Reportage von der Nordsee
Der Wind des
Wandels
REPORTAGE. Eine Nordsee-Visite bei Ørsted, dem weltgrößten Entwickler von Offshore-Windparks, zeigt eindrucksvoll, wie endlose, grüne Energie in der Luft liegt – und dabei eine wichtige Rolle auf Deutschlands Weg zur Energiewende spielt.
Von Thomas Golser
Der Wind, der Wind, das elektrische Kind: Diese Abwandlung des Grimm‘schen Zitats schießt dem Autor ein, als von Bremen kommend in Niedersachsen unterwegs ist und Linien aus mächtigen, zum Land gehörenden Windrädern bestaunt. Böen sind sogar im Auto spürbar – Ziel ist Norddeich, Teil der Stadt Norden, im äußersten Nordwesten Deutschlands.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es an Nordsee, wo vor der deutschen Küste Strom aus Windkraft gewonnen wird.
Im 84,4 Millionen Einwohner zählenden Deutschland wurden im Jahr 2023 515 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt, etwas mehr als die Hälfte aus erneuerbaren Energien. 27 Prozent des erzeugten Stroms stammte aus Windkraft.
In deutschen Nordseegewässern gibt es bereits einige bestehende Offshore-Windparks sowie weitere beantragte, genehmigte oder im Bau befindliche Windparks. Insgesamt waren Ende 2023 vor den deutschen Küsten – neben der Nord- auch in der Ostsee – 29 Offshore-Windparks mit 1566 Windkraftanlagen vollständig in Betrieb.
Die Stadt Norden direkt an der Küste ist eine der ältesten Städte Ostfrieslands. Der Tourismus ist hier ein wichtiger Wirtschaftszweig.
Wir sind unterwegs im Norder Stadtteil Norddeich, seit 1979 „staatlich anerkanntes Nordseebad“.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es an Nordsee, wo vor der deutschen Küste Strom aus Windkraft gewonnen wird.
Im 84,4 Millionen Einwohner zählenden Deutschland wurden im Jahr 2023 515 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt, etwas mehr als die Hälfte aus erneuerbaren Energien. 27 Prozent des erzeugten Stroms stammte aus Windkraft.
In deutschen Nordseegewässern gibt es bereits einige bestehende Offshore-Windparks sowie weitere beantragte, genehmigte oder im Bau befindliche Windparks. Insgesamt waren Ende 2023 vor den deutschen Küsten – neben der Nord- auch in der Ostsee – 29 Offshore-Windparks mit 1566 Windkraftanlagen vollständig in Betrieb.
Die Stadt Norden direkt an der Küste ist eine der ältesten Städte Ostfrieslands. Der Tourismus ist hier ein wichtiger Wirtschaftszweig.
Wir sind unterwegs im Norder Stadtteil Norddeich, seit 1979 „staatlich anerkanntes Nordseebad“.
Vor allem aber ist in Norddeich auch die Betriebsführungszentrale von Ørsted Deutschland, das seit 2013 Offshore-Windenergie erzeugt. 50 bis 70 Kilometer auf offener See und vom Ufer aus praktisch kaum noch zu erkennen, wird dem Wind die Schneid abgekauft: mit wesentlicher höherer Ausbeute als an Land und sich automatisch in den Wind drehenden Windturbinen. Eine Antithese zur fatalen Abhängigkeit von fossiler Energie: Ørsted liefert grünen Strom für 1,4 Millionen Haushalte – 2,5 Millionen sollen es 2025 sein (als Vergleich: Wien hat zwei Millionen Einwohner).
An 360 Tagen im Jahr läuft das „Werkl“, Wind ist allgegenwärtig: pure Energie, frei verfügbar, niemals versiegend.
In der deutschen Nordsee hat das Unternehmen mit dänischen Wurzeln vier Offshore-Windparks errichtet bzw. in Betrieb: Borkum Riffgrund 1 und 2 sowie Gode Wind 1 und 2. Gearbeitet wird im Grunde mit der magnetischen Wirkung des elektrischen Stroms, wie ihn der dänische Physiker Hans Christian Ørsted 1820 entdeckte.
