EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION

50 Bücher des Jahres 2024, die Sie lesen sollten

Illustration: Adobe Stock/generiert mit KI

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Vom heimischen Erfolgsroman bis zum internationalen Bestseller, von der Signa-Pleite bis zur USA-Landvermessung. Diese Bücher des Jahres 2024 empfiehlt die Redaktion der Kleinen Zeitung.

Gerade in der (Vor-)Weihnachtszeit, man nennt sie „besinnlich“, besinnt man sich gerne wieder auf die Kraft und die Magie des Lesens. Lesenden muss man das nicht erst erklären, sie ernähren sich auch Jahr über von dieser Erkenntnis; Nicht-Lesenden wird die Beschwörung der literarischen Zauberkräfte letztendlich egal sein.

Studien beweisen, dass Menschen, die lesen, den nicht-lesenden Mitmenschen – immerhin 25 Prozent der Bevölkerung – gegenüber deutliche Vorteile haben. Durch die Anstrengung, sich auf den Text konzentrieren zu müssen, entwickelt sich das Gehirn weiter und gewöhnt sich daran, sich längere Zeit auf eine Tätigkeit zu fokussieren.

Die Welt gerät zunehmend aus den Fugen, das „Uraltmedium Buch“ bietet als Gegengewicht dazu Inspiration, Kontemplation und Orientierung. Kann Literatur gehaltvollen Trost spenden in gefühlt trostloser Zeit? Unser Wort darauf – und das all der fantastischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Wir bieten Ihnen hier einen unverbindlichen Leitfaden durch das zu Ende gehende Bücherjahr 2024, von Roman  bis Sachbuch .

Belletristik

ARNO GEIGER

Reise nach Laredo

Buchtipp von Bernd Melichar

Er hat alle Ämter zurückgelegt, sich in einem Kloster zurückgezogen und möchte endlich die Person sein, die er nie sein durfte. Karl heißt dieser sterbende Mann, und dahinter steckt niemand Geringerer als der historische Kaiser und König Karl V., den Arno Geiger zum Protagonisten in seinem neuen Roman „Reise nach Laredo“ (Hanser) gemacht hat. Es ist ein ebenso magischer wie realistischer Roman über das Loslassen und Abschiednehmen. Einmal mehr beweist sich Arno Geiger als originärer Schriftsteller. Nie bietet er billige Denklösungen an, wenn es um die großen, letzten Fragen des Lebens geht. Am Ende kommt Karl an, auch bei sich selbst.

Arno Geiger. Reise nach Laredo. Hanser. 272 Seiten, 26,80 Euro.

SALLY ROONEY

Intermezzo

Buchtipp von Bernd Melichar

Der neue Roman von Sally Rooney ist ein weiterer Entwicklungsschritt in der Vita einer Schriftstellerin, die seit ihrem Debüt „Gespräche mit Freunden“ als „Stimme der Millennials“ gehandelt wird. Neu ist, dass Rooney in „Intermezzo“ (Claassen) aus der Perspektive von zwei Männern schreibt. Wie sie das tut, ist unfassbar klug und komplex. Wie in all ihren Romanen, verweigert sich Rooney auch diesmal der Eindeutigkeit und dem klischeehaften Figurenschnitzen. Die Schriftstellerin selbst und ihre Roman-Menschen sind zwar erwachsen geworden, aber sie taumeln weiterhin durch eine Welt, in der sich alte Werte und Bedeutungen längst aufgelöst haben.

Sally Rooney. Intermezzo. Claassen. 496 Seiten, 25,50 Euro.

SZCZEPAN TWARDOCH

Kälte

Buchtipp von Bernd Melichar

Er kommt aus Schlesien, dem geschichtsumtobten Eck in der Mitte Europas, aber er schreibt große Weltliteratur – der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch. Die Rahmenhandlung seines neuen Romans „Kälte“ (Rowohlt): Ein Schriftsteller namens Szczepan Twardoch trifft in Spitzbergen auf eine betagte Weltreisende, die ihm die Tagebücher eines gewissen Konrad Widuch überreicht. Der erste Eintrag aus dem Jahr 1946 beginnt so: „Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?“ Das Tagebuch spiegelt die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in Europa wider; all die Kriege, Revolutionen, Umstürze, Grausamkeiten und mörderischen ideologischen Irrungen.

Szczepan Twardoch. Kälte. Rowohlt Berlin. 432 Seiten, 27,50 Euro.

