Reportage aus Finnland
Grenzgänger
aus Granit
REPORTAGE. Mit Nato-Neuling Finnland erhält Europa einen wehrhaften Vorzeigeschüler. Wie es sich mit Russland vor der Haustür lebt. Ein Streifzug zwischen Bunker, Paten, Spionage, Krieg und Schärenidyll.
Von Julian Melichar
Die Ignoranz beginnt auf der Landkarte. Wer Grenzen vom Elfenbeinturm des Kartenlesers aus betrachtet, wird scheitern. Bei einem schnellen Blick auf den Finnischen Meerbusen zum Beispiel. Von den unzähligen Inseln, die wie Brotkrümel auf dem dunkelglatten Wasser liegen, sieht man auf Google Maps nichts. Es sei denn, man zoomt rein. Oder ist vor Ort. Die Splitter des Landes, die im Wasser verlaufen, sie sagen viel aus über die Geschichte Finnlands. Wer auch immer dafür verantwortlich war, diese idyllische Landschaft in den Schoß des großen Bären Russlands zu pflanzen, er muss Humor gehabt haben. Himmel und Hölle, so knapp beieinander. Krieg und Frieden. Da Demokratie, dort autokratische Machtgier.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Finnland und um das Leben im Neo-Nato-Staat mit Russland vor seiner Haustür.
Finnland hat 5,56 Millionen Einwohner. Das ehemals neutrale Land trat im Frühling 2023 angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine dem Militärbündnis NATO bei. Die finnischen Streitkräfte sind rund 23.000 Mann und Frau stark, für den Ernstfall würde Finnland jedoch über 900.000 Reservisten verfügen.
In der Hauptstadt Helsinki, die an der Küste des Finnischen Meerbusens (Ostsee) liegt, wohnen rund 675.000 Menschen. Vor dem Krieg in der Ukraine war die Stadt mit dem 300 Kilometer (Luftlinie) entfernten russischen St. Petersburg per Schnellzug (Allegro) innerhalb von etwa dreinhalb Stunden erreichbar. Ende März 2022 wurde die Verbindung eingestellt.
Die Landschaft Kymenlaakso ist eine von 19 finnischen Verwaltungsprovinzen und liegt an der etwa 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland. Ihr Name leitet sich vom Fluss Kymijoki, der die Provinz durchfließt, ab. Knapp 160.000 Männer und Frauen leben in der Provinz, deren Norden bewaldet und seenreich ist.
Wir sind unterwegs im Dorf Virojoki inmitten der kleinen Gemeinde Virolahti, der ältesten Gemeinde der Provinz. Bekannt ist sie durch den größten finnisch-russischen Grenzübergang, der innerhalb der Gemeinde liegt.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Finnland und um das Leben im Neo-Nato-Staat mit Russland vor seiner Haustür.
Finnland hat 4,56 Millionen Einwohner. Das ehemals neutrale Land trat im Frühling 2023 angesichts des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine dem Militärbündnis NATO bei. Die finnischen Streitkräfte sind rund 23.000 Mann und Frau stark, für den Ernstfall würde Finnland jedoch über 900.000 Reservisten verfügen.
In der Hauptstadt Helsinki, die an der Küste des Finnischen Meerbusens (Ostsee) liegt, wohnen rund 675.000 Menschen. Vor dem Krieg in der Ukraine war die Stadt mit dem 300 Kilometer (Luftlinie) entfernten russischen St. Petersburg per Schnellzug (Allegro) innerhalb von etwa dreinhalb Stunden erreichbar. Ende März 2022 wurde die Verbindung eingestellt.
Die Landschaft Kymenlaakso ist eine von 19 finnischen Verwaltungsprovinzen und liegt an der etwa 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland. Ihr Name leitet sich vom Fluss Kymijoki, der die Provinz durchfließt, ab. Knapp 160.000 Männer und Frauen leben in der Provinz, deren Norden bewaldet und seenreich ist.
Wir sind unterwegs im Dorf Virojoki inmitten der kleinen Gemeinde Virolahti, der ältesten Gemeinde der Provinz. Bekannt ist sie durch den größten finnisch-russischen Grenzübergang, der innerhalb der Gemeinde liegt.
