Ostersonntag | Teil 8

Tragen und getragen werden

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

In der Karwoche und am Ostersonntag präsentieren wir Bilder des italienischen Fotografen Marco Longari, der für die Agentur Agence France Presse arbeitet. Die Fotos ausgewählt und die Texte dazu verfasst hat Thomas Götz, den mit Longari eine lange Freundschaft verbindet. Gemeinsam berichteten die zwei vor vielen Jahren von den Balkankriegen. Zudem zeichnet die Grazer Theologin Theresia Heimerl die Passion in sieben Objekten nach. Dornenkrone, 30 Silberlinge, Geißel, Lanze, Kelch, Kreuz und Grabtuch sollen das Leiden und Sterben Jesu begreifbar machen.

Von Thomas Götz

3. April 2005, ein Tag nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. Gläubige balancieren ein riesiges, etwas unbeholfen gemaltes Bild des Auferstandenen über ihren Köpfen. Sie stehen auf dem Petersplatz, wo sich zehntausende Trauergäste zum Gedenkgottesdienst für den verstorbenen Papst versammelt haben.

Fast 27 Jahre lang hat Karol Wojtyla die katholische Kirche geleitet. Er hat das Attentat überlebt, das Mehmet Ali Ağca auf dem Petersplatz auf ihn verübte. Er hat die Herrschaft der Kommunisten in Polen und darüber hinaus ins Wanken gebracht und rastlos die Welt bereist. Jeden Sonntag grüßte er vom Fenster über dem Platz die Menge und segnete die Menschen. Sollten ihn Zweifel geplagt haben, verbarg er sie hinter einer unerschütterlichen Festigkeit, die den einen verdächtig war und den anderen Halt gab.

Wenige Tage vor seinem Tod noch hatte der Pole mit schwacher Geste den Segen Urbi et Orbi gespendet. Worte brachte er nicht mehr hervor. Am 2. April meldete der Vatikan den Tod Karol Wojtylas, der trotz schwerer Krankheit einen Rücktritt kategorisch ausgeschlossen hatte – Jesus sei schließlich auch nicht vom Kreuz gestiegen. Viele Menschen, die am darauffolgenden Tag auf den zentralen Platz gekommen sind, haben nie einen anderen Papst als ihn gekannt. Heute wird sein Nach-Nachfolger, schwer gezeichnet vom Alter, von der Loggia des Doms aus den Ostersegen spenden. 

Der Bildausschnitt, den Marco Longari für sein Foto wählt, komprimiert die Botschaft des Festtags. Es zeigt im oberen Teil den Auferstandenen auf einer kleinen Wolke gen Himmel entschwinden. An den Füßen deutet der Maler die Wundmale an. Am unteren Bildrand sieht man junge und alte Hände, die in gemeinsamer Anstrengung das unhandliche Bild in die Höhe wuchten. „Jesus, Dir vertraue ich“, steht auf dem Spruchband kurz und bündig: Voraussetzung und Folge der Entscheidung, das Unwahrscheinliche für wahr zu halten.

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

KARSAMSTAG | TEIL 7

Unort zur Unzeit

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Intimacy II nennt Marco Longari dieses Bild ironisch. Sessel und Tische stehen verlassen auf einer weiten, grell beschienenen Fläche in Nouakchott, der Hauptstadt Mauretaniens. Das Restaurant, zu dem sie gehören, ist geschlossen. Die Sonne brütet herunter, hier zu sitzen, kommt niemandem in den Sinn. Von Intimität keine Spur. Ein Unort zur Unzeit.

Wie man sich die Hölle vorzustellen hat, wissen wir nicht. Nicht einmal, ob es sie gibt, ist gewiss. Manchen Völkern und Religionen ist ein solcher Ort der Abtrennung vom Leben, der härtesten aller Strafen, überhaupt fremd. In unserer Kultur ist er mit der Vorstellung von unerträglicher Hitze verbunden, mit körperlichen und seelischen Qualen, mit Vereinzelung und Entbehrung. Alles, was uns schon im Leben unangenehm aufgefallen ist, haben Theologen ins Jenseits transferiert und um ein paar Potenzen intensiviert. Das sollte zur Abschreckung genügen. Wer nicht hinwill, weiß, wie er sich zu benehmen hat. Sehr fantasievoll ist die Methode nicht, es sei denn, ein Dante nimmt sich der Sache an.

In Zeiten der Skepsis, der Introspektion und Zukunftsangst vermag ein Bild wie dieses vielleicht eher zu vermitteln, was Hölle sein könnte. Ein von Menschen leergefegter Planet, auf dem ins Inferno Versetzte allein zurückbleiben. Eine überhitzte Erde, auf der alles Menschengemachte unbenutzbar geworden ist. Oder einfach ein Ort der Verlassenheit, des Abgeschnittenseins vom Leben und von den Menschen.

All das lädt Marcos Foto mit einer Bedeutung auf, die es nicht hat, mag man mit Recht einwenden. Aber so funktioniert Assoziation im Kopf. So sind auch wir bei der Suche nach einem Bild für den Karsamstag in Marco Longaris Archiv auf die Aufnahme gestoßen. So entsteht durch Kombination aus Datum, Foto und religiösem Bezug eine neue Bedeutungsebene, die das Bild allein nicht gehabt hätte.
„Abgestiegen in die Hölle.“

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Grabtuch: Zwischen Zweifel und Verehrung

Josef kaufte ein Leinentuch, nahm Jesus vom Kreuz, wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war.
Mk 15,46
Petrus aber stand auf und lief zum Grab. Er beugte sich vor, sah aber nur die Leinenbinden.
Lk 24,12

Von Theresia Heimerl

Würde die Passionsgeschichte heute spielen, hätten wir unzählige Fotos und Videos von Jesus, Selfies des Lieblingsjüngers Johannes mit seinem Lehrer beim letzten Abendmahl, Postings der römischen Soldaten bei der Geißelung, Livestreams von der Kreuzigung, einige Nahaufnahmen wären wegen der großen Brutalität wohl in den westlichen Social-Media-Kanälen gesperrt. Das „Leinentuch“ mit einem Abdruck des toten Jesus, es käme einem solchen „Foto“ wohl am nächsten. Kein anderes Objekt der Passion hat so viel Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf sich gezogen, wie das nach seinem Aufbewahrungsort seit 1578 benannte Turiner Grabtuch. Sind die Umrisse des Gesichts auf dieser 4,36 mal 1,10 Meter großen Leinwand tatsächlich jene des Sohnes Gottes, der bis heute für Millionen Christen Zentrum ihres Glaubens ist?

Das Grabtuch ist in den Evangelien im Vergleich zu anderen Gegenständen wie der Dornenkrone, dem Kelch und natürlich dem Kreuz von untergeordneter Bedeutung. Die wenigen Verse, die ihm in den verschiedenen Evangelien gewidmet sind, sollen zeigen, dass Jesus trotz seiner für seine Umwelt schändlichen Hinrichtung ordentlich, „wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist“ (Joh 19,40), bestattet wurde. Der Fokus liegt einerseits auf der Gestalt des Joseph von Arimathäa, der den von ihm verehrten Jesus auch nach seinem Tod nicht im Stich lässt, und andererseits lenkt die Grablegung Jesu die Aufmerksamkeit auf den Felsen, mit dem das Grab verschlossen wird und damit hin zur Auferstehung.

Das Tuch begegnet nur noch einmal bei zwei Evangelisten: Die Leinenbinden, in die der Leichnam gewickelt war, liegen verlassen im leeren Grab als stumme Zeugen des Geschehens. Erst Künstler späterer Jahrhunderte stellen Jesus mitunter in das Leinentuch wie in eine Toga gewickelt dar, während er zwischen Karfreitag und Ostersonntag seinen Abstieg in die Unterwelt antritt.

Das Grabtuch begegnet erst mehr als 1300 Jahre später wieder in einem christlichen Text: Der Bischof von Troyes in Frankreich beklagt sich in einem Brief an den Papst, in seiner Diözese würde im Ort Lirey aus Gewinnsucht ein Grabtuch mit dem zweifachen Bild eines Mannes gezeigt und fälschlich behauptet, diese kunstfertige Stoffmalerei sei das echte Grabtuch Christi.

Die Geschichte dieses letzten Objektes der Passion beginnt also bereits mit der Spannung zwischen Zweifel und Verehrung, Authentizität und Fake News. Als das Grabtuch Mitte des 15. Jahrhunderts in den Besitz der Herzoge von Savoyen übergeht, verschiebt sich die kirchliche Einschätzung, Papst Julius II. führt 1506 einen eigenen Feiertag für das „Heilige Grabtuch“ am 4. Mai ein.

Die Frage nach der Echtheit des Turiner Grabtuches als Grabtuch Jesu wird im Jahr 1898 erneut aktuell, als davon die erste fotografische Aufnahme gemacht wird, deren Negativ jenes detailreiche Bild zeigt, das heute eine öffentliche Ikone ist. Seitdem ist die Geschichte des Grabtuches auch eine Geschichte des Verhältnisses von Naturwissenschaft und Religion.