ELIAS HIRSCHL

Content

Buchtipp von Martin Gasser

Inmitten einer völlig zerstörten Natur stehen mehr oder weniger rasch verfallende Fabrikshallen, in denen Menschen sitzen und Content schaffen: Digitale Inhalte über täuschend echt ausschauende Pseudokuchen und Filmstars, Lebenshilfe-Listicals und Click-Bait-Geschichten. Sie wissen nicht warum, sie wissen nicht für wen. Der Wiener Schriftsteller Elias Hirschl schrieb mit seinem unheimlich guten, ebenso „Content“ betitelten Roman (Zsolnay) eine bittere, aber sehr unterhaltsame Satire über digitale Medien, die zuweilen platt und übertrieben scheint, aber natürlich nichts weniger als ungemein nahe an der Realität gebaut ist.

Elias Hirschl. Content. Zsolnay. 224 Seiten, 24,50 Euro.

VLADIMIR SOROKIN

Doktor Garin

Buchtipp von Martin Gasser

Die ehemaligen Staatsoberhäupter der G-8 leben in einem russischen Sanatorium, unter der Obhut mehr oder weniger fürsorglicher Ärzte. Lauter wahnsinnige Ärsche, die sich ihre Zeit mit derben Späßen und Elektroschocks vertreiben. So beginnt Vladimir Sorokin seinen Abenteuerroman „Doktor Garin“ (Kiepenheuer & Witsch), einer Phantasmagorie aus der Zukunft, in der der russische Exilautor erneut seine Fabulierkünste unter Beweis stellt. Zwischen barockem Schelmenroman, Jules Verne, Arno Schmidt, zwischen Pseudo-Romantik und heftigen Obszönitäten jagt Sorokin seine Leserinnen und Leser einmal quer durch die Apokalypse.

Vladimir Sorokin. Doktor Garin. Kiepenheuer & Witsch. 592 Seiten, 27,50 Euro.

WERNER BERG,
CHRISTINE LAVANT

Über fallenden Sternen

Buchtipp von Karin Waldner-Petutschnig

Es sind Herzenszeugnisse einer verbotenen Liebe: Die dramatische Liebesbeziehung der Dichterin Christine Lavant und des Malers Werner Berg dokumentiert der mehr als tausend Seiten starke Band „Über fallenden Sternen“ (Wallstein), herausgegeben von Berg-Enkel Harald Scheicher und der Germanistin Brigitte Strasser. Der über fünf Jahre dauernde, jahrzehntelang gesperrte Briefwechsel (von 1950 bis 1955) macht tabulos und authentisch die Leidenschaft zweier Menschen deutlich, die einander verfallen waren – eine aufwühlende literarische Korrektur des Bildes von der lange als „katholisches Kopftuchweiblein“ verkannten Poetin Lavant.

Werner Berg, Christine Lavant. Über fallenden Sternen. Wallstein. 1088 Seiten, 48,50 Euro.

MONIKA HELFER

Wie die Welt weiterging

Buchtipp von Hubert Patterer

Sie schreibt Sätze, die ganze Abgründe aufreißen, wie: „Sie liebte ihn, weil er bald sterben würde.“ Monika Helfer hat 365 Alltagsminiaturen zu einem wunderbaren Lebensbuch gebündelt. „Wie die Welt weiterging, Geschichten für jeden Tag“, heißt der Erzählband (Hanser). Wem ein Buch im Jahr genügt, der müsste dieses lesen, weil hier jede Episode zu Literatur wird. Man kann dann sagen, man habe 365 Bücher gelesen. Es sind Kalenderblätter, die vom Leben erzählen, das aus den Fugen gerät, eine Wendung erfährt oder zäh weiterfließt. Helfer zeichnet ihre Menschen mit kargen Strichen, aber tiefer Zuneigung. Noch sind sie nicht verloren. Das ist ihr Trost.

Monika Helfer. Wie die Welt weiterging. Hanser. 768 Seiten, 33,50 Euro.

BARBI MARKOVIĆ

Minihorror

Buchtipp von Hubert Patterer

Die Welt ist nicht in Ordnung, heißt es an einer Stelle in Barbi Markovićs Buch „Minihorror“ (Residenz). Mini und Miki – sie Serbin, er Mühlviertler – versuchen dennoch, sich in ihr zurechtzufinden. Sie wollen in unguten Zeiten das Richtige tun und kommen sich doch in den Zumutungen des Alltäglichen abhanden. Minihorror, das sind die kleinen Schrecken im Schatten der großen. Miki und Mini heißen so, weil das Buch sich liest wie ein Cartoon. Das Ernste kippt ins Surreale, das Schräge ins Abgründige, und retour. Das ist so fulminant frech, dass es mörderisch Spaß macht, das Paar bei seiner Rocky Horror Show durch eine entsicherte Welt zu begleiten.

Barbi Marković. Minihorror. Residenz Verlag. 192 Seiten, 25,00 Euro.