In Virolahti endet der europäische Traum. Vom kleinen finnischen Grenzort aus sind es 180 Kilometer in die Hauptstadt Helsinki. Nach St. Petersburg sind es etwa 200 Kilometer. Besser gesagt waren es. Mittlerweile sind sämtliche Grenzen dicht. Virolahti, vor dem Krieg noch größter Grenzübergang im Land, gleicht einer Geisterstadt. „Es ist schade“, sagt Veli-Matti Kosonen. Der lustige Finne werkelt in seiner KFZ-Werkstätte mit dem ebenso lustigen Namen „Don Cosone“. Kosonen ist nämlich der wohl größte „Der Pate“-Fan im gesamten Land. Von einem anderen Machtherrscher – Wladimir Putin – hält der 60-Jährige hingegen wenig.
Aber diese Region war vor dem Krieg voller Russen. Ein Großteil hat vom Tourismus gelebt. Das ist jetzt alles weg.
Währenddessen wäscht er sich das Öl von den hornhäutigen Fingern. Nicht nur das mondäne Einkaufscenter Zsar, das einst mit Luxusmarken ein kauffreudiges russisches Klientel anzog, liegt heute brach. Wie lächerlich dieser Markentempel ohne Konsumopfer aussieht. Ausgemergelt wie die bleiben Birken am Wegrand. Auch Kosonen hat vom russischen Tourismus gelebt. Voller Stolz führt er in sein unscheinbar geducktes Haus. An den Wänden – wie könnte es anders sein? – Fotos von Don Corleone, dem Paten. Nun sind seine Gäste Journalisten aus dem Ausland. Und Ornithologen. „Wir sind hier nicht nur an der Grenze zu Russland, sondern auch an einem Highway für Vögel.“
Es geht immer um Tiere. Kosonen hatte letztes Jahr einen schweren Unfall. Sein Wagen ist seitdem Geschichte. Der Elch, der den Weg kreuzte, ebenfalls. So viele Tiere Finnland beheimatet, so karg ist das Land sonst. Rohstoffe? „Wir haben nur Wasser und Holz“, sagt Kosonen. Und Granit. Halb Helsinki besteht aus dem brutalistischen Stein. Und selbst beim „Feind“ hat man sich damit verewigt. So bestehen die Säulen der Isaakskathedrale in St. Petersburg und die Alexandersäule, die sich vor dem Winterpalast in den Himmel schraubt, aus Granit, der aus Virolahti stammt. Doch Kosonen wäre kein finnischer Mechaniker, wenn er nach seinem Elchunfall nicht ein anderes Auto hätte und sagen würde: „Alles wird gut.“ Das ist hier die Devise. Ob die Finnen glücklich seien? „Nicht unbedingt“, antwortet Kosonen.
Aber positiv“, ergänzt seine Frau Miia. „Wir Finnen sind ein eigenes Völkchen. Das hat mit unserer Geschichte zu tun. Wir mussten positiv bleiben, um nicht zu verzweifeln“. Miia Kosonen erzählt vom Winterkrieg 1939, als Finnland im tapferen David-gegen-Goliath-Kampf der Sowjetunion gegenüberstand. Was damals geschah, hat nahezu gruselige Parallelen zum heutigen Krieg in der Ukraine. Weil Russland seine Sicherheitsinteressen im Jahr 1939 nicht mehr gewahrt sah, fiel man in Finnland ein. Doch das schmächtige Finnland hielt dem Großangriff der UdSSR stand. Den Krieg verlor man dann trotzdem.
Finnland musste das Gebiet Karelien abtreten. Auch die Familie von Miia Kosonen lebte auf dem heute russischen Gebiet. Doch fühlt man sich deshalb als Finne auch irgendwie russisch? Nicht wirklich. „Wir mögen unsere russischen Nachbarn. Oder sagen wir so: Ein einzelner Russe ist der freundlichste und hilfsbereiteste Mensch der Welt. Eine russische Gruppe ist der Albtraum.“ Masse und Macht. Sie liegen hier eng beisammen. „Wir haben nach wie vor keine Angst. Aber wir sind frustriert“, erzählt Miia Kosonen. Seit dem Nato-Beitritt sei man immer wieder Schikanen aus Russland ausgeliefert. „Unsere Handys funktionieren nicht, unser GPS wird gestört.“
Seit Finnland seine Neutralität aufgegeben hat und der Nato im April 2023 beigetreten ist, hat sich die Außengrenze des Verteidigungsbündnisses um 1300 Kilometer verlängert.
