30 JAHRE ERASMUS ÖSTERREICH

Vier Studierende über ihr Auslandssemester

Am 11. Oktober 2022 feierte Erasmus 30 Jahre in Österreich und 35 Jahre in Europa. Mittlerweile ist es das größte Austauschprogramm für Studierende weltweit. Ursprünglich gegründet zur Stärkung einer europäischen Identität, zählt das Programm mittlerweile über 12 Millionen Auslandsaufenthalte und geschätzte eine Million Babys, die aus Erasmus-Beziehungen hervorgingen.

KOMMENTAR

Über das Europäisch-Sein: Der Zusammenhalt Europas darf kein künstliches Gebilde sein

Was sagen österreichische Studierende über ihren Auslandsaufenthalt? Protokolle von vier Erasmus-Studentinnen und -Studenten über ihr Semester in der Ferne.

SOPHIE WEINHANDL, 19, LÜTTICH (BELGIEN)

Waffeln und Wanderlust: Studieren in der Wallonie

Am Wiener Hauptbahnhof schließen sich mit einem lauten Zischen die Türen eines Nachtzugs. Größer als mein Koffer ist nur die Ungewissheit, was in den nächsten fünf Monaten auf mich zukommen wird. Nach zwölf Stunden Fahrt erreiche ich mein Ziel: Lüttich, Belgien.

Es ist das erste Mal, dass ich alleine im Ausland bin. Meine Familie und das Leben, das ich gewohnt war, sind 800 Kilometer entfernt. Genau wie meine Komfortzone. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft kannte ich schließlich noch niemanden und auch Belgien sah ich zum ersten Mal. Die Aussicht darauf, nun ein halbes Jahr lang ein ganz anderes Leben zu führen und dabei internationale Kontakte zu knüpfen, hat mich dazu bewegt, am Erasmus-Programm teilzunehmen. Eine große Motivation war auch der Ausbau meiner Sprachkenntnisse. So fiel mir die Auswahl aus 16 Partnerhochschulen nicht schwer. Ich entschied mich für die einzige mit Französisch als Unterrichtssprache.

Lüttich ist das, was man eine Studentenstadt nennt. Besonders nachts entsteht der Eindruck, die 200.000 Einwohner zählende Stadt bestünde nur aus jungen Menschen. Tagsüber setzt sich der Charme des Ortes aus dem Geruch nach frischen Waffeln, dem wir regelmäßig erliegen, und der warmherzigen Art der Belgier zusammen. Neue Leute kennenzulernen ist hier nicht schwer. Es gibt zahlreiche Veranstaltungen vom Erasmus-Studentennetzwerk und ich konnte auch an mir selbst beobachten, dass ich schneller und offener auf Menschen zugehe als zu Hause. Schon nach wenigen Tagen hatte ich Handynummern aus aller Welt eingespeichert. Die Fülle an unterschiedlichen Kulturen und Persönlichkeiten, die hier aufeinandertrifft, ist wohl das Beste am Erasmus-Programm.

Dank der guten Gemeinschaft fällt es auch leichter, sich einzuleben. Besonders zu Beginn konfrontiert einen der Alltag nämlich täglich mit Ungewohntem. Dabei konnte ich schon einiges über Österreich lernen. Zum Beispiel wie sauber die Straßen zu Hause sind oder wie sicher ich mich in den Städten fühle. In Lüttich sind Armut und Kriminalität bedeutend höher als in Graz – die Warnung vor Diebstählen und Überfällen war daher schon fixer Bestandteil des Willkommensprogramms für die internationalen Studenten.

Ich konnte schon einiges über Österreich lernen – zum Beispiel, wie sauber die Straßen zu Hause sind oder wie sicher ich mich in den Städten fühle.

Ist die Eingewöhnungsphase einmal geschafft, wird vieles einfacher. Französisch kommt leichter von den Lippen, die Straßen werden vertraut und das WG-Leben zur Gewohnheit. An den Wochenenden stehen mittlerweile häufig Ausflüge am Programm. Mit dem Zug lässt sich Belgien in kürzester Zeit entdecken. Unter der Woche tun wir das, wofür wir eigentlich hier sind – studieren. Schließlich sollen wir nicht nur mit unvergesslichen Erfahrungen, sondern auch mit einem Erfolgsnachweis im Gepäck nach Graz zurückkehren.