Zwei weitere Projekte sind im Bau: Borkum Riffgrund 3 soll im nächsten Jahr in Betrieb gehen – Gode Wind 3 lieferte Tags zuvor über die 232. Offshore-Anlage erstmals Strom, wie Ørsted-Sprecher Steffen Kück in Norddeich mit breitem Lächeln verkündet: „Wir sind auf den Netzbetreiber – Tennet – angewiesen, um unseren Strom auch einspeisen zu können, aber es läuft!“, erklärt der sympathische Mittdreißiger, optisch ganz der norddeutsche Typ.
Kostenpunkt für einen Windpark? „Eine Milliarde, sehr grob gerechnet“, sagt Kück, um gleich zu ergänzen, dass man nicht mehr auf Subventionen angewiesen sei. Die Windbranche muss und kann sich selbst tragen, sagen auch Energieexperten. Mit Abstand am meisten Offshore-Windenergie wird in Europa in Großbritannien erzeugt, dahinter folgt bereits Deutschland. Was die installierte Gesamtleistung (also auch jene von Windparks zu Land) betrifft, ist Österreichs wichtigstes Nachbarland ohnehin federführend.
„Ørsted glaubt an eine Welt, die vollständig auf grüne Energie setzt“, bringt Kück das Motto des Energieunternehmens an – ein Slogan natürlich, aber einer mit mehr Dringlichkeit denn je.
Er selbst ist seit acht Jahren „dabei“ – ist der Offshore-Energieerzeuger wichtiger Teil der von Deutschlands Regierung oft propagierten Energiewende? „Ja, das würden wir uns so auf die Fahne schreiben“, sagt der Bremer nicht ohne Stolz. Ein nicht ganz unproblematisches Jahr 2023, das von zwei geplatzten Projekten in den USA gezeichnet war, ist indes abgehakt. Kurs: voran.
Erklärtes Ziel des noch zu 51 Prozent in dänischem Staatseigentum befindlichen Unternehmens ist es, bis 2030 weltweit eine Offshore-Windkapazität von 20 bis 22 Gigawatt zu installieren. Die neuesten Turbinen kommen auf 11 Megawatt, pro Stück, wohlgemerkt. Die äußeren Dimensionen sind mehr als beeindruckend: Die neuesten Windkraftanlagen gehören mit einem Rotordurchmesser von 200 Metern zu den größten der Welt. Auch all die anderen Komponenten – etwa die Fundamente („Monopiles“) – sind komplex und von enormen Dimensionen.
Besonders wichtig ist Ørsted Wertschöpfung in Deutschland – und bei Bedarf in anderen europäischen Ländern, wie Projektmanager Dennis Bormann betont: Siemens Gamesa ist Partner für die riesigen Turbinen, die mächtigen Unterseestromkabel, die es braucht, liefert ein italienischer Anbieter.
Norddeich-Betriebsleiter Thijs Schless, ein hemdsärmeliger 38-Jähriger, stößt dazu und führt aus, warum Windkraft auch für ihn Gegenwart und Zukunft ist: „Ich bin einen Monat vor dem Reaktorunfall von Tschernobyl geboren. Irgendwie bestand immer eine indirekte Verbindung zur Atomkraft, aber im negativen Sinne. Ich komme aus dem Landkreis Aurich, also einer Region, die sehr von Windkraft geprägt ist. Niedersachsen ist das Bundesland, das die höchste Windproduktion in ganz Deutschland hat“, sagt Schless. Um grinsend zu ergänzen: „Auch, wenn sich Schleswig-Holstein mit uns um Platz eins streitet.“
„Ich war immer sehr interessiert am Betrieb und der Logistik dahinter. Der Transport von Windkraftanlagen ist eine spannende Sache: Ich habe diese an Land viele Jahre begleitet, schielte aber immer auch mit einem Auge auf die Offshore-Welt. Das, was auf dem Festland komplex ist, ist auf See noch viel komplizierter“, so Schless weiter. Genau das wird an der windigen Nordseeküste auch sehr schnell klar: Um Offshore-Windstrom zu erzeugen, braucht es im Grunde alle Elemente: Feuer für die Sache, geerdete Menschen, Expertise auf und im Wasser – und natürlich endlose Mengen verwertbarer Luft.