Was immer an neuen Methoden verfügbar war, um eine genaue Datierung des Textils sowie der darauf befindlichen Abdrücke zu gewinnen, wurde eingesetzt: Biologen, Ägyptologen, Mediziner, Chemiker, Kunstexperten befassten sich mit dem Objekt aus ihrer Perspektive, Kommissionen wurden gegründet und zerstritten sich wieder, die Erforschung des Grabtuchs erhielt sogar einen eigenen Namen, die Sindologie (vom italienischen sindone = Grabtuch). Das nüchterne Ergebnis der aufwändigen Untersuchungen: Das Grabtuch stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Mittelalter. Dessen ungeachtet wurden die seltsamsten Theorien entworfen und verworfen, wie jene, die Konturen am Grabtuch seien tatsächlich ein Foto, aufgenommen beim Lichtblitz der Auferstehung.

Spätestens hier müssen Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts sich die Frage stellen, worum es bei der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand geht: Kämen wir dem Jesus der Evangelien, seinem Leiden und Sterben oder gar seiner Auferstehung wirklich näher, wenn wir einen unwiderlegbaren Beweis hätten, dass das Turiner Grabtuch die Züge des Jesus von Nazareth abbildet? Was wüssten wir dann: Dass er gelebt hat? Dafür gibt es unverdächtige antike Quellen. Dass der Mensch Jesus gestorben ist? Etwas anderes haben nur einige Häretiker behauptet, die Evangelien sind hier eindeutig. Dass er so ausgesehen hat, wie wir uns Jesus aus einer langen ikonographischen Tradition heraus schon immer vorgestellt haben?

Das, was in der Osternacht geschah, bewiese auch ein „Originalgrabtuch“ mit dem Blut Jesu darauf nicht. Das Grabtuch ist das letzte Objekt der Passion, die letzte mögliche materielle Verbindung zu Jesus. Alles, was danach kommt, ist auf dieser Ebene buchstäblich nicht mehr zu greifen: „Berühre mich nicht/halte mich nicht fest“, sagt der Auferstandene im Johannesevangelium zu Maria von Magdala.

Die Objekte der Passion sind allesamt Verbindungen zum Leben und Sterben Jesu, die Auferstehung ist eine Sache des Glaubens, sie lässt sich genauso wenig (be)greifen wie der Auferstandene am Ostermorgen. Die Objekte der Passion führen uns vor Augen, wie wir Menschen „ticken“: Wir brauchen etwas, das wir sehen, berühren, nachvollziehen können. Sie sind Erinnerungsstücke, die das Geschehen der Karwoche lebendig halten.

Das Turiner Grabtuch kommt diesem Bedürfnis nach materiellen Verbindungsstücken des Glaubens heute am nächsten, es entspricht unserer Vorstellung vom „Foto“ als Existenzbeweis einer Person am besten. Und doch wissen wir, was schon der Bischof von Troyes im 13. Jahrhundert wusste: Bilder sind gestaltbar, Bilder sind manipulierbar, Bilder zeigen uns das, was wir sehen wollen.

Das Grabtuch in Turin zeigt uns einen Jesus, wie wir ihn aus hunderten Kunstwerken kennen, die ihrerseits nicht selten von diesem Objekt beeinflusst wurden. Dieses Grabtuch ist ein ikonisches Zitat, beliebig wiederholbar, sogar in Lila und kopfüber wie derzeit im Wiener Stephansdom zu sehen. Viel interessanter, viel existenzieller ist aber das, was man auf dem Grabtuch nicht sieht, was man auf keinem Foto sehen kann: Das Geschehen der Osternacht, die Auferstehung.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Picturedesk.com

KARFREITAG | TEIL 6

Stabat Mater Dolorosa

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

In den Schilderungen der Kreuzigung durch die Evangelisten ist sie eine Nebenfigur. Die Kunst aber hat sich schon früh dafür interessiert, was in einer Mutter vorgeht, die Zeugin der Folterung und Hinrichtung des eigenen Kindes wird. Händeringend steht sie unter den drei Kreuzen, oft mit nach oben verdrehten Augen, stumm und machtlos. Matthias Grünewald zeigt Maria auf seinem „Isenheimer Altar“ an den Apostel Johannes gelehnt, der die Ohnmächtige auffängt. Guido Reni steckt ihr einen Dolch ins Herz, andere Künstler gleich sieben. El Greco schmückt sie mit einem eleganten Schleier, Rembrandt kehrt den Blick der Leidenden nach innen. Auch viele Komponisten wählen die Perspektive der verzweifelten Mutter, um sich der Passion zu nähern. Als Vorlage dient ihnen bis heute das „Stabat Mater“, ein mittelalterliches lateinisches Gedicht, dessen Autor unbekannt ist. Von Josquin Desprez über Palestrina, Charpentier, Vivaldi, Pergolesi, Verdi und Dvorak reicht die Kette der großen Komponisten bis herauf zu Frank Martin, Francis Poulenc und Wolfgang Rihm. Keine Epoche ließ die Trauer der Mutter unberührt, jede versuchte sie mit ihren stilistischen Mitteln auszudrücken.

Marco Longari fand diese Figur der Schmerzensmutter 2022 in der Kathedrale von Trani in Apulien. Eine riesige Plastikplane schützte die Statue vor dem Staub, den die Restaurierungsarbeiten in der Kirche aufgewirbelt haben. Wie bei vielen Aufnahmen, die der Fotograf auf Instagram teilt, fügte er auch dieser einen knappen Kommentar hinzu, der über den konkreten Anlass hinausgeht: „How to preserve faith“ schreibt er nicht ohne feine Ironie. Den Glauben durch eine undurchdringliche Schutzschicht vor äußeren Einflüssen zu schützen, ist zum Scheitern verurteilt. Das Zellophan bricht nur das Licht und mildert die harten Konturen des Schmerzes darunter. Ein Filter für den Blick auf fremdes Leid.

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Kreuz: Zersplitterter Traum vom Heil

Und er selbst trug das Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelstätte, die auf Hebräisch Golgota heißt. Dort kreuzigten sie ihn.
Joh 19,17f.

Von Theresia Heimerl

Das Kreuz ist das zentrale Symbol, das Erkennungs- und Bekenntniszeichen des christlichen Glaubens.“ So lapidar beginnt das Lexikon für Theologie und Kirche seinen Eintrag zum Thema „Kreuz“. Das Kreuz ist heute vermutlich global das Symbol mit dem größten Bekanntheitsgrad. Es steht auf Berggipfeln und im Dschungel, es wird auf Modeschauen getragen und im japanischen Anime in Szene gesetzt, die künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Symbol des Kreuzes sind längst unzählbar geworden.

Nicht alle diese Verwendungen haben noch mit dem zu tun, was es zuerst einmal war und ist: DAS Objekt der Passion. Und doch spiegelt die vielgestaltige, manchmal abstrus erscheinende Verwendung des Kreuzes die Faszination und die Irritation wider, die von diesem simplen Gegenstand ausgehen.

Der heutige Karfreitag steht für Christen im Zeichen des Kreuzes, an das vor so vielen Jahren Jesus aus Nazareth geschlagen wurde und an dem er zur neunten Stunde, wie es im Evangelium heißt, gestorben ist. Zu jener Zeit, als die Leidensgeschichte niedergeschrieben wird, wenige Jahrzehnte nach den tatsächlichen Ereignissen, ist das Kreuz noch ein Straf- und Exekutionswerkzeug. Das Römische Reich, das sich zur Zeit Jesu vom Atlantik bis zum Jordan, vom Rhein bis zum Nil erstreckt, richtet in seinem Herrschaftsbereich jene, die es als Verbrecher verurteilt hat, gerne mit der Kreuzigung hin. 60 Jahre vor dem gewaltsamen Tod Jesu auf Golgota ließ der römische Feldherr Crassus 6000 aufständische Sklaven entlang der Via Appia von Capua bis nach Rom ans Kreuz schlagen.

Das griechische Wort „staurós bedeutet schlicht Pfahl. Die „crux(lat.: Kreuz) war ein Marterpfahl, an dem die Verurteilten mit einem Querbalken aufgehängt wurden und elendiglich unter Schmerzen zugrunde gingen. Ausgerechnet dieses Objekt der Qual und der Schande zum zentralen Zeichen einer neuen religiösen Bewegung zu machen, erfordert Mut und Überzeugung. Wie grotesk diese Wahl der Umwelt der ersten Christen schien, gibt der Apostel Paulus freimütig zu: „Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit.“ (1 Kor 1,23)

Vielleicht ist es gerade diese Irritation, das Unverständliche des Kreuzes, das die Menschen in seinen Bann zu ziehen beginnt: Eine Religion, die ihre Rettung in einem Gekreuzigten sieht und das Symbol der Verurteilung zum Symbol der Rettung umdeutet – da muss etwas dran sein. Das Kreuz als Zeichen des Sieges in einer scheinbar sicheren Niederlage ist eine Deutung, die auch römische Militärs begeistert: Kaiser Konstantin macht mit seiner Vision das Kreuz, in dessen Zeichen er bei der Schlacht an der Milvischen Brücke siegen werde, endgültig zum „Tropaion, zur Standarte der Kämpfer, die darin Zugehörigkeit, Schutz und ein Versprechen sehen, das über ihr ungewisses Leben hinausgeht.