ALEX BEER

Die weiße Stunde

Buchtipp von Marianne Fischer

Die Menschen stöhnen unter der Inflation, die „Hakenkreuzler“ sind im Aufwind und grauenhafte Frauenmorde sorgen für Angst im Wien des Jahres 1923. Alex Beer schreibt in „Die weiße Stunde“ (Limes) an ihrer mehrfach preisgekrönten Reihe rund um den widerspenstigen, genialen Kommissar August Emmerich und seinen Assistenten Ferdinand Winter weiter – süffig erzählte, hervorragend recherchierte Krimikost, die tief in die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen der 1920er-Jahre führt. Beer erzählt die Widersprüche der Zeit anhand ihrer klug gezeichneten Figuren. Der Tanz am Rand des Abgrunds als großes Lesevergnügen.

Alex Beer. Die weiße Stunde. Limes. 368 Seiten, 23,50 Euro.

ROSS THOMAS

Die Narren sind auf unserer Seite

Buchtipp von Marianne Fischer

Ein Ex-Spion soll Anfang der 1970er eine texanische Stadt korrumpieren. Denn angesichts der lukrativen Aussicht, dass sich die Air Force ansiedeln will, sollen doch die Richtigen die Stadtratswahlen gewinnen. Also reist Lucifer Dye ins fiktive Swankerton, wo er sich einfach beiden Seiten anpreist. Der US-Autor Ross Thomas (1926–1995) war Journalist und Politikberater. „Die Narren sind auf unserer Seite“ (Alexander), erstmals 1972 auf Deutsch erschienen, erzählt lakonisch und mit vergnüglicher Bosheit von Gier und Leichtgläubigkeit, von Korruption und gesellschaftlichem Verfall – fünfzig Jahre nach Erscheinen noch immer brandaktuell.

Ross Thomas. Die Narren sind auf unserer Seite. Alexander Verlag Berlin. 584 Seiten, 21,50 Euro.

LIZA CODY

Die Schnellimbiss-Detektivin

Buchtipp von Marianne Fischer

Sie gehört seit Jahrzehnten zu jenen feministischen Krimiautorinnen, die starke Frauen in den Mittelpunkt ihrer Bücher stellen: Liza Cody hat mit der ehemaligen Polizistin Hannah eine widerborstig-zornige Figur geschaffen, die mit sexistischen Methoden aus dem Polizeidienst gemobbt wurde. Nun schlägt sie sich als Privatermittlerin mit kleineren Fällen herum, ihr tägliches Brot verdient sie sich aber in einer Imbissbude in einem Londoner Park. Liza Cody erzählt in „Die Schnellimbiss-Detektivin“ (Ariadne) mit viel Liebe zu schrägem Personal und schwarzem Humor von den immer tiefer werdenden Gräben im gesellschaftlichen Geflecht.

Liza Cody. Die Schnellimbiss-Detektivin. Ariadne. 352 Seiten, 19,00 Euro.

RICHARD OSMAN

Wir finden Mörder

Buchtipp von Marianne Fischer

Schräges, sympathisches Personal kennt man von Richard Osman aus seinem „Donnerstagsmordclub“. Nun hat der britische Fernsehmoderator eine neue Reihe rund um eine Personenschützerin gestartet, die in „Wir finden Mörder“ (List) immer dann in der Nähe zu sein scheint, wenn Influencer ermordet werden. Ihr Schwiegervater, ein Ex-Kommissar, sowie eine aberwitzig reiche Thrillerautorin eilen zu Hilfe, ein Auftragskiller und ein Bösewicht, der dank ChatGPT wie ein englischer Gentleman klingt, mischen auch mit. Klingt absurd? Ist es stellenweise auch. Und macht dank des trockenen, britischen Humors gerade deshalb Spaß.

Richard Osman. Wir finden Mörder. List. 432 Seiten, 24,50 Euro.

YEVGENIA BELORUSETS

Über das moderne Leben der Tiere

Buchtipp von Tina Perisutti

Es menschelt ganz schön, wenn die ukrainische Autorin, Fotografin und Künstlerin Yevgenia Belorusets Beobachtungen zu Tieren anstellt. Bissiger Humor durchzieht die kurzen Texte, die in Form von beschreibenden Vorträgen oder persönlichen Geschichten sowie Märchen „Über das moderne Leben der Tiere“ (Matthes & Seitz) erzählen und durch Schwarz-Weiß-Fotografien erweitert werden. Ein lohnender Perspektivenwechsel zwischen Mensch und Tier oder doch Tier und Mensch, der einen wunderbaren Rattenschwanz an Analogien mit sich zieht und einen anderen Blick auf die Ukraine zulässt, die seit Jahren von Gewalt geprägt ist.

Yevgenia Belorusets. Über das moderne Leben der Tiere. Matthes & Seitz. 209 Seiten, 23,50 Euro.

