrika, Nord- und Südamerika ohne den USA, Ozeanien – sowie der internationale Verkehr kommen in Summe noch auf 5,12 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente.

Gibt es Klimamigration auch in Österreich?

Eine weitere Folge des Klimawandels ist der geringere Schneefall, was somit selbst in mitteleuropäischen Ländern wie Österreich zu einer "Flucht" vor dem Klima führen kann. Der heimische Wintertourismus ist bedroht. "Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Mobilität der Menschen", so Hoffmann. Für Migrationsbewegungen wesentlich sind die rund 200.000 Beschäftigten der Tourismusbranche, wovon ein großer Teil im Wintertourismus arbeitet.

Dieses Dossier wurde von Tobias Graf und Ifeoma Moira Ikea, Journalismus-Studierende der FH Joanneum Graz, im Rahmen des "Styria Ethics"-Programms erstellt, das 2022 in Kooperation mit der Dialogreihe "Geist und Gegenwart" entsteht. Die Dialogreihe findet ab 24. Mai 2022 zum Thema "The European Way of Life" statt.

Digitale Aufbereitung und Grafiken: Jonas Binder

Videos: Adobe Stock (3)

Fotos: AFP (3), Imago (2), KK (2)

Datenquellen: Die Zahlen zu Binnenvertreibungen stammen aus dem neuesten Bericht des "Internal Displacement Monitoring Centre" für das Jahr 2022. Die Übersicht über Prognosen zu künftiger Klimamigration wurde einem Artikel von David Durand-Delacre und weiteren Forschenden entnommen. Die Daten zu Treibhausgasemissionen nach Weltregionen (umgerechnet in CO2-Äquivalente) stammen vom Portal "Our World in Data", das sich auf das "Global Carbon Budget 2022" bezieht. Die erwartete Veränderung der Tage mit geschlossener Schneedecke in Österreich wurde vom Projekt FuSE-AT der GeoSphere Austria übernommen.