Reportage aus Bosnien und Herzegowina

Die Schnitzer
am Fluss

REPORTAGE. In Konjic ist das Holzschnitzen eine Volkskunst. Drei Kriege überstand die Manufaktur von Besim Nikšić. Seine Söhne schafften nun den Aufbruch in die Moderne. Aufbruchsstimmung herrscht auch bei vielen in ganz Bosnien und Herzegowina, nachdem die EU im März 2024 grünes Licht für Beitrittsgespräche gegeben hat.

Von Nina Koren

Was einem Fischer das Meer ist Besim Nikšić der Wald. Holz. Dort sind seine Hände zu Hause. Sie sind faltig und alt, doch wenn Nikšić von seinem langen Leben erzählt, sind es seine Finger die sprechen. Lebendig, geschmeidig, sie scheinen freundlich in die Welt zu lachen wie das Gesicht des alten Mannes. 89 Jahre hat er in seiner Heimatstadt verbracht, und er tut, was er immer schon tat: Kunstwerke mit seinen Händen erschaffen.

In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Bosnien-Herzegowina: Im Wartesaal Europas herrscht bei vielen Aufbruchsstimmung, nachdem die EU im März 2024 grünes Licht für Beitrittsgespräche gegeben hat.

Bosnien und Herzegowina hat 3,23 Millionen Einwohner. Der Staat ging in seiner heutigen Form aus dem Abkommen von Dayton hervor, das den Bosnien-Krieg (1992 bis 1995) beendete. Im Bosnienkrieg starben etwa 100.000 Menschen.

Politische Teilgebiete des Bundesstaates sind die  Föderation Bosnien und Herzegowina,  die  Republika Srpska  sowie der  Brčko-Distrikt  als Sonderverwaltungsgebiet.

Die Hauptstadt Sarajewo wurde unter anderem durch das Attentat auf Österreichs Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Herzogin Sophie 1914 bekannt. Von April 1992 bis Februar 1996 wurde die Stadt durch die Armee der bosnischen Serben belagert, eine Luftbrücke wurde eingerichtet. Während der Belagerung wurden nach Schätzungen etwa 11.000 Menschen (darunter 1600 Kinder) getötet und 56.000 teilweise schwer verletzt.

Wir befinden uns 40 Kilometer südlich von Sarajewo; tief eingeschnitten zwischen den faltigen Rücken des Dinarischen Gebirges, des Himalaya des Balkans, am Ufer der türkis-blauen Neretwa, liegt Konjic. Die Stadt ist bekannt für seine Holzschnitzarbeiten. 2017 wurde die Schnitzerei-Tradition von Konjic in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Bosnien-Herzegowina: Im Wartesaal Europas herrscht bei vielen Aufbruchsstimmung, nachdem die EU im März 2024 grünes Licht für Beitrittsgespräche gegeben hat.

Bosnien und Herzegowina hat 3,23 Millionen Einwohner. Der Staat ging in seiner heutigen Form aus dem Abkommen von Dayton hervor, das den Bosnien-Krieg (1992 bis 1995) beendete. Im Bosnienkrieg starben etwa 100.000 Menschen.

Politische Teilgebiete des Bundesstaates sind die  Föderation Bosnien und Herzegowina,  die  Republika Srpska  sowie der  Brčko-Distrikt  als Sonderverwaltungsgebiet.

Die Hauptstadt Sarajewo wurde unter anderem durch das Attentat auf Österreichs Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Herzogin Sophie 1914 bekannt. Von April 1992 bis Februar 1996 wurde die Stadt durch die Armee der bosnischen Serben belagert, eine Luftbrücke wurde eingerichtet. Während der Belagerung wurden nach Schätzungen etwa 11.000 Menschen (darunter 1600 Kinder) getötet und 56.000 teilweise schwer verletzt.

Wir befinden uns 40 Kilometer südlich von Sarajewo; tief eingeschnitten zwischen den faltigen Rücken des Dinarischen Gebirges, des Himalaya des Balkans, am Ufer der türkis-blauen Neretwa, liegt Konjic. Die Stadt ist bekannt für seine Holzschnitzarbeiten. 2017 wurde die Schnitzerei-Tradition von Konjic in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.