Bereits 2022 wollte sich das Land von russischen Rohstoffen emanzipieren. Davon merkt man am Grenzbahnhof Vainikkala wenig. Schwere Waggons mit kyrillischen Aufschriften quietschen über die Grenze. Dreimal am Tag werde geliefert, erklärt ein Arbeiter. „Nickel und Kohle sind oft dabei.“ Ein Großteil der Grenze verläuft zwischen Matsch, Wäldern und Wasser. Also ungefähr dort, wo Riita Turkia lebt. „Der Wald da drüben ist schon Russland“, zeigt sie. Dann will sie schnell weg, ein Auto an der Lichtung scheint uns zu beobachten. Die aufgeweckte Finnin weiß viel zu erzählen: über ihr Leben an der Grenze, ihre Arbeit als Logistikexpertin, ihr Land und ihre Nachbarn. „Ich hatte viele russische Freunde.“
Die Grenzen hier waren stets fließend. Aber die meisten haben den Kontakt abgebrochen. Ich weiß nicht, ob aus Angst oder weil sie uns wirklich nicht verstehen“, sagt sie. An die Schüsse, die an manchen Tagen über die Baumwipfel bis in ihren Vorgarten schallen, hat sie sich mittlerweile gewöhnt. Die Grenzsicherungstrupps geben Turkia ein Gefühl von Sicherheit. So schnell die Erzählstränge der 57-Jährigen ausschlagen, so geerdet ist ihr moralischer Kompass. Ja, vielleicht ist Riita Turkia der Inbegriff von gütiger Contenance.
Ob die Nato eine gute Idee für Finnland war? „Ich weiß es nicht. Irgendwie schon, weil wir uns nicht einschüchtern lassen dürfen. Irgendwie nicht, weil wir ja vielleicht Putin damit provozieren.“ Wie sie die hybride Kriegstaktik Russlands sieht, Flüchtlinge aus anderen Ländern gezielt an die finnische Grenze zu lotsen, um Chaos zu stiften? „Menschen, die Hilfe benötigen, sollen diese bekommen. Aber Menschen, die hier gewalttätig werden, brauche ich nicht.“ Nur wenn die Frau über ihr Kind spricht, bricht die Gelassenheit weg. „Mein Sohn wird jetzt der Armee beitreten.“ Und ohne dass sie es ausspricht, spürt man, dass Turkia Angst vor einem Krieg gegen die Nato hat. Ihren Großvater hat die Frau nie gesehen. Er starb für Finnland, im Kampf gegen Russland. Da ist er wieder, der Winterkrieg. Er erklärt, wieso Finnland bis heute tickt, wie es tickt.
Die Nato erhält mit dem skandinavischen Land einen Musterschüler in Sachen Verteidigungsfähigkeit. Anders als die meisten nordischen Länder hat Finnland stets in seine Streitkräfte investiert, seine Artillerietruppen zählen zu den stärksten in Europa. Rund 6,5 Milliarden Euro lässt man sich die Verteidigung im aktuellen Jahr kosten. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato übertraf man auf Anhieb. Und die Motivation, im Zweifelsfall selbst für sein Land zu kämpfen, ist ebenso hoch.
Rund 79 Prozent aller Einwohner würden zur Waffe greifen.
Während das restliche Europa nach dem Kalten Krieg auf die Friedensdividende schielte, blieb man in Finnland misstrauisch. Das ist verständlich. Die russische Vergangenheit – bis 1917 war Finnland Teil des Russischen Reichs – ist ein ständiger Begleiter.
Der Nato-Beitritt stand in der politischen Debatte immer als Möglichkeit im Raum, aber er war immer etwas, von dem man dachte, dass man es nicht brauche, erklärt Manuel Müller vom Finnish Institute of International Affairs im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Müller spricht in diesem Zusammenhang auch von der „finnischen Preparedheit“, also dem „ewigen Vorbereitetsein“. Heute herrsche über die Nato-Mitgliedschaft breiter Konsens über Parteigrenzen hinweg. Finnland hätte es ohnehin seit jeher verstanden, sich einerseits mit Russland zu arrangieren und andererseits einen stabilen Plan B aufzubauen. „Das war die berühmte Paasikivi-Kekkonen-Linie, benannt nach den beiden finnischen Präsidenten Juho Kusti Paasikivi und seinem Nachfolger Urho Kekkonen. Man hat auf vertrauliche Verhältnisse gesetzt und gleichzeitig geschaut, wie weit man gehen kann.“
Nicht nur auf dem Festland – das zeigt ein Ortswechsel auf die Åland-Inseln. Der Archipel, der zwischen Schweden und Finnland liegt, kooperiert bis heute mit Russland.