Wir tun uns heute schwer mit dieser kriegerischen Deutung, rechtfertigt sie doch ab Konstantin Jahrhunderte an Gewalt und Blutvergießen im Schatten des Kreuzes, die das Leiden Jesu am Karfreitag in ihrer schieren Menge beinahe in den Schatten stellen. Das Kreuz als Siegeszeichen scheint uns unangemessen – und das ist gut so. Das zentralste Objekt der Passion kann und darf nie zur gedankenlosen Gewohnheit werden, es ist kein folkloristisches Requisit, das man einmal im Jahr mit der Osterdekoration hervorholt.

Das Kreuz Jesu ist heute nur mehr in versprengten Splittern fassbar. Seit der legendarischen Auffindung des Kreuzes durch Kaiserin Helena im Jahr 326 beanspruchten Herrscher und Kirchen, einen Teil des Kreuzes als ihre kostbarste Reliquie zu besitzen, die sie in eigenen, mit Gold und Edelsteinen verzierten Staurotheken aufbewahren. Diese Zersplitterung des Kreuzes betrifft nicht nur das materielle Objekt, sondern sie geht mit einer Fragmentierung des Kreuzessymboles einher, die nicht erst mit der modernen Kunst beginnt.

Bereits für frühe Theologen ist es ein neuer Baum des Lebens, der jenen gefährlichen Baum aus dem Paradies ersetzt. Für die frühmittelalterliche Kunst ist es ein Ort göttlicher Erhabenheit, ein Königsthron der christlichen Art, für das Spätmittelalter ein Spiegel der menschlichen Grausamkeiten und Ängste, von dem das Blut in Strömen rinnt. Für den Mystiker Heinrich Seuse ist das Kreuz, das er sich selbst auf den Rücken schlagen lässt, das Mittel der Einswerdung mit Christus, darin über die Jahrhunderte hinweg verwandt mit den freiwillig Gekreuzigten auf den Philippinen. Für viele fromme Frauen hieß das Kreuz anzunehmen, den prügelnden Ehemann auszuhalten, wie die feministische Theologie kritisch anmerkt.

Und dann gibt es eine Kreuz-Frage, die mitten hineinführt in die Spannungen zwischen Objekt und Symbol: Soll Jesus am Kreuz hängen oder nicht? Auch viele gläubige Christen ziehen im privaten Bereich, ob an der Wand oder an der Halskette, ein Kreuz ohne Körper des Gekreuzigten vor und selbst frommen Müttern wäre oft wohler, wenn im Kindergottesdienst kein blutüberströmter, nackter Jesus am Kreuz hinge, der unmissverständlich an die ursprüngliche Bedeutung des Kreuzes als Hinrichtungsinstrument erinnert.

Vor wenigen Jahrzehnten waren es noch kaum mehr sichtbare Kreuze, vielfach mit Farbe übermalt, wie jenes des österreichischen Künstlers Arnulf Rainer im Grazer Priesterseminar, die Aufsehen und Abwehr erregten. Heute eröffnet uns diese extreme Fragmentierung des Kreuzes hinter Farbschichten Denkmöglichkeiten dieser zentralsten christlichen Symbolik in der Moderne. Das Verschwinden und bloße Erahnen des Kreuzes erspart uns aber auch die Konfrontation mit dem Objekt in all seiner Brutalität. Damit sind die abstrakten Kreuze letztlich eine Fortsetzung der kostbaren mittelalterlichen Reliquiare, die hinter dem Goldglanz das blutige Holz fast unsichtbar machen.

Im schlichten Gegenstand des Kreuzes wird die Ungeheuerlichkeit des Passionsgeschehens stets von Neuem auf den Punkt gebracht. Das Kreuz verstört. Selbst der kleinste Splitter dieses Objektes der Passion genügt, um uns das Leiden und Sterben von damals zu vergegenwärtigen. Es ist Mittelpunkt des Heilsversprechens und Fluchtpunkt für unsere Auseinandersetzungen mit den Hoffnungen und Abgründen menschlicher Existenz von Golgota bis heute.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Getty Images

GRÜNDONNERSTAG | TEIL 5

Nur ein Mahl?

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Es war ein normales Festmahl, wie es alle jüdischen Familien feierten. Nur Familie war keine da. Männer unter sich. Leonardo da Vincis Darstellung des letzten Abendmahls prägt unsere Vorstellung hartnäckig; langer Tisch, sauberes Tischtuch, Perspektive, Renaissancearchitektur. Nichts davon ist historisch. Das Pessach-Mahl dieser 13 Männer aber hatte weitreichende Folgen. Es legte den Grundstein für das, was Christen bis heute jeden Sonntag feiern.

Wie sie das tun, hat Gläubige entzweit und blutige Kriege befeuert. Soll der Priester zur Kommunion auch Wein reichen? Sind Brot und Wein Symbol für Christus oder in ihrer Substanz zu dessen Leib und Blut gewandelt, wie die orthodoxe und die katholische Kirche lehren? Die Fragen haben Konzilien beschäftigt, die divergierenden Antworten die Kirche zerrissen. Das Abendmahl aber feiern alle. Aus dem Fest der Juden zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, das Jesus mit seinen Jüngern am Gründonnerstag feierte, wurde die Liturgie der Christen, die seinen Tod zu deuten versucht.

Das Foto von Marco Longari zeigt einen Gottesdienst in der orthodoxen Medhanealem Kirche in Addis Abeba. Es ist der größte Kirchenbau Äthiopiens, das schon lange vor dem Kolonialismus das Christentum angenommen hat. Lichtkegel brechen sich in Schwaden von Weihrauch. Fast kann man den Duft riechen, den die glosenden Harze in dem schwingenden Kessel verströmen.

Der Priester trägt ein prächtiges Gewand, „um sich nicht nur von andern Menschen, sondern auch von sich selber zu unterscheiden, um in nichts Menschen zu gleichen, die ihrem Alltagsgeschäft nachgehen“, schreibt Nikolai Gogol in seinen „Betrachtungen über die göttliche Liturgie“. Auch die alte Streitfrage, was denn da geschieht, hat der Schriftsteller am Ende seines Lebens in größtmöglicher Eindeutigkeit beantwortet: „Auf dem heiligen Tisch liegen nunmehr Leib und Blut: die Wandlung ist vollendet!“

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Kelch: Auf der Suche nach dem Gral

Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, gab ihn den Jüngern und sagte: Trinkt alle daraus; das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.
Mt 26, 27f.

Von Theresia Heimerl

Es gibt wohl kein anderes Objekt der Passion, das derart viel populärkulturelle Aufmerksamkeit erfahren hat wie der Kelch, aus dem Jesus seine Jünger beim letzten Abendmahl trinken lässt. Als Heiliger Gral ist er aus Literatur, Film und Esoterik nicht mehr wegzudenken. Doch auch theologiegeschichtlich ist der Kelch nicht ohne, diente er doch über Jahrhunderte als Erkennungszeichen einer häretischen Gruppe, doch dazu später mehr. Zunächst einmal ist der Kelch das einzige potenziell erhaltene Objekt des letzten Abendmahls: Brot und Wein als zentrale Elemente sind als Nahrungsmittel konsumiert, ihre Reste längst vergangen, somit bleibt der Kelch als „Verpackung“ übrig.

In der überreichen Deutungstradition dieses Kelches gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Zugänge: Die eine Tradition sieht den Kelch als wichtiges Objekt des Abendmahls, das es in der Liturgie zu bewahren gilt. Der Kelch findet bereits in den ersten christlichen Gemeinden Verwendung und entwickelt sich vom Alltagsgegenstand aus günstigen Materialien wie Ton, Metall oder Holz zu einem Kunstgegenstand aus Gold und Edelsteinen, wie zahlreiche kirchliche Schatzkammern noch heute zeigen. In dieser Tradition geht es darum, das ursprüngliche Objekt aus der Passionsgeschichte immer neu nachzubilden und so lebendig zu halten.

Die Überlieferung des Abendmahlskelches als Gral geht von einer anderen Annahme aus: Sie sieht den Kelch als Reliquie. Der Kelch als Gral wird als jener originale Kelch verstanden, aus dem Jesus seinen Jüngern damals zu trinken gab. Er reiht sich damit ein in jene Objekte der Passion, die als Passionsreliquien bis heute verehrt werden, wie etwa die Dornenkrone oder das Kreuz.

