Reportage aus Brüssel
Die Sprache ist hier der Schlüssel zur Integration
REPORTAGE. Molenbeek in Brüssel wurde zum Inbegriff von negativen Folgen der Migration. Der Bezirk geriet, wie auch das nahe Schaerbeek, in die Schlagzeilen, weil nach den größten Terroranschlägen der letzten Jahre die Spur immer wieder hierher führte. Am Schauplatz beim Kampf um Respekt und gegen Stigmata.
Von Andreas Lieb
Die Geschichte beginnt früher, als man glauben möchte, bei den alten Stadtmauern, die mittlerweile längst verschwunden sind. Die Bürger da drinnen, die Bauern da draußen. Drinnen: Enge Gassen, bürgerliche Prachtbauten, Grand Place. Draußen: die umliegenden Landgemeinden mit ihren Äckern und Feldern, dort, wo die Nahrungsmittel herkamen. Die Stadtmauern verschwanden, als man feststellte, dass sie für Kanonenkugeln kein Hindernis mehr sein würden. Und dann kam die Industrialisierung.
In einer Serie von Reportagen vor der EU-Wahl leuchten wir Themen aus, die für die Zukunft Europas entscheidend werden. In diesem Teil geht es nach Belgien und um die Frage, wie Migration gelingen kann.
Das 11,74-Millionen-Einwohner-Land Belgien ist eine konstitutionelle Monarchie. Es gibt drei Amtssprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch.
Brüssel ist eine der drei belgischen Regionen – neben der Hauptstadt sind dies Flandern und die Wallonie – und hat 1,25 Millionen Einwohner.
Wir sind in Molenbeek unterwegs, einer Gemeinde innerhalb der Hauptstadt-Region, westlich der Altstadt, mit knapp 100.000 Einwohnern. Migrationsanteil? Rund 70 Prozent.
Konkret stehen wir an einem der Metro-Ausgänge der Station Comte de Flandre und der Mann, der über all das bestens Bescheid weiß, heißt Malte Woydt. Seit fast drei Jahrzehnten bietet der Historiker Stadtführungen an, die weit über die üblichen Touristenziele hinausgehen. Woydt kennt sich aus in Molenbeek und er kann endlos erzählen, wie sich der Stadtteil in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat. Brüssel sei nach Hamburg der zweite Ort gewesen, an dem die Industrialisierung ihren Lauf genommen habe. Da habe die Zuwanderung begonnen.
Wir sind inzwischen an einer der zahlreichen Kanalbrücken; der Kanal, der bis Charleroi reicht, aber nie seine ernsthafte Fortsetzung Richtung Paris gefunden hat, trennt heute die innere Stadt von Molenbeek ab. Dereinst war er die Lebensader, auch heute noch wird er von Frachtschiffen frequentiert. Auf dieser Seite entstanden alle Arten von Produktionsbetrieben – Stahlverarbeitung, Lebensmittelindustrie, Zulieferindustrie. Schon damals wurden Gastarbeiter aus anderen Teilen Europas angelockt.
Marokkaner, Türken, Spanier und zuletzt mit der letzten großen Osterweiterung der EU auch viele Rumänen und Bulgaren fanden ihren Weg hierher. Inzwischen erinnert aber nur noch das Museum La Fonderie in der Rue Ransfort an die Epoche des „Klein-Manchester“. Die Industrieanlagen sind verschwunden, die Menschen aus vieler Herren Länder sind geblieben. Brüssel gilt, nach Dubai, als Stadt mit dem größten Nationenanteil. Mehr als 180 Nationen sind hier vertreten. Molenbeek hat rund 100.000 Einwohner, die Hälfte davon hat marokkanische Wurzeln, der Anteil der Muslime liegt bei rund 40 Prozent.
Die Botschaft auf dieser Kanalbrücke ist eindeutig: Migranten willkommen, Polizisten unerwünscht.
Das alles gibt es auch an anderen Orten. Doch plötzlich geriet Molenbeek-Saint-Jean, wie es genau genommen heißt, in die internationalen Schlagzeilen. Hier nahm die längst verbotene salafistisch-terroristische Bewegung „Sharia4Belgium“ vor eineinhalb Jahrzehnten ihre Anfänge, hierher konnten die Waffen zurückverfolgt werden, die im Jänner 2015 in Paris beim Anschlag auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“ verwendet wurden, hier hielt sich der Jihadist Mehdi Nemouche auf, der das Attentat im jüdischen Museum in Brüssel verübte, von hier stammt auch Ayoub El Khazzani, der im Zug von Amsterdam nach Paris das Feuer auf Fahrgäste eröffnete. Und hierher verliefen auch die Spuren nach den Pariser Anschlägen 2015 und nach den Bombenanschlägen 2016 auf die Brüsseler Metro und auch den Flughafen Zaventem. Selbst das Schussattentat auf schwedische Fußballfans im vergangenen Jahr ereignete sich nur ein paar Straßen weiter nach der Bezirksgrenze.