Die Neretwa rauscht hier in Konjic, aus der Schlucht kommend, unter der geschwungenen alten Steinbrücke hindurch, die einst noch von den Osmanen erbaut, im Zweiten Weltkrieg beschädigt und dann wieder aufgebaut wurde. Konjic – wie keine andere Stadt steht sie für die traditionelle Schnitzkunst Bosniens. Nirgendwo sonst sieht man so viele Werkstätten auf einem Fleck.

Viel hat der Fluss gesehen, viel hat Besim Nikšić  gesehen. Vor mehr als 100 Jahren erlernte sein Großvater Gano in Konjic die Kunst der Holzschnitzer.

Besim Nikšić (89): In dritter Generation übernahm er in den 50er Jahren die Schnitzerei

Besim Nikšić (89): In dritter Generation übernahm er in den 50er Jahren die Schnitzerei

Seine Söhne bauten eine Werkstatt auf. Es folgte der Erste Weltkrieg, der ausbrach, nachdem der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo erschossen und im alten Konat, der Villa des Gouverneurs, verblutete. Die Schnitzerei der Nikšić überstand die Wirren des Ersten Weltkriegs, erholte sich, überstand die Wirren des Zweiten Weltkriegs. Im kommunistischen Tito-Jugoslawien lief es mehr schlecht als recht, als Besim Nikšić die Holzschnitzerei in den 50er Jahren in dritter Generation übernahm. Das Ende des Sozialismus mündete in das Grauen der Jugoslawien-Kriege; auch Konjic, strategisch eine Schlüsselstelle, wurde schwer getroffen.

1995 endete der Krieg mit dem Dayton-Abkommen, Besim öffnete den Betrieb wieder und versuchte der Werkstatt in den Nachkriegsjahren unter schwierigen Bedingungen wieder Leben einzuhauchen. 2016 stiegen schließlich seine beiden Söhne ein, Orhan und Adem.

Mittlerweile ist Bosnien erneut im Umbruch. Das Land kämpft mit einer komplizierten Staatsstruktur, immer noch ethno-nationalistisch orientiertem politischen Personal und starker Emigration. Doch im März erhielt Bosnien grünes Licht für EU-Beitrittsgespräche; viele im Land atmen erleichtert auf.

Orhan Nikšić etwa, Besims Sohns. Er ist Rückkehrer. Und was für einer. Als Jugendlicher ging er an ein College in den USA, „ich wollte die Welt sehen“. Als in seiner Heimat Bosnien der Krieg ausbrach, hängte Orhan an der Universität in Stanford sein Doktorat in Wirtschaftswissenschaften an. Es folgte eine steile internationale Karriere als Analyst und Senior Economist bei der Weltbank, Projekte von Palästina bis Kosovo. Und dann: Konjic. Orhan kehrte zurück in die Kleinstadt seiner Kindheit, aus der sein Vater nie hinausgekommen war. Und stieg ein in die Schnitzerei. „Ich habe meine Heimat vermisst, unsere Familie“, sagt Orhan.

Generation vier übernahm das Ruder. Orhan und sein Bruder Adem entwickelten eine neue Vision für den Familienbetrieb. „Wir wollten unsere Liebe zu modernem Design mit der Tradition der Handwerkskunst in Konjic und in unserer Familie verbinden“, erklärt Orhan Nikšić. „Und wir wollten zeigen: Auch in Bosnien kann man erfolgreich sein, Arbeitsplätze schaffen, vorankommen“. Man dürfe nicht darauf warten, dass der hiesige Staat die eigenen Projekte sonderlich unterstütze – „aber mit Eigeninitiative ist hier sehr viel möglich.“ Bosnien sieht er in der Zukunft eindeutig in der EU: „Wir sind Teil Europas, wir sollten auch offiziell in die europäische Familie aufgenommen werden“, meint Orhan Nikšić. Und was ist mit den Nationalisten, die eine gemeinsame Zukunft hintertreiben? „Ich denke, auch sie wissen, dass ihre Ansichten letztlich der Vergangenheit angehören; auch sie merken, dass der Weg nach Europa für uns alle besser ist.“

Zu behaupten, der Plan der Nikšić-Brüder sei aufgegangen, ist eine Untertreibung. Heute arbeitet „Zanat“ (zu Deutsch: „Handwerk“), wie die Brüder den Betrieb nun nennen, mit den weltbesten Designern zusammen – von Monika Förster über Michele de Lucchi bis zum japanischen Stardesigner Naoto Fukasawa. Quer über den Erdball sind Designertische oder Stühle von Zanat zu finden – auch Kastner & Öhler hat Interieur aus dem Hause Zanat in seinen Verkaufsräumen ausgestellt. „Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass möglich ist, was meinen Söhnen da gelungen ist“, strahlt Besim Nikšić stolz.