Die 60-köpfigen Trupps, die eigentlich permanent für Installation und Wartung der Windkraftanlagen mit dem eindrucksvollen Wartungsschiff „Wind Of Change“ unterwegs sind (dazu später mehr), sind hoch qualifiziert und hart im Nehmen. Bei einer Betriebsführung zeigt Schless unter anderem den Überlebensanzug, ohne den man in der Nordsee angesichts der eisigen Temperaturen und starken Strömungen sehr schnell verloren wäre.
Den Überblick zu bewahren, gilt es auch im Kontrollraum: Auf riesigen Monitoren beobachtet man rund um die Uhr jedes einzelne Windrad in der Nordsee, zudem Schiffe, die dem gesperrten Areal nahekommen. Dazu gilt es, Argusaugen auf die Wetterberichte zu halten und permanent mit den Ørsted-Teams in Kontakt zu bleiben. Die Zentrale in Norddeich gehört wie die Windparks selbst zu Deutschlands „kritischer Infrastruktur“, da wie dort gelten strengste Sicherheitsvorschriften.
Riesige Stahlrohre, schonend in den Meeresgrund gerammt
Zur Installation der Monopile-Fundamente – riesige Stahlrohre, auf die Turbinen und Rotorblätter kommen – werden diese auf ein Errichterschiff verladen, das zum ausgewählten Standort des Windparks fährt. Dort angekommen, fährt das Schiff „Beine“ aus, um sich so auf dem Meeresgrund (das Wasser darf nicht zu tief, der Boden muss passend sein) zu stabilisieren. Mit einem Kran an Bord werden dann die Fundamente ins Meer abgesenkt, wo sie ein Hydraulikhammer in den Boden rammt.
Werden unter Wasser Schallwellen erzeugt, wird es sehr laut. Um das umliegende Ökosystem zu schonen und negative Auswirkungen auf Meeressäuger und andere Arten so gering wie möglich zu halten, setzt man „Blasenschleier“ zur Lärmreduzierung ein: Der „Ohrstöpsel für Fische“ entsteht durch Druckluft – unter Wasser erzeugte Luftblasen dämpfen den Schall der Fundamentrammungen. Da Fischfang in Windparks untersagt ist, scheint sich Untersuchungen zufolge die Biodiversität im Vergleich zu befischten Gebieten sogar zu erholen.
„Wir sind das teure Taxi“
Nicht alles geht über den Seeweg: Ständig im Einsatz sind auch Helikopter – einer davon wird am Flugfeld Norden-Norddeich inspiziert. Das dreiköpfige, junge Team – Pilot Peter Wenter, Windenführer („Hoist Operator“) Arno Bretschneider und Stationsleiterin Sarah Kalkwarf – arbeitet für Helicopter Travel Munich (HTM) und im Auftrag von Ørsted: „Wir sind das teure Taxi!“, augenzwinkernd.
Mit dem „regulären“ Hubschrauber fliegt man fortlaufend Techniker zu den Windparks und wieder zurück, das Abseilen aus schwindelerregender Höhe (üblicherweise etwa 15 Meter, selbstverständlich bei abgeschalteten Windrad-Rotoren) ist präzises Teamwork, muss fortdauernd trainiert werden – von der fliegerischen Expertise ganz zu schweigen. Pilot Wenter betont: „Ich brauche vor Ort ein zweites Paar Augen, Arno muss mir durchgehend sagen, was unter uns passiert, während ich den Helikopter stabil halte.“ Windenergie, eine gute Sache und die Zukunft: „Wind ist unser bester Freund“, betont man. Bei Gefahr für Leib und Leben im Windpark steht außerdem noch ein speziell ausgestatteter Ambulanzhelikopter mit Notarzt und Sanitäter parat.
