Reportage aus Madrid
Es war einmal
der Macho
REPORTAGE. Geht es um Frauenrechte und feministische Gesetzgebung, ist Spanien in der EU das Vorzeigeland schlechthin. Doch der Wandel kam nicht von ungefähr. Eine Spurensuche.
Von Julian Melichar
Aus ihrer Handtasche ragt ein Hammer. Es ist das lauteste Detail an ihr, aber man bemerkt es trotzdem kaum. Weil sie so bieder aussieht. Beiges Polyesterkleid, dicke Hornbrille, dahinter ein gelangweilter Blick. So kämpft Miss Beige um ein feministisches Spanien, ist damit zu einer der berühmtesten Feministinnen des Landes geworden. In den umtriebigen Straßen von Madrid – dieser Stadt, die nie alternativ sein wollte, aber zum Epizentrum der feministischen Großoffensive in Spanien wurde – wirkt sie wie ein Fremdkörper. Und genau das ist der Plan.
Miss Beige lacht nicht, fällt nicht auf, zumindest nicht äußerlich. „Ich bin eine kümmerliche Frau, die niemandem etwas zuleide tut. Genau deshalb kann das Patriarchat nichts gegen mich sagen. Ich bin ein trojanisches Pferd“, erklärt die Künstlerin, die eigentlich Ana Esmith heißt.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Spanien und um die Frage, wie das „Macholand“ zum feministischen Vorzeigestaat wurde.
Spanien hat 48,1 Millionen Einwohner und ist eine konstitutionelle Monarchie mit König Felipe VI. als Staatsoberhaupt. Im Land spricht man nicht nur Spanisch (bzw. eigentlich Kastilisch), sondern auch Katalanisch, Galicisch und Baskisch und weitere regionale Sprachen.
Die Hauptstadt Madrid ist mit seinen rund 3,3 Millionen Einwohnern nach Berlin die zweitgrößte Stadt der EU. Madrid hat drei Männer-Fußballmannschaften (Real Madrid, Atlético Madrid und Rayo Vallecano) und drei Frauen-Fußballmannschaften (Real Madrid, Atlético Madrid und Madrid CFF), die jeweils in der ersten Liga (Primera División) spielen.
Wir sind unterwegs in Lavapiés, einem historischen Stadtviertel Madrids, das multikulturell und künstlerisch geprägt ist.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Spanien und um die Frage, wie das „Macholand“ zum feministischen Vorzeigestaat wurde.
Spanien hat 48,1 Millionen Einwohner und ist eine konstitutionelle Monarchie mit König Felipe VI. als Staatsoberhaupt. Im Land spricht man nicht nur Spanisch (bzw. eigentlich Kastilisch), sondern auch Katalanisch, Galicisch und Baskisch und weitere regionale Sprachen.
Die Hauptstadt Madrid ist mit seinen rund 3,3 Millionen Einwohnern nach Berlin die zweitgrößte Stadt der EU. Madrid hat drei Männer-Fußballmannschaften (Real Madrid, Atlético Madrid und Rayo Vallecano) und drei Frauen-Fußballmannschaften (Real Madrid, Atlético Madrid und Madrid CFF), die jeweils in der ersten Liga (Primera División) spielen.
Wir sind unterwegs in Lavapiés, einem historischen Stadtviertel Madrids, das multikulturell und künstlerisch geprägt ist.
Ana Esmith sitzt hier im Künstlerviertel Lavapiés in einem ruhigen Innenhof. Ein paar Meter weiter hängen Picassos in Museen, verkaufen Einwanderer Handys, trinken junge Studierende am Abend Billigsekt aus Plastikflaschen. Als „Ana“ ist „Miss Beige“ ganz anders. Fröhlich, lachend, Schirmmütze, Lippenstift, bunte Sneaker. Mindestens zehn Jahre jünger. In Spanien ist Miss Beige eine mystische Legende. Auf Instagram folgen Esmith 70.000 Menschen, sie zierte Vogue-Covers.