„Die Wohnung der Terroristen ist nur ein Stück von meiner eigenen entfernt“, sagt Historiker Woydt. Nach den Attentaten gab es massive Durchsuchungsaktionen und enormes Medieninteresse. „Meine Kinder haben gesagt: Schau mal, unsere Straße ist im Fernsehen“. Seither versucht der Bezirk, das negative Image abzulegen. Die damalige Bürgermeisterin Françoise Schepmans drohte öffentlich einer britischen Journalistin mit Klage, weil sie Molenbeek die „Europäische Hauptstadt des Dschihadismus“ genannt hatte. Ihre Nachfolgerin ist mittlerweile Cathrine Moureaux, eine Sozialdemokratin, deren Vater schon langjähriger Bürgermeister hier war. Malte Woydt meint, die Radikalisierung sei eher nicht im Umfeld der Moscheen zu suchen: „Das waren durch die Bank Kleinkriminelle. Drogen, Diebstahl, Raub – in diesen Milieus hat sich das abgespielt.“
Mittlerweile hat sich der Stadtteil verändert. Man hat versucht, freie Flächen in kleine Parks und Sportanlagen zu verwandeln, die von Jugendlichen gutbesucht sind. In einige der alten Industriegebäude sind schicke, trendige Läden eingezogen. Das „Wohnen am Kanal“ ist interessant geworden, sowohl für reichere Stadtbewohner in feinen Lofts als auch für Sozialwohnungen. Die extrem hohe Arbeitslosigkeit von rund 30 Prozent macht dem Viertel allerdings bis heute zu schaffen.
Antworten versucht man auf verschiedenen Ebenen: „MolenGeek“ ist ein Projekt, das jungen Menschen eine Computerausbildung ermöglicht, „Ras El Hanout“ ist ein offener Theater-Workshop als Reaktion auf Syrien-Kämpfer.
Ein Museum für den kulturellen Schmelztigel Molenbeek
Die größte Ausstrahlung aber entwickelt das MMM, das „MigratieMuseumMigration“, das 2019 unter den Fittichen des Sozialprojekts „Foyer“ in der Werkhuizenstraat entstanden ist. Dort treffen wir Whitney Appiah Ampofo und Johan Leman, emeritierter Professor für soziale und kulturelle Anthropologie an der Universität Leuven, der das Integrationszentrum leitet. Am Vormittag, erzählen sie, habe es gerade eine Veranstaltung zum Roma-Tag gegeben, die Bürgermeisterin sei auch da gewesen. Roma, auch eine wachsende Gruppe im Molenbeeker Schmelztiegel.
Rund 10.000 Menschen würden zum Netzwerk des Projekts gehören, sagt Leman. In der Brüsseler Innenstadt liegt alles nah beieinander – der Südbahnhof, in dessen Nähe es mitunter zu Schießereien kommt, gehört zu Anderlecht, gleich gegenüber beginnt Brüssel-Stadt. Der Mastermind der Terrorzelle von damals habe in Laken gewohnt, die Attentäter selbst hätten sich in einer Moschee getroffen, die hart an der Grenze war: „200 Meter weiter, und es wäre nicht Molenbeek gewesen, sondern Anderlecht.“ Das ist nicht ganz ernst gemeint, zeigt aber, wie sehr man mit dem Ruf hadert.
70 Prozent der Bewohner Brüssels seien gar nicht in der Stadt geboren, sagt Leman. Eine Einbürgerung geht schnell, sie macht aus früheren Marokkanern rasch Belgier. Oft wüssten die Menschen aber selbst nicht, wo sie sich dazugehörig fühlen.
An anderer Stelle werden wir später hören, dass die Integration längst so weit fortgeschritten ist, dass in allen Bereichen des täglichen Lebens – in den Ämtern, bei der Polizei, bei der Müllabfuhr, in den Gemeinden – Zuwanderer oder deren Abkömmlinge arbeiten, was fast ein neues Problem aufwirft: Nachkommende haben weniger Druck, flämisch (oder auch französisch) zu lernen, weil sie überall in ihrer Herkunftssprache verstanden werden. Aber alle, die hier wohnen – auch und besonders die Migranten – sind bei den Kommunalwahlen wahlberechtigt. Das schlägt sich in der Politik nieder.