Dann unverhofft, aber äußerst willkommen, die Frage: „Wollen wir zusammen abheben? Gibt uns die Flugaufsicht grünes Licht, machen wir einen Schwenk über den Deich und dann zeigen wir dir, wie wir unseren Kollegen abseilen.“ Gesagt, angeschnallt, Kopfhörer aufgesetzt – und abgehoben. Ein wenig erinnert die Arbeit des Windenführers an Bergsteigen im Hochgebirge – doch man stelle sich vor, wie es sein muss, wenn man einen Menschen nicht auf ein Rollfeld, sondern inmitten der notorisch rauen Nordsee auf eine – letztlich winzige – Plattform abseilt.
Weiter zum Hafen von Emden, eine Stunde von Norddeich entfernt: Dort steht die „Wind of Change“ parat: Das 83 Meter lange Wartungsschiff ist das hochmoderne Werkzeug zu Wasser, mit Platz für eine Crew von 25 Personen und 60 Windparktechniker. Letztere können über eine hydraulisch stabilisierte Gangway direkt auf die Landeplattformen der Windparktürme gelangen. Zudem wurde ein passives „Anti-Roll“-System mit zwei Tanks installiert, um die Schiffsbewegungen zu reduzieren. Gemütlich ist die Arbeit deshalb beileibe nicht: Zwei Wochen am Stück ist man auf See – mehr wäre ob der Belastung nicht ratsam.
Schwindelfrei muss man sein –
und die raue See gilt es, zu ertragen
Auf der „Windea one“, einer kleineren Crew Transfer Vessel (CTV) im Hafen von Norddeich, die als Hybridschiff Personal sowie Bau- und Ersatzteile in kürzeren Einsätzen zu den Offshore-Windkraftanlagen bringt, sinniert der Autor mit Kapitän Viktor ausgiebig über das Thema Seekrankheit. Diese könne jeden „packen“. Im Extremfall auch ihn selbst, wie er auf der Brücke mit Blick auf das im Moment sehr ruhige Wasser sagt. Ehrlichkeit, großgeschrieben. Dass es in früheren Jahrhunderten auch Seekranke gab, die eher auf offenem Meer von Bord gingen, als weiter auf schwankenden Planken zu stehen, ist übrigens eher kein Seemannsgarn.
Österreich hat keine Nord- oder Ostsee, eine großteils andere geografische Struktur als Niedersachsen und vergleichsweise kaum Windräder – in mehreren Bundesländern steht nach wie vor kein einziges: In Deutschland gibt es laut Bundesverband für Windenergie (BWE) aktuell 30.243 Windräder, 1566 davon in der Nord- und Ostsee. Österreich kommt indes auf insgesamt 1426 Windkraftanlagen (Stand: 2023).
Eine große Frage bleibt angesichts der hierzulande recht enden wollenden Sympathien für Windräder: Wie arrangiert sich Deutschland mit den Energiefängern? Ørsted-Sprecher Steffen Kück: „Das Windrad, das in der Landschaft steht, ist schon ein Thema – auch in Niedersachsen, wo man mittlerweile grundsätzlich positiv gegenüber Windenergie eingestellt ist. Offshore-Winderzeugung ist vielleicht auch eine Antwort, um kritischen Stimmen entgegenzuwirken.“
Skepsis gab es auf den ostfriesischen Inseln Borkum und Norderney, wo man um Fischerei und Tourismus fürchtet: „Hier suchen wir das offene Gespräch. Ich weiß nicht, wie oft ich die Frage hörte: ‚Ihr baut Windparks ins Wasser, kommt der Strom an?‘ Wenn dem nicht so wäre, würden wir nicht Milliarden Euro in die Hand nehmen.“ Und: „Wenn man einen Windpark selbst sieht, ist das faszinierend.“
Was der Autor bestätigen kann: Wandel, der in der Luft liegt – und zwar buchstäblich.
Digitale Aufbereitung: Oliver Geyer und Jonas Binder
Fotos: Ørsted, Thomas Golser,
Siemens Gamesa, Cadeler
Videos: Ørsted
Karte: Flourish/OpenStreetMap, Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie Deutschland