Diese Tradition des Kelches beginnt im Nikodemusevangelium, einem nicht kirchlich anerkannten Text aus dem vierten Jahrhundert. Es gehört zu einer großen Zahl von Texten, die, wie Spin-offs moderner Filme, Geschichten rund um die Ereignisse der Evangelien eigenständig ausgestalten und weitererzählen. Hier fängt Josef von Arimathäa, der in den Evangelien den Leichnam Jesu auf eigene Kosten in einem Felsengrab bestatten lässt, das Blut Jesu während der Kreuzigung in einem Kelch auf.

In weiteren Ausgestaltungen im Mittelalter flieht Josef mit ebendiesem Kelch nach Westen. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts verhilft der französische Dichter Robert de Boron in seinem Versepos „Joseph d‘Arimathie“ der bis heute bekannten Deutung zum Durchbruch: Der Kelch aus der Abendmahlserzählung in den Evangelien sei derselbe Kelch, in welchem Josef nur einen Tag später das Blut Jesu unter dem Kreuz aufgefangen hätte.

Was die Tradition der Evangelien und die dichterische Ausgestaltung eint, ist ein für die mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit zentrales Thema: das Blut Jesu. Der Kelch wird zum greifbaren Objekt für den schwer begreifbaren Vorgang der Transsubstantiation, der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi während der Liturgie.

In der ab dem 13. Jahrhundert rasch verbreiteten Erzählung vom Heiligen Gral als jenem Gefäß, in dem das Blut Jesu enthalten war, wird für mittelalterliche Zeitgenossen konkret erfahrbar, was Gelehrte nach Jahrhunderten des Disputes am IV. Laterankonzil 1215 als Formel der Transsubstantiation festlegten: Das Blut im Kelch bei der Wandlung während der Messe ist wirklich das Blut Christi. Der Kelch als Reliquie, wie ihn die Gralstradition deutet, braucht keine komplexen Begriffe wie den der Wesensveränderung, er holt die Gläubigen in ihrer Reliquienfrömmigkeit ab und macht das Blut Christi durch seine Bindung an das Objekt des Kelches im Moment der Verwandlung beim letzten Abendmahl erfahrbar.

Bis heute wird in der Kathedrale von Valencia in Spanien ein „Santo Cáliz“ („Heiliger Kelch“) gezeigt und als Abendmahlskelch verehrt, andere Kelchreliquien sind in den Wirren der Geschichte verschwunden, sie alle stehen als symbolische Objekte für die mittelalterliche Faszination für das Blut Christi, das die Menschen als so zentral für das Heilsgeschehen glaubten.

Eine ganz andere Bedeutung erhält der Kelch nur zwei Jahrhunderte später: Eine religiöse Bewegung in Böhmen, nach ihrem wichtigsten Vordenker Jan Hus als Hussiten benannt, trägt den Kelch auf ihrem Banner. Sie fordern die Kommunion „in beiderlei Gestalten“, also sowohl als Hostie (Brot) als auch im Kelch (Wein) und das möglichst oft, im Bedarfsfall auch von Laien gespendet. Damit widersprechen sie der Praxis der spätmittelalterlichen Kirche gleich doppelt, die den Gläubigen in der Regel nur das Brot durch geweihte Priester reichen lässt.

Die vielgestaltigen Forderungen nach religiöser Erneuerung und Einbeziehung der Laien am Vorabend der Reformation werden symbolisch im Objekt des Kelches sichtbar gemacht. Noch während der ersten Jahre des 30-jährigen Krieges tragen jene böhmischen Truppen, die als reformierte Christen gegen die katholischen Habsburger kämpfen, mitunter den Kelch auf ihren Feldzeichen. In dem Anspruch der Hussiten nach einer Rückkehr zu den christlichen Ursprüngen in der Bibel ist ein erinnernder Nachvollzug des biblischen Abendmahls am Vorabend der Passion nur mit Brot und Wein richtig und der Kelch für alle eine Vergegenwärtigung des Tuns Jesu im Evangelium.

Der Kelch war wie kein anderes Objekt der Passion Gegenstand theologischer Dispute, er symbolisierte bis in das 20. Jahrhundert eine konfessionelle Trennung, die in blutigen Kriegen erstritten worden war. Erst mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–65) wurde auch katholischen Laien wieder der Zugang zum Kelch bei der Kommunion eröffnet, auch wenn er in der Praxis bis heute eher die Ausnahme bleibt.

Die Suche nach dem Kelch, aus welchem Jesus seine Jünger beim letzten Abendmahl trinken ließ, geht indes weiter. Nicht nur die Ritter Parzival und Gawain suchen in mittelalterlichen Epen den Gral, auch vielen Romantikern des 19. Jahrhunderts wird er zum Symbol eines Wunschtraumes von jener unverfälschten Verbindung mit der Transzendenz, die sie für sich selbst schon als verloren betrachten.

Und noch im 21. Jahrhundert hat die Autorin dieses Beitrags selbst in den Ruinen der Burg Montségur in den südfranzösischen Pyrenäen eine Gruppe gesehen, die, nach dem steilen Anstieg außer Atem, andächtig den Worten des Fremdenführers lauschte: „Hier war einmal der Heilige Gral, der Kelch mit dem Blut Christi vom letzten Abendmahl. Leider ist er verschwunden und wir wissen nicht, wo er jetzt ist.“ Der Kelch bleibt ein Objekt der Sehnsucht, gerade weil er nicht greifbar ist.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Getty Images

MITTWOCH | TEIL 4

Frau am Meer

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Wie weit das Leben mit Covid zurückzuliegen scheint! Einsam wandert diese Frau mit ihrem Hund über den Hauptstrand in Langebaan nördlich von Kapstadt. Obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen ist, hat sie ihren Mund mit einer Maske verhüllt. Damals, vier Tage nach Weihnachten 2020, galt wegen der hohen Infektionszahlen in der Gegend ein strenger Lockdown. Selbst das Spazieren am Strand war verboten, das erklärt den scheuen Blick der Südafrikanerin in Richtung des Fotografen.

Was in Südafrika passiert, interessierte uns damals wenig. Lediglich die von dort importierte Variante des Virus, die zwischendurch die Berechnungen der Prognostiker durcheinander gewirbelt hat, brachte das ferne Land kurz in unser Bewusstsein zurück. Wie sich die Krankheit in einem weniger üppig ausgestalteten Gesundheitssystem als dem unseren auswirkte, interessierte uns weniger.

Marco Longaris Bild scheint eines der großen Gemälde der abendländischen Malerei aufzugreifen und zu variieren: Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“. Vor düsterem Gewölk steht eine winzige, gekrümmte Figur in Mönchskutte am aufgewühlten Ozean. Vom Betrachter abgewandt geht sein Blick auf die Weite des Meeres hinaus. Keine Spur von Leben zeigt sich weit und breit, nicht einmal Gras wächst am kahlen Ufer. Das hoffnungslose Bild, das derzeit in einer großen Friedrich-Retrospektive in Hamburg zu sehen ist, hat die Zeitgenossen des Malers schockiert und verstört bis heute. Abweisender, fremder ist Natur selten dargestellt worden.

Die Erinnerung an das Leben mit der Covid-Pandemie ist verblasst, rascher, als es die einschneidenden Änderungen in unserem Alltag damals vermuten ließen. Der Eindruck von Einsamkeit und Verlassenheit aber ruft das Grundgefühl wieder wach, das damals viele Menschen bedrückt hatte. Nicht einmal der Hund, den die Frau an der Leine führt, als müsste sie ihn vor irgendetwas oder irgendjemandem schützen, mildert die Verlassenheit, die uns die Aufnahme vermittelt. 

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Lanze: Der Mythos von der Unverwundbarkeit

Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite und sogleich floss Blut und Wasser heraus.
Joh 19,33-34

Von Theresia Heimerl

Wer dieses Objekt der Passion sehen will, braucht nur nach Wien zu fahren. Dort ist die Lanze, mit der Jesus am Kreuz in der Passionsgeschichte im Johannesevangelium in die Seite gestochen wurde, unter der Inventarnummer WS XIII 19 in der Schatzkammer zu besichtigen. Allerdings erweist sich auch eine Fahrt nach Rom als richtig, wo ein Kristallreliquiar in St. Peter die Überreste eben dieser Lanze enthält. Die über viele Jahrhunderte in der Sainte-Chapelle in Paris aufbewahrte Lanzenspitze hingegen ging in den Wirren der französischen Revolution verloren.

Die Lanze, die nur in einem einzigen der vier Evangelien in einem Satz Erwähnung findet, war über viele Jahrhunderte von derart eminenter Bedeutung, dass sie von konkurrierenden Königshäusern Europas als Besitz geführt wurde und das einzige Objekt der Passion, das vom nationalsozialistischen Regime „heim ins Reich“ nach Deutschland geholt wurde. Wie keines der anderen Objekte ist die Lanze direkt mit weltlichem Macht- und Herrschaftsanspruch verbunden und hat ihren fragwürdigen Platz in modernen Verschwörungstheorien.