LORENZ BRUNNER, 21, NEWCASTLE (GROSSBRITANNIEN)

Horizont erweitern und mehr über Österreich lernen

"If you never try, you’ll never know" – übersetzt: "Wenn du es nie probierst, wirst du es nie wissen". So lautet eine der zentralen Textzeilen in "Fix You", meinem Lieblingslied der britischen Band Coldplay. Und tatsächlich wusste ich am Tag meiner Abreise nicht wirklich, was mich in meinem Auslandssemester in Newcastle im Nordosten Englands erwarten wird. Ein Mix aus Vorfreude, Neugierde aber auch Zweifel. Ob es nicht doch besser gewesen wäre, in der Steiermark zu bleiben. Bei Familie und Freunden. Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Heute, rund einen Monat später, bin ich mir sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Zum ersten Mal bin ich also für mehrere Monate allein im Ausland. Wobei so richtig allein ist man hier dann doch fast nie. Studentinnen und Studenten – und davon gibt es in Newcastle knapp 80.000 – prägen die Stadt. Einige davon machen so wie ich ein Auslandssemester. Ich empfinde es als eine große Bereicherung, wenn ich mich mit ihnen unterhalte, Einblicke aus ihren Heimatländern bekomme. Wenn sie beispielsweise von politischen Vorgängen erzählen und daraus eine Diskussion entsteht. Oder wenn wir am Abend einfach nur gemütlich auf ein Bier ins Uni-Pub gehen wollen, es uns dann aber doch in die Innenstadt verschlägt. Diese gleicht in der Nacht einer einzigen Partymeile. Und das von Montag bis Sonntag.

Ein weiterer Vorteil: Mein Englisch verbessert sich. Konversationen verlaufen flüssiger, meine Übersetzungs-App am Handy brauche ich immer seltener und den Lehrveranstaltungen kann ich nach einer kurzen Eingewöhnungsphase mittlerweile problemlos folgen. Die Module orientieren sich größtenteils an jenen, die ich sonst in diesem Semester in Graz gemacht hätte. Ich habe aber auch einen inhaltlichen Spielraum und darf einen Kurs über das sehr spannende, zugleich aber sehr komplexe politische System in Großbritannien besuchen. Auf unterschiedlichen Ebenen den Horizont erweitern – darum geht’s im Erasmus-Programm.

Ich lerne aber auch, und das ist mir besonders wichtig, Österreich noch mehr zu schätzen. Es sind die vermeintlich kleinen Dinge, die hier fehlen.

Ich lerne aber auch, und das ist mir besonders wichtig, Österreich noch mehr zu schätzen. Es sind die vermeintlich kleinen Dinge, die hier fehlen. Ein schwarzes Brot mit knuspriger Rinde am Morgen, Kürbiskernöl im Salat oder einfach nur ein Spaziergang durch die Herrengasse. Aber: Wenn du es nie probierst, wirst du auch das nie wissen!

MARINA MATIĆ, 22, LISSABON (PORTUGAL)

Raus aus der Komfortzone

Bei der Vorstellung, wie ein Auslandssemester in Portugal aussieht, sind die ersten Gedanken "Extended Summer". Die Realität: ist genauso. Unterbewusst hat das bestimmt meine Entscheidung beeinflusst, meinen Auslandsaufenthalt ausgerechnet in Lissabon zu verbringen. Das dachten sich aber Tausend andere auch, denn eine Unterkunft in Lissabon zu finden, ist nahezu ein Wunder. Dementsprechend verrückt sind die Preise jener, die vorhanden sind.

Aber sobald das erledigt ist, liegen einem so viele Möglichkeiten zu Füßen. Rooftop-Bars, Aussichtspunkte, Events, Cafés, Strand, Meer und Sonne. Es ist surreal, den Ort, den viele Menschen auf ihrer Bucket-List haben, Zuhause zu nennen. Ein Kurztrip an die gehypte Urlaubsdestination Algarve wird zu einem unvergesslichen Wochenendtrip. Die Entscheidung, nach der Uni an den Strand zu gehen und die Sonne zu genießen, wird schnell zum Alltag. Meine Zeit im westlichsten Teil Europas bringt mir so viele neue Erfahrungen.