Niemand, mit dem man hier spricht, betreibt Schönfärberei. Arbeitslosigkeit und Wohnsituation (die Mieten sind nicht billig, viele Familien leben beengt) führen zu Drogenkriminalität, Bandenbildung, Diebstählen. Aber, so sagt Leman, nach wie vor sei der typische Verlauf der Migration zu sehen: „Sie kommen hier an, bauen ihr Leben auf und wenn sie es geschafft haben, ziehen sie von hier weg.“
Man gehe an den Stadtrand, nach Strombeek oder Dilbeek, wo die Wohnungen nicht ganz so teuer sind. In den 60ern habe man noch für ein Drittel des Einkommens wohnen können, bestätigt auch Whitney Appiah Ampofo: „Jetzt braucht man mehr als die Hälfte.“ Es sei auch für sie schwer gewesen, als junge Uni-Abgängerin einen Job zu finden: „Es ist hier nötig, beide Sprachen zu sprechen – Französisch und Flämisch.“ Zwar können viele der Zuwanderer aus Nordafrika Französisch und möglicherweise Englisch, aber eben nicht Niederländisch. In Brüssel gebe es jedoch zahlreiche Möglichkeiten für Sprachkurse. Viele Zuwanderer würden ins MMM kommen, um etwas über die Geschichte Molenbeeks zu lernen, sagt Ampofo: „Ich habe schon den Eindruck, dass es inzwischen viele öffentliche Angebote dafür gibt, dass nicht alle in derselben Blase landen, sondern eine größere Vielfalt in der Stadt entsteht.“
Auch Johan Leman spricht sich gegen die weit verbreitete Meinung aus, Radikalisierungen hätten in den Moscheen stattgefunden: „Das war hier nicht der Fall. Die Rekrutierungen für die Attentate hier sind in den Cafés und Bars erfolgt, bei den Drogendealern. Leute, die nicht in den Moscheen sind.“
Europa hingegen müsste besser funktionieren: „Das muss man mir einmal erklären, wie die algerischen Dschihadisten nach Brüssel kommen, ohne jede Kontrolle.“ Die Kommunikation klappe nicht einmal zwischen französischen und belgischen Behörden: „Molenbeek bekam jedes Jahr 9000 neue Bürger, jetzt sind es 3000.“ Natürlich seien da auch welche darunter, die von anderen Ländern ausgewiesen worden seien. Die Arbeit müsse auf allen Ebenen passieren – beginnend mit der EU-Ebene, aber die Arbeit müsse dann vor Ort stattfinden.
Die Millionen, die derzeit von der EU in Drittländer in Nordafrika fließen, sieht man in Molenbeek skeptisch: „Seien wir doch ehrlich. Die Hälfte des Geldes verschwindet gleich einmal in irgendwelchen Taschen und in der Verwaltung.“ Und stärkere Kontrollen der Außengrenzen? „Das ist einfach. Kriminelle können nicht kommen. Wer arbeiten kann, soll kommen. Stellen Sie sich vor: Wir brauchen so dringend Arbeitskräfte, Flandern will schon welche in Mexiko anwerben!“
Man müsse einen Kompromiss zwischen den Kulturen finden, ergänzt Whitney Appiah Ampofo: „Sich gegenseitig akzeptieren; es gibt auch hier Leute, die anderen nicht die Hand schütteln wollen.“ Das könne man akzeptieren, aber auch das habe Grenzen. Was beide als Problem sehen: Der Bevölkerungsrückgang mache Zuwanderung nötig, gleichzeitig gebe es kaum Unterschiede zwischen (niedrigen) Pensionen und Sozialleistungen: „Da fragen sich die Menschen schon, wofür habe ich ein Leben lang gearbeitet?“ Um gleich einen Punkt zu finden, der sie wieder optimistisch stimmt: „Hier gibt es überall Straßenmärkte, wo man billig einkaufen kann. So kommen die Leute über die Runden.“
Malte Woydt findet zum Schluss des Rundgangs durch ein Stadtviertel, das wie kein anderes gegen den schlechten Ruf kämpft, die passenden Worte: „Es gibt keine Ghettos in Brüssel. Außer in den Köpfen.“
Digitale Aufbereitung: Jonas Binder
Fotos und Video: Andreas Lieb
Karte: Flourish/OpenStreetMap