Die Geschichte der Lanze als Objekt der Passion beginnt früh, zusammen mit dem Kreuz und den Kreuzesnägeln Christi soll sie die byzantinische Kaiserin Helena bei ihrem Besuch in Jerusalem im Jahr 326 entdeckt haben. Von dort wurde zunächst ihre Spitze 614 angesichts des Einfalls der Perser in Jerusalem nach Konstantinopel gebracht, wohin auch in den Jahrzehnten vor der ersten Jahrtausendwende der Hauptteil folgte.

Bald aber gingen Spitze und Hauptteil wieder getrennte Wege: Während die Spitze wie auch die Dornenkrone von König Ludwig IX. von Frankreich Mitte des 12. Jahrhunderts erworben und als Reliquie aufbewahrt wurde, schenkte der Sultan des mittlerweile von den Türken eroberten Konstantinopel Ende des 15. Jahrhunderts den Hauptteil der Lanze Papst Innozenz VIII. in Rom, wo sie bis heute liegt.

Noch viel spektakulärer ist die Geschichte jener Lanze, die wir in Wien besichtigen können. Aufgrund von Material und Machart wissen wir heute, dass sie im 8. Jahrhundert im Bereich der Franken oder Langobarden angefertigt wurde. Heinrich I., König des Ostfrankenreiches, erwarb 926 diese Lanze vom burgundischen König Rudolf II., der sie zusammen mit seiner kurzfristigen Herrschaft über Italien erhalten hatte. Die Mythenbildung rund um diese Lanze setzt mit den Schlachten gegen die Ungarn ein, die Heinrich 933 bei Riade und Otto I. am Lechfeld gewinnen – dank des Einsatzes eben dieses Objektes der Passion. Damit ist die Legende von der Unbesiegbarkeit dessen, der die Lanze besitzt, begründet.

Die Logik hinter diesem Mythos ist einem magischen Denken geschuldet, das jener Waffe, die den Körper Christi zu verwunden imstande war, eine besondere Macht zuschreibt. Diese wird allerdings in einer mittelalterlichen Deutung ebenso wie bei den anderen arma Christi aus einer paradoxen Umdeutung abgeleitet: Christus und seine Anhänger verwandeln jene Objekte, die sie verletzen und zerstören sollten, zu ihren machtvollen Waffen, die nunmehr über allen weltlichen Gegenständen stehen. Die Wirkung wird noch dadurch verstärkt, dass in der Lanze ein weiteres Objekt der Passionsgeschichte eingearbeitet ist: Ein dornartiges Eisenstück, das als einer der Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz genagelt worden war, galt.

In Texten des 10. Jahrhunderts firmiert die Lanze der Kaiser schlicht als lancea sacra (heilige Lanze). Erst in den folgenden Jahrhunderten erhält sie eine Vorgeschichte, die jenen Bezug zum direkten Geschehen der Passion herstellen soll, der dem Objekt selbst so offenkundig fehlt. Der Legionär und Märtyrer Mauritius soll diese Lanze getragen haben, was ihr im Mittelalter den Namen Mauritiuslanze einbrachte. Kaiser Konstantin soll sie getragen haben, der erste christliche Kaiser. Und schließlich, im 13. Jahrhundert, wurde die Lanze mit dem Soldaten aus der Passionsgeschichte in Verbindung gebracht. Dieser ist im Johannesevangelium namenlos, erhält aber bereits in Texten des 4. Jahrhunderts den Namen Longinus, weshalb die Lanze bis heute auch als Lanze oder Speer des Longinus bekannt ist.

Karl IV. aus dem Haus der Luxemburger griff auf diese Lanze zurück, als es darum ging, seine Kaiserwürde zu legitimieren. Er führte zu Ehren der Lanze mitsamt Kreuznagel in Prag, wohin er sie hatte bringen lassen, in Abstimmung mit Papst Innozenz VI. 1353 für den Freitag nach der Osteroktav das Fest „de arma Christi“ ein, das als „Speerfreitag“ bekannt wurde. Noch viermal musste die Lanze übersiedeln, bis sie endgültig in der Schatzkammer in Wien ihren Platz fand: Zuerst während der Hussitenkriege nach Nürnberg, von dort während des Kriegs gegen Napoleon nach Wien, von wo sie Hitler nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland wieder nach Nürnberg bringen ließ. 1946 erhielt Österreich als Sitz des letzten Habsburgerkaisers und damit Nachfolger des Heiligen römischen Reiches die Lanze mit den anderen Reichsinsignien wieder zurück.

Wer den jüngsten Indiana Jones Film aus dem Jahr 2023 gesehen hat, weiß: Der Mythos um die Lanze als Objekt vermeintlich unbesiegbarer Macht geht weiter: Seit den 1970er-Jahren erschien eine Fülle an populärkulturellen Werken in den Genres Buch, Comic und Film, die immer wieder den Aufstieg des Nationalsozialismus auf den Besitz der Lanze zurückführen oder gar die Dystopie einer neuen Schreckensherrschaft mithilfe der Lanze entwerfen.

So unterhaltsam manche dieser Produktionen auch sind – ihre Deutung der Lanze als magisches Objekt der Macht verlässt den Boden christlicher Legendenbildung, auf dem sich die Kaiser des Mittelalters bewegen. Während letztere sich als christliche Herrscher verstehen, die sich durch diesen Gegenstand aus der Passion Christi in besonderer Weise gestärkt sahen, wird die Lanze in der modernen Deutung zu einer völlig amoralischen, gefährlichen Geheimwaffe.

In der Passionsgeschichte geht es aber darum, die Entscheidungen und Handlungen darzustellen, die zu Leid und Tod eines Menschen führen. Die Lanze ist wie die anderen Objekte der Passion eine Mahnung, wohin gewissenloses Machtstreben oder auch nur passives Zusehen führen können, keine magische Entschuldigung dafür, dass damals wie heute Böses getan wird.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Picturedesk.com

DIENSTAG | TEIL 3

Die gescheiterte Hoffnung

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Man kennt die Boote. Im Hafen der Insel Lampedusa türmen sie sich zu bunten Bergen, zu Sinnbildern gescheiterter Hoffnung. Gebaut für Fischer, die in Küstennähe ihrem Geschäft nachgehen, sind sie nicht für die Überquerung des Mittelmeers geeignet. Viele, die es trotzdem versuchen, ertrinken auf dem Weg nach Europa. Im Hinterland Lampedusas pferchen überforderte Behörden die Überlebenden in Lagern zusammen; Bis ihnen abermals die Flucht gelingt oder sie weiter nach Norden gebracht werden.

Die Szene, die Marco Longari in Jreida nördlich der Hauptstadt Nouakchott an der Küste Mauretaniens festgehalten hat, erzählt eine andere Geschichte. Eines der traditionellen, bunt bemalten Fischerboote war in Not geraten. Freunde und Bekannte des Fischers helfen ihm, das havarierte Schiff mit langen Seilen an Land zu ziehen. Ein Sinnbild für selbstverständliche dörfliche Solidarität. Für das riskante Geschäft mit Fluchtversuchen über das Meer liegt das Land, das südlich von Marokko und im Norden der Republik Senegal an den Atlantik stößt, zu weit von Europa entfernt.

Das Bild weckt Erinnerungen an biblische Szenen. Fischer waren es, die Jesus zuerst gefolgt sind. Ihrer Lebens- und Arbeitswelt entlehnte er viele seiner Bilder und Vergleiche. Auch die bedrohliche Analogie zwischen den zur Mission ausgesandten Aposteln und ihrem früheren Beruf gehört dazu. Das Wort Menschenfischer ruft Assoziationen an Zwangsbekehrungen wach, nicht an freundliche Überzeugungsarbeit.

Auch an den Sturm auf dem See Genezareth, dessen Abbild in vielen Kirchen die Wände schmückt, erinnert das Foto. Auf den kleinen Booten können schon schwache Stürme erfahrenen Fischern Todesangst einjagen. In der Wallfahrtskirche Maria Saal zeigt Herbert Boeckels Fresko, wie Petrus, ausgestattet mit den Zügen Lenins, knapp vor dem rettenden Boot in den Fluten versinkt. Zum Überqueren des Wassers hat ihm die Glaubenskraft gefehlt. 

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Geißel: Bluten für das eigene Heil

Darauf nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln.
Joh 19,1

Von Theresia Heimerl

Die Geißel ist als einziges der Leidenswerkzeuge bis heute in Gebrauch. In mehreren Ländern der Welt werden regelmäßig (vermeintliche) Verbrecher für ihre Vergehen mit Geißel- oder Peitschenhieben bestraft. Die Spuren, die ein solches Instrument am menschlichen Körper hinterlässt, können mit Schaudern nicht nur auf Gemälden der christlichen Kunst bestaunt, sondern auf Videoplattformen mitangesehen werden. Die Geißel ist ein erschreckend simples, zweckmäßiges Objekt: Ein Stock, an dem mehrere Lederriemen befestigt sind, in der römischen Variante mit Bleikugeln, Knochensplittern oder Metallteilen am Ende verschärft.