Ihr Aktivismus versteckt sich unscheinbar hinter künstlerischen Performances in Galerien und auf den Straßen.
Und im Internet.
Miss Beige, diese einsam wirkende Frau, die man gerne unterschätzt, „schleicht“ sich dort in Männerbünde, in den Vatikan, posiert als verlorene „Beauty“-Schwester der Kardashians. Alles an ihr ist bizarr. Und stets in Beige. Beige, wie die zerknitterte Landschaft der „Mancha“, die manchmal wie die runzelige Stirn eines Boxer-Hundes aussieht und die der Legende nach einst der unerschrockene Ritter Don Quijote durchstreifte. „Don Quijote war frei, eben weil er verrückt war“, sagt Esmith und lacht. Nur ist das hier kein Kampf gegen Windmühlen. Sondern der Kampf für eine gerechtere Welt.
Und Spanien bildet, was progressive Gesetzgebung, Gewaltschutz und Frauenpolitik betrifft, die Speerspitze Europas. Mit einer Reihe von feministischen Gesetzen ließ die Regierung zuletzt aufhorchen. Sie führte ein Recht auf Krankenstand bei Periodenschmerzen ein, Schwangerschaftsabbrüche sind ohne elterliche Zustimmung ab 16 Jahren erlaubt. Die Pille danach ist kostenlos. Zudem können Menschen mit einer einfachen behördlichen Erklärung ihre Geschlechtsidentität ändern. Zuletzt kündigte die Regierung von Sozialdemokrat Pedro Sánchez auch ein Frauenquoten-Gesetz an. Die geplante Sexualstrafrechtsreform 2022, die auf dem Prinzip „Nur Ja heißt Ja“ fußt, wurde hingegen wieder revidiert. Paradoxerweise sah sie neben härteren Höchststrafen auch niedrigere Mindeststrafen vor.
Der Reformwille kommt nicht von ungefähr. Der Druck der Bevölkerung stieg – nach Jahrzehnten der frauenpolitischen Flaute – enorm. Zwei Vorfälle – der brutale Mord an Ana Orantes durch ihren Ex-Mann im Jahr 1997 und die Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen durch eine Männergruppe 2016 – schärften den feministischen Blick.
Die Straße ist laut geworden. 2019 kamen am Frauentag mehr als 100.000 Menschen alleine in Madrid zum Protestmarsch.
Ist Spanien vom Macholand deshalb zur woken Hochburg geworden? Der Mann, der gerade aus dem mondänen Gebäude an der Gran Via hetzt – in der einen Hand die Pfeife, in der anderen die Zeitung „El Mundo“ – würde diesen Umstand vermutlich verneinen. Und er hätte recht. Im Land der Stierkämpfe und Flamenco-Tänzerinnen existiert keine richtige politische Mitte. Links und rechts bekämpfen einander. Während der linke Premier Pedro Sánchez, der sich selbst als Feminist bezeichnet, eine Regierung mit zwischenzeitlich 75 Prozent Frauenanteil führte, sind zahlreiche Städte stockkonservativ. Auch Madrid.
Wer Spaniens „Feminismo“ verstehen will, muss aber noch weiter zurückblicken. „Wir haben das unseren Großmüttern zu verdanken“, erklärt Alba Varela Lasheras. Die Buchhändlerin mit der rauchigen Stimme und dem umso klareren Lächeln führt ihre „Libreria Mujeres“ (Buchhandlung der Frauen) in einer ruhigen Gasse zwischen der Plaza Mayor und der Puerta del Sol in dritter Generation. Vor mehr als 46 Jahren wurde das Geschäft in Madrid eröffnet. Heute wird hier alles verkauft, was mit Feminismus zu tun hat. Werke zur Frauengeschichte, zur Queer Theory, die neusten Romane von Autorinnen weltweit. Und auch Männer-Werke.