Der Duft nach Holz:
Er durchdringt hier alles

Wenn man den Raum der Schnitzer betritt, herrscht Stille; eine Stille, die nicht leise ist; sie kommt von der Konzentration. Durchbrochen vom kratzenden Geräusch der Hohlbeitel, mit denen Kerben ins Holz geritzt werden, muschelförmig, blumig, dann wieder geometrisch-linear; zwischendurch ein gezieltes Schlagen mit dem Hammer, ein zufriedener Seufzer der Schnitzer, wenn das Ornament auf ihrem Werkstück gelungen ist. „Ich arbeite am liebsten mit Walnussholz“, sagt Amira. „Es ist etwas weicher, kommt mir entgegen“, sagt die 25-Jährige. Sie hat hier ihre Kunst erlernt. Auch Dzejna, 23, am großen Fenster, ist völlig vertieft in das Blumenmuster, das sie in ein Stück Esche zaubert. Fortgehen, ins Ausland? „Das kam mir noch nie in den Sinn“, sagt die 23-Jährige. Tatsächlich herrscht, dank Zanat und anderen Unternehmern hier in Konjic, Vollbeschäftigung in der Stadt. „Es ging uns nie nur ums Geld“, sagt Orhan Nikšić, „wir wollen auch lebenswertes Leben für die Menschen hier erschaffen.“

Es ist eines der Markenzeichen von Zanat, dass hier die Generationen zusammengreifen.
Das Lob kommt von Jasna Mujkic

Sie hat den Ombra-Tisch entworfen, der 2012 mit dem Interior Innovation Award 2012 ausgezeichnet wurde, und sie war die erste Designerin, die mit Orhan und seinem Bruder begonnen hat, die traditionellen Muster neu aufzugreifen und moderne Ausdrucksformen zu entwickeln.

Jasna Mujkic zeigt Arbeiten ihrer Design-Schüler an der Akademie der bildenden Künste in Sarajewo 

Jasna Mujkic zeigt Arbeiten ihrer Design-Schüler an der Akademie der bildenden Künste in Sarajewo 

Jasna Mujkić sitzt in ihrem Kreativbüro an der Akademie der bildenden Künste in Sarajawo – im „Dom“, wie sie sagt: direkt unter dem halbrunden Dach der Kuppel des imposanten Gebäudes im Zentrum der Stadt. „Solange ich die Stiegen hier herauf schaffe, werde ich hier unterrichten“, sagt die international erfolgreiche Designerin, die hier Studenten aus allen Landesteilen Bosniens ausbildet. „Ich habe immer schon geometrische Formen geliebt“, sagt Mujkić. Für die Platte des Ombra-Tisches werden kleine Würfel aus massivem Walnussholz verwendet und zu sogenannten „Penrose-Kachelstrukturen“ verbunden.

Innerhalb der Penrose-Struktur ist keine Form wiederholbar, jede ist einzigartig, eine Formel, die auf die Unendlichkeit verweist.
Jasna Mujkić

„Dies über Holz auszudrücken, hat mich fasziniert“. Ombra, Schatten, habe sie den Tisch genannt, weil die Oberfläche wirke wie ein fließender Fluss und zugleich wie die beweglichen Schattenbilder, die Blätter eines Baumes erzeugen. Zusammengebaut zu dem komplexen Muster werden die Holzstücke noch heute vom 89-jährigen Besim Nikšić.

Die Frage, wie sie auf die Zukunft ihres Landes blicke, erstaunt die Designerin. „Optimistisch natürlich“, erklärt Jasna Mujkić. „Wir haben so viele kreative Leute im Land, die etwas Neues erschaffen wollen“. Stolz zeigt sie Arbeiten der Nachwuchsdesigner an der Akademie – kubistisch anmutende Karosseriedesigns für ein E-Auto etwa. Im Ausland halte sich ein Bild des Nachkriegsbosniens, das zum Teil überholt sei. „Das ist wie mit dem Licht der Sterne, das wir sehen: Es ist so lange unterwegs, dass wir nur das Abbild des Sternes sehen, den es in dieser Form gar nicht mehr gibt. Wenn eines Tages die Tür Europas für uns aufgeht, wird man das erkennen.“