Es gibt keine erhaltene Reliquie, die den Anspruch stellen würde, jene Geißel zu sein, die das Fleisch Jesu am Karfreitag aufgerissen hat. Erst mehrere Jahrhunderte später tauchen Erzählungen von einer Säule auf, an die Jesus mutmaßlich gebunden war. Und auch wenn eine solche in den Evangelien keine Erwähnung findet, werden Teile dieser Geißelsäule heute in der Grabeskirche und in der Basilika Santa Prassede in Rom aufbewahrt.

Anders als das Kreuz wurde die Geißel auch innerhalb der jüdischen Gemeinde zur Zeit Jesu zur Bestrafung von religiösen Vergehen verwendet. So werden etwa die Apostel in den Anfängen ihrer Verkündigung gegeißelt, bevor man ihnen verbietet, weiter im Namen Jesu zu predigen. Die Geißel ist im Verständnis der Antike, aber auch jener gegenwärtigen Rechtssysteme, die ihren Einsatz vorsehen, ein Objekt des Korrektivs. So wird sie auch von den ersten christlichen Kaisern der Spätantike noch eingesetzt. Geißelung ist die Strafe für Häresie, Götzendienst und Sexualdelikte. Die Geißel schreibt die Strafe buchstäblich zur bleibenden Erinnerung auf den Leib, sie erinnert den Gegeißelten über den aktuellen Vollzug der Strafe hinaus an sein Vergehen.

Dort aber, wo das vermeintliche Vergehen sich als freiwilliges Selbstopfer und Heilstat erweist, wie bei Jesus, wird aus der erzwungenen Erinnerung des Delinquenten eine Erinnerung für die Gläubigen: Die zahlreichen Darstellungen dieser schmerzhaften, entwürdigenden Szene in der christlichen Kunstgeschichte eröffnen in ihrer oft ultrarealistischen Drastik die Möglichkeit zur compassio, zum Mitleiden. Der blutüberströmte Körper Jesu, nur mehr von Fesseln aufrecht an einer Säule gehalten, wie ihn ein unbekannter Meister der Freisinger Passion Ende des 15. Jahrhunderts darstellt, lässt den Betrachter die Schläge der Geißel, die Wunden unwillkürlich fast selbst fühlen und vergegenwärtigt das Leiden Jesu hautnah.

Die doppelte Funktion der Geißel als Objekt der Strafe und des Mitleidens erfährt im Mittelalter eine vielfältige, eigenständige Ausgestaltung. Bereits die ersten Mönchsregeln, wie jene der heiligen Benedikt oder Kolumban, überliefern die Geißel als „disciplina“. Diese ist nicht mehr einfach Strafe, sondern Teil einer strengen klösterlichen Ordnung, der sich Körper und Geist unterwerfen.

Im 8. Jahrhundert fallen erstmals geißelnder und gegeißelter Körper zusammen, wenn berichtet wird, der Heilige Pardulf habe sich selbst als Vollzug einer Buße mit der Geißel geschlagen. Die Geißel wird so zu einem Objekt, das dem Leiden unter der eigenen Sünde Ausdruck verleiht. Wir stehen heute derartigen Praktiken oft skeptisch gegenüber, ja sehen in ihnen den Ausdruck von religiösem Masochismus.

Für die Menschen des Mittelalters waren Glaubensvollzüge aber immer eine Sache des ganzen Menschen und der Körper wesentliches Element der Sünde wie der Heilserfahrung. Die Hand mit der Geißel gegen den eigenen Körper zu führen, war in dieser Weltdeutung eine Form der Selbstermächtigung, die höchst individuelle Buße zur Wiederherstellung der Beziehung zu Gott ermöglichte. So wie man die Leidenswerkzeuge Jesu zu seinen Waffen (arma Christi) umdeutet, erhält die Geißel im Vollzug der Selbstgeißelung eine Bedeutung als Instrument des eigenen Heils.

Was lange Zeit individuell in den Klosterzellen vollzogen wurde, gelangte erstmals im Jahr 1260 in die Öffentlichkeit der Städte.  In Italien zogen Männer jeden Alters mit Fahnen und brennenden Kerzen von Stadt zu Stadt, stellten sich vor der Kirche auf und geißelten sich stundenlang. Die Bewegung der Geißler, auch nach dem lateinischen Begriff für dieses Instrument (flagellum) als Flagellanten bekannt, trat in den folgenden Jahrzehnten in Italien, Frankreich und dem deutschen Sprachraum auf.  Ihren zahlenmäßigen Höhepunkt erreichte die Geißlerbewegung in den Jahren 1348/49, ihre streng ritualisierte öffentliche Selbstgeißelung war zeitgenössischen Quellen zufolge ein ebenso beeindruckendes wie verstörendes Schauspiel.

Die Absicht der Geißler führt wieder zurück in die Anfänge des klösterlichen Gebrauchs der Geißel als Objekt der Buße: Sie meinten, durch ihre öffentlich vollzogene Buße die Verdammnis beim Weltgericht abwenden zu können, das sie angesichts von Pest, Kriegen und Hungersnöten als unmittelbar bevorstehend erachteten.

Einen letzten Schritt von der Geißel als Instrument der Buße zum Mittel der Annäherung an Christus geht der Mystiker Heinrich Seuse im 14. Jahrhundert: Auch er geißelt sich zunächst allabendlich in seiner Zelle im Dominikanerkloster in Konstanz am Bodensee zur Buße für allfällige Sünden und um die disciplina des Körpers zu erhöhen.

Doch was ihn zu immer größeren Exzessen mit seiner von ihm selbst mit spitzen Nägeln in ihrer Wirkung noch verstärkten Geißel treibt, ist der Wunsch, dem blutig gegeißelten Jesus der Passionserzählung ähnlich, ja gleich zu werden: „Als er so blutend dastand und sich selbst ansah, war das der jämmerlichste Anblick, er bot denselben Anblick wie damals, als man den geliebten Christus so schrecklich geißelte.“ So beschreibt sich der Mystiker selbst und hat damit sein Ziel der unio, der mystischen Einheit mit Christus durch den buchstäblichen Nachvollzug der compassio, des Mitleidens erreicht.

Seuse bekennt später in seiner Vita, dass diese Suche nach Gottesnähe im selbst zugefügten Schmerz ein Irrweg war. Fortan, so lässt er Christus in einem Zwiegespräch sagen, sollen ihm das Leiden und das Böse, das er von anderen Menschen erfährt, die Verleumdungen, Verurteilungen und Ablehnungen Geißel genug sein. Mit dieser Erkenntnis führt Seuse zugleich zurück in die Passionsgeschichte, die zeigt, was Menschen einem Menschen antun, und eröffnet damit den Weg zu einer neuen Deutung dieses Objekts der Passion für zukünftige christliche Generationen.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, APA/Helmut Fohringer

MONTAG | TEIL 2

Die schwarze Madonna von Matera

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt“, schreibt Carlo Levi in seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“. Es waren die Lebensumstände der Bewohner der Felsenstadt Matera, die den von Mussolini nach Süditalien verbannten Schriftsteller so schockiert haben. Seit der Steinzeit lebten Familien in diesen düsteren Wohnhöhlen, den sogenannten „Sassi“.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gingen Regierungen daran, die Menschen aus dieser „Schande Italiens“, wie KPI-Chef Palmiero Togliatti die Behausungen nannte, in Neubauten umzusiedeln. Nicht alle gingen freiwillig. Die Sassi stiegen zur Touristenattraktion auf. Wer will, kann heute nobel ausgestattete Grotten als Ferienunterkunft buchen. In den sechziger Jahren entdeckte Pier Paolo Pasolini die ruinöse Höhlenstadt als Kulisse für seinen Jesus-Film „Il Vangelo secondo Matteo“. 2004 verlegte Mel Gibson Jerusalem für „The Passion of the Christ“ hierher. Pasolinis Jesus-Darsteller spielte als alter Mann bei Gibson Johannes den Täufer.

Auch Milo Rau siedelt „Das Neue Evangelium“ in Matera an. Die zur Kulturhauptstadt 2019 gekürte Stadt hatte ihn auf die Idee zu dem Film gebracht. Raus Hauptdarsteller sind Flüchtlinge, die in den Plantagen der Umgebung zu Schandlöhnen ausgenützt wurden und werden.

Vor der Kulisse der biblisch aufgeladenen Felsenstadt lässt Marco Longari 2019 Absa Tall für seine vieldeutige Hommage an die Kulturhauptstadt posieren. Talls Familie ist aus dem Senegal geflohen. Ihr Kleid hat Ibrahim Savane geschneidert. Der Modedesigner ist aus Cote d’Ivoire, der Elfenbeinküste, als politischer Flüchtling nach Italien gekommen. Savane arbeitet für „The Silent Academy“, eine Organisation, die Flüchtlinge in Italien ihren Fähigkeiten gemäß einzusetzen versucht. Das Kostüm entstand für das Fest der „Madonna della Bruna“, der dunkelhäutigen Madonna und Schutzpatronin der Stadt. Auch eine Geschichte von Flucht und Ankunft.