Einst war das 30.000-Einwohner-Åland der westliche Vorposten Leningrads.
Seit den Krimkriegen im 19. Jahrhundert gilt der rein schwedischsprachige Inselarchipel als entmilitarisierte Zone. Zynisches Detail: Dass keine Waffen und Soldaten auf der zerklüfteten Insel landen, dafür ist seit mehr als 80 Jahren Russland verantwortlich. Seit dem Nato-Beitritt Finnlands steht das idyllische Fleckchen inmitten des Bottnischen Meerbusens im Scheinwerferlicht. Denn am Status einer „Friedensinsel“ will Åland auch weiterhin nicht rütteln. Im Falle eines russischen Angriffs auf Finnland müsste die Insel weiterhin waffenfrei bleiben. Das wäre alles halb so schlimm, wenn die unscheinbare Inselgruppe nicht in einem geopolitisch hochinteressanten Gebiet liegen würde. Dass Åland ein Spionageparadies ist, davor wird in Finnland immer wieder gewarnt. Als „Achillesferse“ der finnischen Verteidigung bezeichnete der ehemalige finnische Präsidentenberater Alpo Rusi die Insel.
Das mutmaßliche Spionagequartier – das russische Konsulat in Ålands Hauptstadt Mariehamn – würde man ohne die wehende Russlandflagge und den meterhohen Zaun vermutlich gar nicht erkennen. Das Holzhaus reiht sich unscheinbar in Mariehamn ein, das mit seinen zwei Cafés und einer Kirche wie ein Playmobil-Städtchen von Kindern wirkt. Doch seit 817 Tagen, pünktlich um 17 Uhr, steppt hier der Bär.
Die Nato erhält mit dem skandinavischen Land einen Musterschüler in Sachen Verteidigungsfähigkeit. Anders als die meisten nordischen Länder hat Finnland stets in seine Streitkräfte investiert, seine Artillerietruppen zählen zu den stärksten in Europa. Rund 6,5 Milliarden Euro lässt man sich die Verteidigung im aktuellen Jahr kosten. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato übertraf man auf Anhieb. Und die Motivation, im Zweifelsfall selbst für sein Land zu kämpfen, ist ebenso hoch.
Rund 79 Prozent aller Einwohner würden zur Waffe greifen.
Während das restliche Europa nach dem Kalten Krieg auf die Friedensdividende schielte, blieb man in Finnland misstrauisch. Das ist verständlich. Die russische Vergangenheit – bis 1917 war Finnland Teil des Russischen Reichs – ist ein ständiger Begleiter.
Der Nato-Beitritt stand in der politischen Debatte immer als Möglichkeit im Raum, aber er war immer etwas, von dem man dachte, dass man es nicht brauche, erklärt Manuel Müller vom Finnish Institute of International Affairs im Gespräch mit der Kleinen Zeitung. Müller spricht in diesem Zusammenhang auch von der „finnischen Preparedheit“, also dem „ewigen Vorbereitetsein“. Heute herrsche über die Nato-Mitgliedschaft breiter Konsens über Parteigrenzen hinweg. Finnland hätte es ohnehin seit jeher verstanden, sich einerseits mit Russland zu arrangieren und andererseits einen stabilen Plan B aufzubauen. „Das war die berühmte Paasikivi-Kekkonen-Linie, benannt nach den beiden finnischen Präsidenten Juho Kusti Paasikivi und seinem Nachfolger Urho Kekkonen. Man hat auf vertrauliche Verhältnisse gesetzt und gleichzeitig geschaut, wie weit man gehen kann.“
Nicht nur auf dem Festland – das zeigt ein Ortswechsel auf die Åland-Inseln. Der Archipel, der zwischen Schweden und Finnland liegt, kooperiert bis heute mit Russland.
Einst war das 30.000-Einwohner-Åland der westliche Vorposten Leningrads.