Der Ombra-Tisch, mit dem Interior Innovation Award 2012 ausgezeichnet

Der Ombra-Tisch, mit dem Interior Innovation Award 2012 ausgezeichnet

Der preisgekrönte Ombra-Tisch wird noch heute von Besim Nikšić gebaut

Der preisgekrönte Ombra-Tisch wird noch heute von Besim Nikšić gebaut

Völlig vertieft in die Schnitzarbeit: Dzejna (23). Sie fühlt sich hier zu Hause

Völlig vertieft in die Schnitzarbeit: Dzejna (23). Sie fühlt sich hier zu Hause

Ein paar Gehminuten weiter unterrichtet Valida Repovac-Nikšić an der Akademie für Politikwissenschaft. Auch sie hat an Universitäten im Ausland studiert und unterrichtet; auch sie ist zurückgekehrt. Natürlich gäbe es Probleme mit einigen Vertretern des politischen Personals, sagt sie. „Aber es gibt so viele Initiativen der Zivilgesellschaft in Bosnien, die sich davon nicht aufhalten lassen.“ Gerade die Frauen, die oftmals ihre ganze Familie im Krieg verloren haben, hätten beim Wiederaufbau Enormes geleistet. Und wieder fällt der gleiche Satz: „Wie sonst als optimistisch könnte ich in die Zukunft blicken?“, fragt sie. Ja, es mache sie wütend, wenn manche die alte Kriegsrhetorik und ethnische Klischees bedienten. Dennoch: „Wenn man im Alltag mit den Menschen spricht, sieht man, dass sie in allen Landesteilen eines wollen: Arbeit, von der man leben kann. Und sie kommen miteinander aus.“ In beiden Teilen Bosniens sei die Unterstützung für einen EU-Beitritt hoch.

Valida Repovac-Nikšić unterrichtet an der Akademie für Politikwissenschaft

Valida Repovac-Nikšić unterrichtet an der Akademie für Politikwissenschaft

Auch Konjic selbst, die Stadt an der Brücke, hat sich mit dem unternehmerischen Aufbruch seiner Bewohner gewandelt. Wie sehr, zeigt ausgerechnet das über Jahrzehnte geheimste Bauwerk der Stadt: Ab 1953 ließ Tito hier seinen Kommando-Atombunker bauen – versteckt unter den Wäldern und Bergen nahe des Flusses, ist er heute noch original eingerichtet und zu besichtigen. Im Fall eines Atomkriegs hätte die gesamte jugoslawische Staatsführung hier unten überleben sollen. 

6500 m2 Tunnelsystem hätten im Ernstfall Platz für 350 Menschen geboten.

Noch heute kann man, 280 Meter unter der Erde, Titos mit ockerfarbenen Stoffsitzen ausgestattetes Konferenzraum, sein schlichtes Schlafzimmer oder die Stockbetten für die Offiziere besichtigen. „Es erschüttert mich, zu sehen, wie sehr Tito dachte, die Gefahr würde von außen kommen – nicht ahnend, dass Jugoslawien von innen zerbrechen würde und alles in diesem entsetzlichen Krieg endet“, sagt eine Besucherin. Die Abschottung, für die der Bunker steht, die Angst vor dem Außen – sie machen deutlich, wie sehr sich die Zeiten seit damals verändert haben.

„Wir stehen heute mit der Welt im Austausch“, sagt Orhan Nikšić – „nur so können wir erfolgreich sein.“ Das gilt auch für Konjic selbst: Die jahrhundertealte Schnitzkunst der Stadt wurde 2017 von der Unesco auf die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen. „Wir sind glückliche Menschen“, sagt Orhan Nikšić: „Wir erschaffen Schönheit“. Sein Vater sieht das ähnlich. „Kommt im Sommer, wenn das Wetter besser ist, wieder“, sagt Besim Nikšić , „dann angle ich euch einen Fisch aus der Neretwa und wir essen zusammen“. Tische und Sesseln dafür hat er ja reichlich.

Digitale Aufbereitung: Oliver Geyer

Fotos: Irfan Redžović, Nina Koren, Imago

Videos: Nina Koren

Karte: Flourish/OpenStreetMap, UN-OCHA/HDX

Videos: Die EU einfach erklärt