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Silberlinge: Der bittere Preis des Verrats

Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohepriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie boten ihm dreißig Silberstücke. Von da an suchte er nach einer Gelegenheit, ihn auszuliefern.
Mt 26,14-16

Von Theresia Heimerl

Im Jahr 2009 warf bei der Weltklimakonferenz ein Vertreter des vom steigenden Meeresspiegel bedrohten Inselstaates Tuvalu den Verfassern des Abschlussdokuments vor: „Es sieht so aus, als würden uns 30 Silberstücke angeboten, um unser Volk und unsere Zukunft zu verraten … unsere Zukunft ist nicht zu verkaufen.“ Die 30 Silberlinge aus der christlichen Passionsgeschichte sind bis heute ein Symbol für unentschuldbaren Verrat und menschliche Käuflichkeit zum Schaden eines anderen. Wohl jedem fallen aus dem politischen oder wirtschaftlichen Kontext Beispiele ein, in denen solche 30 Silberlinge den Besitzer wechselten.

Liest man die Leidensgeschichte Jesu chronologisch, sind sie das erste Objekt der Passion. Folgt man der Erzählung bei Matthäus, geht Judas irgendwann am Dienstag oder Mittwoch der Karwoche zu den Hohenpriestern, um Jesus für entsprechende finanzielle Gegenleistung zu verraten. Etwas so Banales, Weltliches wie Geld setzt das heilsgeschichtliche Drama in Gang.

Wie viel war das Leben Jesu für einen Mann des ersten Jahrhunderts wert? Die Schätzungen der Historiker für diese tyrischen Schekel, um die es sich bei den argyria im griechischen Originaltext wohl gehandelt hat, bewegen sich rund um die 10.000 Euro. Ein Kleinwagen ginge sich damit heute aus, damals ein Esel, oder ein größerer Acker. Für letzteren werden die Silbermünzen dann schließlich auch verwendet. Nachdem Judas sie voll Reue dem Hohen Rat zurückgegeben hat, wird damit ein Feld als Bestattungsort für Fremde angeschafft, das als Blutacker überliefert ist.

Die 30 Silberlinge finden sich ab dem Spätmittelalter immer wieder in Darstellungen der Folterwerkzeuge Jesu. Zumeist als Geldbeutel abgebildet, wirken sie auf den ersten Blick sehr harmlos unter all den scharfen und spitzen anderen Objekten, an denen buchstäblich noch das Blut klebt. Doch die Botschaft ist unmissverständlich: Geld tötet, es ist oft genug die Voraussetzung dafür, dass es zu Gewalt, Folter und Tod kommt.

Die 30 Silberlinge sind noch auf eine andere Weise mit Verrat und Gewalt verbunden: Bis in das 21. Jahrhundert hinein sind sie in Text und Bild ein unschwer zu dechiffrierendes Symbol für Antijudaismus und Antisemitismus. Das Bild des Juden, der für Geld seine Überzeugung und seine Freunde verrät, wird zum folgenreichen Klischee. Ob in Glasfenstern wie jenen des Kölner Domes oder auf Gemälden wie dem Altarbild in der Kirche Frati Minori in Genua von Joos van Cleves aus dem frühen 16. Jahrhundert: Immer ist Judas an dem Beutel mit den 30 Silberlingen erkennbar, sollten ihn die Betrachter nicht ohnehin an seinen Gesichtszügen identifiziert haben, die deutlich von den idealen christlichen Helden und Heiligen ringsum abweichen.

Die 30 Silberlinge des Judas begründen in der christlichen Überlieferung jene Verbindung von Judentum und Geldgier, die eine Geschichte der Ausgrenzung, Vertreibung und Morde nach sich zieht, beginnend mit den Pogromen in rheinischen Städten während des ersten Kreuzzugs. Die Tat des Judas eröffnet die Möglichkeit, jede Form von monetärer Korruption auf die Juden zu projizieren und so die eigene Käuflichkeit in den Reihen weltlicher und geistlicher Herrscher zu verschleiern.

Die 30 Silberlinge sind längst zu einem symbolischen Objekt geworden, an dem nicht nur das Blut des Juden Jesus, sondern unzähliger Juden der letzten 2000 Jahre klebt. So wird rund 1900 Jahre nach den im Matthäusevangelium erzählten Geschehnissen ein französischer Offizier jüdischer Herkunft, Alfred Dreyfus, öffentlich zu Unrecht zum Judas erklärt, der militärische Geheimnisse und seine Heimat für 30 Silberlinge an den Feind Deutschland verkauft hätte. Und selbst heute, Jahrzehnte nach der Ermordung von Millionen Juden durch das nationalsozialistische Regime, ist das Internet voll von Verschwörungstheorien, in denen es um die vermeintliche jüdische Geldgier und Bereitschaft zum Verrat geht, codiert als 30 Silberlinge.

Die bittere Pointe dabei ist: Dem Judas der Passionsgeschichte geht es überhaupt nicht um das Geld. Er verrät nicht seine Überzeugung für einen Esel oder ein Auto, sondern er ist vom Handeln Jesu enttäuscht, das ihm zu wenig konsequent erscheint. Die Theologie hat sich mit der Tat des Judas herumgeplagt, in ihrer Interpretation schwankend zwischen einer Inkarnation des Bösen und einem Erfüllungsgehilfen des göttlichen Heilsplanes.

Geblieben ist mit den 30 Silberlingen ein griffiges Bild für das problematische Verhältnis von Religion und Geld: Es ist nicht so eindeutig Werkzeug des Bösen wie die anderen Folterwerkzeuge der Leidensgeschichte Christi. Es lässt sich daher auch nicht so klar umdeuten wie etwa die Dornenkrone oder die Geißel, die im Mittelalter zu arma Christi (Waffen Christi) werden. Auch wenn im Mittelalter Münzen als jene 30 Silberlinge des Judas kursierten, wurden sie nie in großem Stil als Reliquien verehrt und sind auch nicht als solche erhalten geblieben.

Ein Synonym für die 30 Silberlinge im Matthäusevangelium ist indes bis heute in Wort und Tat allzu weit verbreitet: Blutgeld. Als solches können es die Hohepriester nicht mehr in den Tempelschatz tun, denn es ist timê haimatos, der Preis des Blutes, im Deutschen heute mit „denn es klebt Blut daran“ übersetzt. Blutgeld zahlen kriminelle Organisationen an von ihnen gedungene Mörder für ihre Tat, oder aber an die Hinterbliebenen der Ermordeten, um deren Schweigen zu erkaufen. Blutgeld wird den Familien der in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten vom Staat gezahlt. Blutgeld zahlten und zahlen Pharmafirmen den Angehörigen von Opfern ihrer Testreihen in armen Ländern dieser Welt.

Die 30 Silberlinge sind bis heute ein einzigartiges Objekt der Passion: Es verbindet das Leiden dessen, der dafür verkauft wird, mit dem Schicksal dessen, der es entgegennimmt und erst ab diesem Moment erfährt, dass er auch sich selbst und sein Glück verkauft hat. Wie aktuell diese Erkenntnis nach 2000 Jahren noch ist, zeigt der eingangs zitierte Vorwurf des verzweifelten Repräsentanten von Tuvalu: Die 30 Silberlinge der Weltklimakonferenz verraten nicht nur die Menschen des kleinen Inselstaates, ihr Untergang wird auch jene in Unglück stürzen, die sich damit für eine kurze Zeit von ihrer Verantwortung freigekauft haben.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Picturedesk.com

PALMSONNTAG | TEIL 1

Auf dem Rücken des Esels

Foto: AFP/Marco Longari

Foto: AFP/Marco Longari

Von Thomas Götz

Es muss schrecklich sein, alles im Voraus zu wissen. Dass im nächsten Dorf ein Esel angebunden sein würde, den seine Anhänger ungefragt nehmen und ihrem Meister bringen sollten, gehört zu den harmlosen Vorahnungen Jesu. Auf dem Rücken des unscheinbaren Tiers, auf dem vor ihm noch kein Mensch gesessen war, wie der Evangelist betont, wollte Jesus in Jerusalem einziehen.