Grundsätzlich waren Männer in der Welt der Matriarchinnen stets willkommen. „Wenn Männer fragten, ob sie auch hineindürfen, antwortete meine Mutter damals immer ‚nur, wenn ihr intelligent seid‘“, lacht Varela Lasheras und erzählt über die lange Tradition des Feminismus in Spanien: „Wir hatten bereits in der Zweiten Republik eine starke Frauenbewegung“. Doch irgendwann stülpte sich das Franko-Regime über das freie Leben. Die Diktatur mitten in Europa existierte bis 1975. Frauen waren faktisch Eigentum des Mannes. Doch die Unterdrückung machte aus dem Land ein Vakuum.
Heute kämpfen mehr und mehr Männer ebenfalls mit uns
Nach Frankos Tod musste die Geschlechtergerechtigkeit umso schneller hergestellt werden. Varela Lasheras zieht zum Beweis ein Lieblingsbuch aus dem Regal. „Rosa Caramelo“ („Bonbonrosa“). Erscheinungsdatum: 1975. Eines der ersten Kinderbücher, das kleinen Mädchen versuchte klarzumachen, dass ein Leben abseits von Stereotypen und dem Auftrag, Männern zu gefallen, existiert. Natürlich auch wegen der Gesetze, der Politik.
„Aber das Recht auf dem Papier allein hilft nicht – in den Köpfen muss sich etwas ändern.“
Alba Varela Lasheras
Doch der spanische Staat hat es, anders als viele andere Länder in der EU, verstanden, dass es einen institutionellen Rahmen braucht, um überhaupt ernsthaft vom Fleck zu kommen. Eine, die an den Hebeln der Macht sitzt, ist Angeles Carmona. Sie ist Präsidentin der landesweiten Beobachtungsstelle für häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt. Wenn Carmona spricht, rollt ein leidenschaftliches andalusisches „Rrrr“ über ihre Zunge, das ganz anders klingt, als das kahl zischende „R“ in Spaniens Hauptstadt. Umso kühler erklärt die Justizsekretärin, dass Spanien rigide wie kein anderes europäisches Land gegen Gewalt an Frauen vorgeht.
Die Beobachtungsstelle existiert seit mehr als 20 Jahren, arbeitet unter dem Justizministerium und berät dieses. „Die spezialisierten Gerichtshöfe, die wir in Spanien haben, gibt es nirgendwo sonst in Europa. Auch unsere Datenanalyse ist einzigartig. Es klingt anmaßend, aber es ist so“. Jeder Fall von geschlechtsspezifischer Gewalt werde genauestens untersucht. Vor Carmona liegen Statistiken, Erhebungen, Zahlen. Und dahinter wiederum stecken Menschenleben, Frauenleben, die jäh beendet wurden. Individuelle Lebensentwürfe, einmalige Leben, aber ein gemeinsamer Nenner: Der Mord durch einen Mann.
„Feminismus ist bei uns Staatsangelegenheit. Das hat alles verändert. Die Gesellschaft nimmt den Machismo ernst“
Das hat Carmona einst in den Feminismus geführt. Die Konfrontation mit Zahlen und Fakten. Relativ spät, wie sie erzählt. Aufgewachsen ist sie im konservativen Sevilla im Süden des Landes. Carmona war in keinen aktivistischen Studienzirkeln, hatte keine feministischen Freundinnen. „Aber als ich anfing, in der Justiz zu arbeiten, merkte ich plötzlich, dass bei dieser Häufigkeit von Taten und Mustern irgendetwas nicht stimmen kann“.
Carmonas Ausführungen klingen klar; so, als hätte sie sie schon zu oft wiederholen müssen. Unemotional, aber gleichzeitig empathisch. „Man muss wissen, wo die Fehler liegen, damit man sie beseitigen kann“, sagt sie. Carmona zeigt auf die erarbeiteten Risikofaktoren vor ihr. Es gibt Dutzende davon. 73 Prozent der ermordeten Frauen haben zum Beispiel Kinder. „Mutterschaft ist also ein Faktor“, sagt Carmona. Das Gleiche gilt für die Größe von Städten: 75 Prozent der Frauen, die ermordet werden, kommen aus Städten, die unter 100.000 Einwohner haben. Sogar der Wochentag spielt eine Rolle. Einen spezifischen Tätertyp gibt es nach Ansicht von Carmona hingegen nicht.