Seit den Krimkriegen im 19. Jahrhundert gilt der rein schwedischsprachige Inselarchipel als entmilitarisierte Zone. Zynisches Detail: Dass keine Waffen und Soldaten auf der zerklüfteten Insel landen, dafür ist seit mehr als 80 Jahren Russland verantwortlich. Seit dem Nato-Beitritt Finnlands steht das idyllische Fleckchen inmitten des Bottnischen Meerbusens im Scheinwerferlicht. Denn am Status einer „Friedensinsel“ will Åland auch weiterhin nicht rütteln. Im Falle eines russischen Angriffs auf Finnland müsste die Insel weiterhin waffenfrei bleiben. Das wäre alles halb so schlimm, wenn die unscheinbare Inselgruppe nicht in einem geopolitisch hochinteressanten Gebiet liegen würde. Dass Åland ein Spionageparadies ist, davor wird in Finnland immer wieder gewarnt. Als „Achillesferse“ der finnischen Verteidigung bezeichnete der ehemalige finnische Präsidentenberater Alpo Rusi die Insel.
Das mutmaßliche Spionagequartier – das russische Konsulat in Ålands Hauptstadt Mariehamn – würde man ohne die wehende Russlandflagge und den meterhohen Zaun vermutlich gar nicht erkennen. Das Holzhaus reiht sich unscheinbar in Mariehamn ein, das mit seinen zwei Cafés und einer Kirche wie ein Playmobil-Städtchen von Kindern wirkt. Doch seit 817 Tagen, pünktlich um 17 Uhr, steppt hier der Bär.
„Putin nach Den Haag!“
Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine versammelt sich vor dem russischen Konsulat eine Gruppe von Demonstrierenden. Die Gruppe um Ann-Christine folgt dabei einem festen Ritual. Fünfmal schreit man „Ukraine!“, danach folgt eine Schweigeminute, anschließend singt man die Europahymne und schreit weitere fünfmal „Stoppt den Krieg!“ und „Putin nach Den Haag!“, also vor das Kriegsverbrechertribunal. „Keiner von uns hat vor dem Krieg an Spionage gedacht“, sagt Ann-Christine. Ihre Freundinnen nicken. Man demonstriere für Frieden, schließlich gehört der ja auch zur Insel. „Wir haben nichts gegen Russen. Und auch nichts gegen den russischen Konsul. Sie sind ebenfalls Gefangene“, sagt die Pensionistin und deutet auf das Haus mit den zugezogenen Vorhängen.
Dass das neue Nato-Land Finnland eine Bastion an der Ostflanke Europas ist, zeigt nicht zuletzt die Hauptstadt Helsinki. Warum fühlt sich diese Stadt so schroff und gleichzeitig heimelig an? Vermutlich wegen ihres Fundaments. Die Stadt liegt auf Granit und Gneis. Das harte Gestein lugt immer wieder bis an die Erdoberfläche und ist perfekt für eine Stadt unter der Stadt.
Das haben die Finnen früh verstanden. Die berühmte 1969 erbaute Temppeliaukio-Kirche ist eine in Stein geschlagene Sehenswürdigkeit, auch Architekten haben den Untergrund in der wachsenden Stadt für platzsparende neue Projekte für sich entdeckt. Doch darüber hinaus ist Helsinkis „Unterhaus“ vor allem eines: Refugium. Wie zähe Flachsen zieht sich ein riesiges Bunkersystem durch die Unterstadt. Von oben sind die Anlagen gut versteckt. Nur ein gläserner Lift weist am Merihaka-Platz auf die Unterwelt hin.
Tomi Rask wartet bereits mit ernster Miene. Auf seiner Uniform steht „Pelastuslaitos Helsinki“, also: „Schutz und Rettung“. Eine kurze Einweisung erfolgt, dann geht es mehr als 20 Meter nach unten. Alles sehr lebhaft für ein Notfallrefugium. Gute Tarnung? Nein, die Finnen verwenden ihre Luftschutzbunker nämlich, bis der Ernstfall vor der Tür steht, als Freizeitanlage. Rask führt vorbei an einer Cafeteria, einem Spielplatz. Im nächsten Raum wartet ein in blau getunkter Turnsaal. Dann biegt Rask plötzlich ab, wir passieren zwei schwere Stahltüren. Die erste schützt vor dem Druck einer Explosion, die zweite schließt den Bunker luftdicht ab. „Diese Türen sind auch atomwaffensicher“, betont er.