Propheten hatten es so vorhergesagt, die Schrift sollte erfüllt werden: „Fürchte dich nicht, Tochter Zion, siehe, dein König kommt, sitzend auf einem Füllen einer Eselin.“ Über das, was ihm in Jerusalem drohte, machte sich Jesus keine Illusionen. Der Esel in Marco Longaris Foto, der gelassen vor einem Olivenbaum zu posieren scheint, steht in Südafrika. Seine Geschichte ist nicht mit biblischer Bedeutung aufgeladen. Esel sind in Afrika akut bedroht. Fünf Millionen der Grautiere, so schätzt man, werden jedes Jahr in China zu „Ejiao“ verarbeitet, einem Heilmittel der traditionellen Chinesischen Medizin. Ihr Fell wird gekocht und die gelatineartige Masse in die Form handelbarer Tafeln gepresst. Der enorme Bedarf kann nur zum geringeren Teil im Land selbst gedeckt werden. So durchkämmen Händler und Schmuggler Afrika auf der Suche nach den begehrten Häuten. Weil aber südafrikanische Bauern ihre Tragtiere nicht verkaufen wollten, holten Diebe sie einfach bei Nacht. Mancher Besitzer fand den gehäuteten Kadaver seines Esels später verwest auf dem Acker. Zu Geld machen lässt sich schließlich nur das Fell.

Der Preis für die Nutztiere, die in der Landwirtschaft Südafrikas eine wichtige Rolle spielen, hat sich seither vervielfacht. In China sollen für ein Tier gar 1000 Dollar bezahlt werden, schreibt die FAZ. Ausgelöst hat die Gier nach „Ejiao“ die chinesische Fernsehserie „Empresses in the Palace“. Die Filme liefen 2011 an und riefen dem Publikum das angebliche „Wundermittel“ wieder in Erinnerung. Es verspricht Heilung auf dem Rücken der Esel. 

DIE PASSION IN 7 OBJEKTEN

Dornenkrone: Die dornige Macht der Ohnmacht

Da nahmen die Soldaten des Statthalters Jesus, führten ihn in das Prätorium und versammelten die ganze Kohorte um ihn. Sie zogen ihn aus und legten ihm einen purpurroten Mantel um. Dann flochten sie einen Kranz aus Dornen; den setzten sie ihm auf das Haupt und gaben ihm einen Stock in die rechte Hand. Sie fielen vor ihm auf die Knie und verhöhnten ihn, indem sie riefen: Sei gegrüßt, König der Juden! Und sie spuckten ihn an, nahmen ihm den Stock wieder weg und schlugen damit auf seinen Kopf.
Mt 27,27-30

Von Theresia Heimerl

Selbst innerhalb der christlichen Passionsgeschichte, die kein schönes Bild des Menschen zeichnet, macht diese Passage in ihrer Grausamkeit und Niedertracht betroffen. Ein zum Tod Verurteilter wird nicht einfach misshandelt, das Folterwerkzeug der Dornenkrone stellt zugleich den Tiefpunkt bösartiger gesellschaftlicher und psychischer Erniedrigung dar. Es sagt viel über die Deutungsmacht des Christentums aus, dass es diese Szene nicht gelöscht hat, sondern den Gegenstand der Demütigung und des Schmerzes zu einem der einprägsamsten ikonischen Objekte und der kostbarsten Reliquien hat werden lassen.

Wer den Spott und die Gemeinheit der Dornenkrone verstehen will, muss am heutigen Palmsonntag beginnen: Wenn Jesus auf einem Esel in Jerusalem einzieht und ihm die Menschen mit Palmwedeln zujubeln, dann ist er für viele zumindest kurzfristig der ersehnte „König der Juden“, der die römischen Besatzer davonjagen und eine glorreiche Herrschaft errichten wird. Die Inszenierung der römischen Soldaten keine Woche später ist doppelt boshaft: Sie macht die Hoffnungen der jüdischen Bevölkerung zunichte, indem sie ihren vermeintlichen König mit einer blutigen Imitation der Herrschaftsinsignien lächerlich macht. Zugleich verspotten die Soldaten mit dieser „Krönung“ zum König der Juden Jesus auch ganz persönlich: Schau dich an, du bist der König dieser Leute, die dich verraten haben.

Der Kranz aus Dornen erinnert die Zeitgenossen Jesu und die ersten christlichen Leser an den Lorbeerkranz erfolgreicher römischer Feldherren, die schmerzenden Dornen erinnern an das klägliche Scheitern eines Traumes von Herrschaft. Die Dornenkrone ist mehr als ein simples Folterwerkzeug, sie steht für eine grausame Parodie von Macht und Herrschaft, in diesem simplen Gegenstand wird die Umkehrung von der Macht zur Ohnmacht, von der Herrschaft zum Ausgeliefertsein fassbar.  

Die Ambivalenz dieses Objektes begleitet das Christentum bis in die Gegenwart. Schon die frühen theologischen Deutungen der ersten Jahrhunderte schwanken zwischen einer Betonung des Leidens, das Jesus an Körper und Seele für die Menschen auf sich genommen hat, und einer paradoxen Umdeutung der Dornenkrone zu einem Zeichen der wahren Königsherrschaft: Was die römischen Soldaten als Schmach und Folter gemeint haben, enthüllt denen, die es richtig zu lesen verstehen, die Überlegenheit des Folteropfers.

Die Dornenkrone ist keine gewöhnliche goldene Krone, sondern eine einzigartige Krone, die Jesus als himmlischen Herrscher ausweist, der durch seine göttliche Souveränität einen Stab in ein Szepter und stechende Dornen in eine Königskrone zu verwandeln vermag. Aus Ohnmacht wird in dieser Deutung wieder eine neue Form von Macht, aus scheinbarer Unterlegenheit entsteht durch die eigenständige Umdeutung eine neue, größere Souveränität.

Es ist dieser souveräne König, der seine Dornenkrone trägt wie eine aus Gold, scheinbar schmerz- und mühelos, der uns bereits auf einem christlichen Sarkophag auf dem Friedhof der Domitilla an der Via Ardeatina nahe Rom aus der Mitte des 4. Jahrhundert begegnet: Entgegen der Erzählung im Matthäusevangelium ist Jesus hier in eine römische Toga gekleidet, die Haare sind kunstvoll in Locken gelegt, sein Blick entschlossen unbewegt, während ihm ein römischer Soldat ehrerbietig die Dornenkrone auf den Kopf setzt. Das einstige Folterinstrument ist in der Darstellung kaum mehr von einem edlen Diadem zu unterscheiden.

Auch in der Buchmalerei des Frühmittelalters und an der Pala d’oro, dem Goldaltar im Aachener Dom, dominiert diese Art der königlichen Dornenkrone, die aus einer Parodie in erniedrigender Absicht wieder eine Königskrönung macht. Es darf daher nicht verwundern, dass die bekannteste Reliquie des biblischen Dornenkranzes auf den heutigen Betrachter nicht wie eine schmerzhafte Naturalie wirkt, sondern wie ein äußerst kostbarer Goldreif mit Edelsteinschmuck, in dem erst bei genauerem Hinsehen noch der pflanzliche Ursprung des so eingefassten Objekts sichtbar wird.

Ausgerechnet die Dornenkrone, in der doch die Hinfälligkeit, ja Lächerlichkeit irdischer Herrschaft so deutlich wird, faszinierte mittelalterliche Kronenträger: Der französische König Ludwig IX., genannt der Heilige, kaufte sie dem lateinischen Kaiser von Konstantinopel, Balduin II., im Jahr 1238 um sehr viel Geld ab und machte sie zu einem zentralen Gegenstand frommer Verehrung in der unter ihm errichteten Sainte-Chapelle in Paris. Auch an anderen Orten, wie etwa im bayerischen Kloster Andechs, werden noch Zweige oder einzelne Dornen als Teile des Dornenkranzes Jesu aufbewahrt.

Und doch bleiben hinter all dem Goldglanz der Schmerz, das Blut und das Gefühl der Erniedrigung durch grundlose menschliche Niedertracht in den Gedanken der Gläubigen lebendig und brechen sich in ausdrucksstarken, ja extremen Darstellungen im Spätmittelalter Bahn. Wer die Malerei von Jörg Breu dem Älteren am Melker Altar aus 1502 betrachtet, wähnt sich in einem jener Folterbilder aus Abu Ghraib, die 2004 die Öffentlichkeit schockierten: Drei Schergen drücken die Krone mit den überlangen, spitzen Dornen mit zwei Stäben brutal auf den Kopf, während ein dritter mit einem Hocker auf das Opfer einprügeln will.

Dieses und andere Bilder und Skulpturen aus den folgenden Jahrhunderten gehören zum Einprägsamsten, was die christliche Kunst zu bieten hat, sie zoomen gleichsam das Leiden unter dem Blut, Spott und Schmerz der Dornenkrone ganz nah heran, machen uns unwillkürlich zu Mitleidenden.

Die Dornenkrone ist ein bis heute vielfach künstlerisch überformtes Objekt der christlichen Passion, nicht selten wird sie, wie in den mittelalterlichen Reliquiaren, von ihrem Träger gelöst präsentiert, oder schneidet als Stacheldraht in das blutige Haupt. Ihre Mehrdeutigkeit, die den Raum zum Nachdenken über königliche Macht und menschliche Ohnmacht eröffnet, beschäftigt uns bis heute.

Zur Autorin

Theresia Heimerl, geboren 1971 in Linz, ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz.

Fotos: LELJAK/UNI GRAZ, Adobe Stock