Durch ein wegweisendes Gesetz aus 2004, das Jahre später ziemlich ähnlich vom Europarat zur Istanbuler Konvention erklärt wurde und Länder zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen verpflichtete, wurde der Schutz von Frauen und das Verständnis von Gewalt- und Manipulationsmechanismen in sämtlichen Institutionen verankert. Von Anwälten und Richterinnen über forensische Ärzte bis zu Lehrerinnen. „Genau deshalb sind Frauen heute nicht mehr leise, sie vertrauen den Institutionen“, erklärt Carmona. Und selbst die, die sich nicht zu reden trauen, bekommen Unterstützung. Sämtliche Polizisten müssen zum Beispiel bei jeglichem Verdacht von häuslicher Gewalt Maßnahmen zum Schutz des Opfers einleiten, auch wenn dieses keine Anzeige erstattet.
Man muss die Kosten für das dichte Schutznetz natürlich auch stemmen wollen, betont Carmona.
„Es hilft nichts, wenn Experten Vorschläge machen und Warnungen aussprechen, wenn es kein Budget gibt. Und es gab in diesem Land das klare Bekenntnis von allen politischen Seiten, dass wir uns den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt etwas kosten lassen“. Weil ein Kontaktverbot Frauen vor gewalttätigen Männern oft nicht gut genug schützt, führte Spanien bereits 2009 eine elektronische Fußfessel für Täter ein. Mittlerweile gibt es 5000 davon.
Das macht sich in Zahlen bemerkbar. Die Femizid-Rate sinkt in Spanien jährlich weiter, seit 14 Jahren ist sie mittlerweile rückläufig. 2023 wurden 49 Frauen in dem 47-Millionen-Einwohner-Land aufgrund ihres Geschlechts getötet. Zum Vergleich: In Österreich, wo neun Millionen Menschen leben, waren es 29. Doch es gibt noch viel zu tun. Das ist vielleicht etwas, das in Spanien anders läuft. Man ist nie zufrieden. Als nur zwei Monate nach dem wegweisenden „Nur Ja heißt Ja“-Gesetz elf Frauen in einem Monat getötet wurden, aktivierte man schnell den Krisenmodus, erarbeitete neue Maßnahmen.
In Spanien ist der Feminismus längst im Alltag angekommen. Kein aktivistischer Zeitvertreib, sondern politische Realität.
Da sind die unzähligen Vereine, Buchhandlungen. Aber auch Männer, die mittlerweile aktiv für Veränderung einstehen. Der Erzieher David Ceron ist einer von ihnen. Er arbeitet als Sozialpädagoge seit zwölf Jahren mit jungen Männern und möchte „positive Männlichkeiten“ fördern. „Der beste Weg, Männer von Gleichstellung zu überzeugen, ist, auf ihre Verantwortung einzugehen, die sie als Männer für die Verbesserung der Lebensumstände haben. Wir müssen ihnen Räume zum Nachdenken, zum Zuhören und zur Förderung von Empathie bieten“, erzählt er zwischen Vorträgen und Fußballtraining. Es gibt viel zu tun.
Miss Beige sitzt in einem Gastgarten: „Wir wollen einfach als gleich angesehen werden. Und bei Gott, wir sind nicht alle Heilige. Wir Frauen können genauso manipulativ sein wie Männer. Aber genau darum geht es. Wir wollen alles sein dürfen: schön, hässlich, dick, dünn, romantisch, manipulativ.“ Aus der Handtasche von Miss Beige ragt noch immer der Hammer. Er ist keine Waffe, sondern zur Selbstverteidigung. Und man kann mit ihm Mauern einschlagen.
Digitale Aufbereitung: Oliver Geyer
Fotos: Julian Melichar, Miss Beige, Imago, Agustin Serrano
Karte: Flourish/OpenStreetMap