Eine andere Kultur, neue Sprache, neue Umgebung – kurz gesagt, man ist komplett außerhalb seiner Komfortzone und das 24 Stunden, sieben Tage. Vor allem der Anfang hängt mit einigen Überwindungen zusammen, aber nichtsdestotrotz denke ich, dass von Zeit zu Zeit große Veränderungen im Leben wichtig sind. Unterschiede zu daheim gibt es einige. Zum einem die Gelassenheit, die hier in den meisten Situationen zu spüren ist. An der Uni erkennen wir unsere portugiesischen Kollegen, indem die Lehrveranstaltung um 9 Uhr startet und sie entspannt um 9.40 Uhr in die Klasse spazieren. Oder auch das ewig lange Warten auf den Bus, der gar nicht mehr kommt und sich einen ganz eigenen Zeitplan macht. Hier auch ein Grund, warum die meisten Portugiesen zu spät dran sind.

Unterschiede zu daheim gibt es einige. Zum einem die Gelassenheit. Oder auch das ewig lange Warten auf den Bus, der gar nicht mehr kommt.

Nicht, dass ich mich künftig immer verspäten möchte, aber ein Stück dieser Gelassenheit möchte ich auf jeden Fall nach Österreich mitnehmen. Es gehört zu den vielen tollen Erlebnissen, die ich in Lissabon machen darf.

VERENA BAUER, 25, NIKOSIA (ZYPERN)

Keine Erasmus-Partys sind auch okay

Ich bin jetzt sei fast einem Monat in Nikosia auf Zypern. Mittlerweile bin ich mehr angekommen, habe Plätze gefunden, an denen ich mich gerne aufhalte. Mit der Hitze komme ich mittlerweile auch besser zurecht. Das war an meinem ersten Tag noch nicht so: Um halb zehn Uhr morgens bin ich aus dem Flugzeug gestiegen, es war drückend heiß. Die Luft steht in der Stadt, es ist staubig, laut und irgendwie ziemlich trostlos. Eigentlich das genaue Gegenteil davon, was die Bildersuche auf Google verspricht.

Ich gebe zu, wahrscheinlich war es naiv von mir zu denken, Zypern sei nur das: ein vielversprechendes Urlaubsidyll. Vielleicht war es einfach ein unterbewusster Versuch, mich auf das Auslandssemester zu freuen, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht unbedingt machen wollte aber musste, da ein Auslandsaufenthalt an meiner Fachhochschule verpflichtend ist. Ich habe recht schnell festgestellt, dass ich mit den organisierten Erasmus-Partys wenig anfangen kann. Das war schwierig für mich, ich habe versucht mitzumachen und mich anzupassen. Von allen Seiten hörte ich ganz oft: "Da musst du hin, dort lernst du neue Leute kennen." Ich habe mir selbst den Druck gemacht, so viel wie möglich in kürzester Zeit zu erleben.

Irgendwann habe ich akzeptiert, dass es eben nicht für alle so sein muss: dass es okay ist, Heimweh zu haben, dass ich nicht unbedingt bei allen Partys dabei sein und nicht jeden Tag etwas Neues ausprobieren muss, um eine gute Zeit zu haben. In dem Augenblick, als ich dieses Gefühl zugelassen habe, ist es besser geworden. Ich habe ein nettes Café auf der türkischen Seite von Nikosia gefunden, wo ich jetzt oft stundenlang sitze, lese, schreibe oder Fotos bearbeite. Manchmal setzt sich jemand zu mir, manchmal spreche ich jemanden an. Auch die Kargheit im Landesinneren mag ich mittlerweile, vor allem, weil sie so im Kontrast zur Küste steht.

Irgendwann habe ich akzeptiert, dass es okay ist, Heimweh zu haben, dass ich nicht unbedingt bei allen Partys dabei sein und nicht jeden Tag etwas Neues ausprobieren muss.

Ich finde es immer wieder aufregend, zu Fuß die Grenze der letzten geteilten Hauptstadt der Welt zu überqueren – türkisch im Norden, griechisch im Süden. Und ich habe beschlossen, die Zeit nicht hauptsächlich dafür zu nutzen, um neue Menschen kennenzulernen, sondern mich selbst – dafür nimmt man sich nämlich zu Hause viel zu selten Zeit.

Fotos: Sophie Weinhandl (3), Lorenz Brunner (3), Marina Matić (3), Verena Bauer (3)