Wenn es oben ernst wird,
müssen unten alle zusammengreifen.
Dann werden Betten aufgestellt, Toiletten installiert. Das Leben soll irgendwie weitergehen, fast wie an der Oberfläche. „Jeder muss seinen Beitrag leisten. Es gibt drei Arbeitsgruppen. Eine Gruppe ruht sich aus, die andere hat Freizeit, die dritte arbeitet im Bunker.“ Die Turnsäle werden dann in kleinstmögliche Einheiten geteilt. Rask zeigt auf Halterungen, an denen Tücher für Privatsphäre sorgen sollen. Raum 1: Notfallambulanz, Raum 2: Familienzimmer, Raum 3: Büro. „Die kleine Unterteilung ist psychologisch wichtig. Menschen fühlen sich im kleinen Kreis sicherer.“
Dass das neue Nato-Land Finnland eine Bastion an der Ostflanke Europas ist, zeigt nicht zuletzt die Hauptstadt Helsinki. Warum fühlt sich diese Stadt so schroff und gleichzeitig heimelig an? Vermutlich wegen ihres Fundaments. Die Stadt liegt auf Granit und Gneis. Das harte Gestein lugt immer wieder bis an die Erdoberfläche und ist perfekt für eine Stadt unter der Stadt.
Das haben die Finnen früh verstanden. Die berühmte 1969 erbaute Temppeliaukio-Kirche ist eine in Stein geschlagene Sehenswürdigkeit, auch Architekten haben den Untergrund in der wachsenden Stadt für platzsparende neue Projekte für sich entdeckt. Doch darüber hinaus ist Helsinkis „Unterhaus“ vor allem eines: Refugium. Wie zähe Flachsen zieht sich ein riesiges Bunkersystem durch die Unterstadt. Von oben sind die Anlagen gut versteckt. Nur ein gläserner Lift weist am Merihaka-Platz auf die Unterwelt hin.
Tomi Rask wartet bereits mit ernster Miene. Auf seiner Uniform steht „Pelastuslaitos Helsinki“, also: „Schutz und Rettung“. Eine kurze Einweisung erfolgt, dann geht es mehr als 20 Meter nach unten. Alles sehr lebhaft für ein Notfallrefugium. Gute Tarnung? Nein, die Finnen verwenden ihre Luftschutzbunker nämlich, bis der Ernstfall vor der Tür steht, als Freizeitanlage. Rask führt vorbei an einer Cafeteria, einem Spielplatz. Im nächsten Raum wartet ein in blau getunkter Turnsaal. Dann biegt Rask plötzlich ab, wir passieren zwei schwere Stahltüren. Die erste schützt vor dem Druck einer Explosion, die zweite schließt den Bunker luftdicht ab. „Diese Türen sind auch atomwaffensicher“, betont er.
Wenn es oben ernst wird,
müssen unten alle zusammengreifen.
Dann werden Betten aufgestellt, Toiletten installiert. Das Leben soll irgendwie weitergehen, fast wie an der Oberfläche. „Jeder muss seinen Beitrag leisten. Es gibt drei Arbeitsgruppen. Eine Gruppe ruht sich aus, die andere hat Freizeit, die dritte arbeitet im Bunker.“ Die Turnsäle werden dann in kleinstmögliche Einheiten geteilt. Rask zeigt auf Halterungen, an denen Tücher für Privatsphäre sorgen sollen. Raum 1: Notfallambulanz, Raum 2: Familienzimmer, Raum 3: Büro. „Die kleine Unterteilung ist psychologisch wichtig. Menschen fühlen sich im kleinen Kreis sicherer.“
Rund 6000 Menschen haben allein hier in dieser Anlage Platz. Der Bunkerbau hat in Finnland lange Tradition. Nicht zuletzt im Kalten Krieg und aufgrund der drohenden Gefahr aus dem Osten wurden sukzessive neue Anlangen errichtet. Allein in der Hauptstadt gibt es unter der Erde Platz für 900.000 Menschen. Also für alle. Bei Finnland, diesem Grenzgänger aus Granit, beißt man auf selbigen. So viel ist sicher.
Digitale Aufbereitung: Oliver Geyer
Fotos: Julian Melichar, Imago
Video: Julian Melichar
Karte: Flourish/OpenStreetMap