CORDULA DAUS

Sehr

Buchtipp von Tina Perisutti

Bedeutete die Minne im Hochmittelalter feinsinnige, höfische Liebe, so verrohte sie im Spätmittelalter zusehends und verkam zum triebhaften Begehren. Cordula Daus spielt sowohl auf dem Cover ihres Debütromans „Sehr“ (Ritter) als auch mit Form- wie Sprachelementen mit dieser Zeit: Ihre mittelalte, 45-jährige Protagonistin Kay wandelt durch zehn „Dienste“, um ihre weibliche Lust auszuleben. Kurze Prologe zu den einzelnen Erlebnissen sind hier hilfreich, wenn sich experimentierfreudige Sprache mit sinnenfreudiger Fantasie vereinigt, aber auch in weniger freudige Gefühlswelten der selbst bestimmten Kay führt.

Cordula Daus. Sehr. Ritter Klagenfurt. 128 Seiten, 20,00 Euro.

LYDIA DAVIS

Unsere Fremden

Buchtipp von Ute Baumhackl

Man kann aus allem eine Geschichte machen, auch aus fast nichts; kaum jemand führt das in der Gegenwartsliteratur so elegant und witzig vor wie Lydia Davis. Die US-amerikanische Erzählerin, die einige Grazer Jahre in ihrem Lebenslauf und mit Droschl bis heute einen Grazer (Literatur-)Verlag hat, verleiht ihren Texten in „Unsere Fremden“ einzigartigen Schliff – nachzulesen etwa in „Baumeister“: „Mit seiner ausgezeichneten Handwerkskunst / steht er dort oben auf seiner Leiter / und ruiniert mit größter Sorgfalt / das älteste Haus der Stadt.“ In vier Zeilen ist alles gesagt. Manche der Stories sind ausführlicher, alle sind prägnant.

Lydia Davis. Unsere Fremden. Literaturverlag Droschl. 312 Seiten, 27,00 Euro.

JOCHEN RAISS

Frauen auf Bäumen

Buchtipp von Ute Baumhackl

Wie war das bei Dostojewski? „Ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorbeigehen kann, ohne glücklich zu sein“, schrieb er in „Der Idiot“. Umso glücklicher in seinem Sinne macht die Wiederauflage des lang vergriffenen Fotobuchs „Frauen auf Bäumen“ (Hatje Cantz). Die Flohmarktfunde des Fotografen Jochen Raiß (†2022), der seiner Auswahl einen ausdrucksvollen kleinen Essay über das Sammeln beifügte, zeigen Frauen aus dem frühen 20. Jahrhundert, die vergnügt auf Bäumen stehen, sitzen, liegen, turnen. Man sieht störrische Momente jenseits verordneter Damenhaftigkeit; ­jedes Bild eine köstliche Miniatur des Eigensinns.

Jochen Raiß. Frauen auf Bäumen. Hatje Cantz Verlag. 112 Seiten, 20,00 Euro.

ANTONIO SCURATI

M. Das Buch des Krieges

Buchtipp von Thomas Götz

Es gibt keinen Mangel an Büchern über den Faschismus. Dieses aber sticht wegen seiner gewagten Mischform heraus. Der italienische Romancier Antonio Scurati wählte für „M“, seine auf bisher vier Bände angewachsene Lebensbeschreibung Benito Mussolinis, die Romanform, hält sich aber streng an die Fakten, auch im aktuellen Band „Das Buch des Krieges“ (Klett-Cotta). Aus Archivalien, Briefen, Tagebüchern fügt er ein Bild der Epoche aus der Perspektive des Protagonisten zusammen. Scuratis Pandämonium des italienischen Faschismus zieht in seiner schonungslosen Anschaulichkeit von Band zu Band tiefer in seinen Bann.

Antonio Scurati. M. Das Buch des Krieges. Klett-Cotta. 672 Seiten, 33,50 Euro.

MARTINA HEFTER

Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Buchtipp von Susanne Rakowitz

Ihr physischer Radius ist beschränkt: Juno sorgt für Jupiter, dessen Mobilität krankheitsbedingt weniger wird. Doch sie erweitert ihre Welt, indem sie bei einem Love-Scammer, einem Internetbetrüger, in nächtlichen Chats ihre Grenzen austestet. Martina Hefter (Deutscher Buchpreis 2024!) kreiert im teilweise autobiografischen Buch „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ (Klett-Cotta) einen kleinen Kosmos, den sie schnörkellos mit den Themen der Zeit vollpackt: von der Welt der Care-Arbeit, die Pflegende beständig zu Bittstellern macht. Eine dringliche Forschungsreise über das Brauchen, Gebrauchtwerden und das Ausnutzen.

Martina Hefter. Hey guten Morgen, wie geht es dir?. Klett-Cotta. 224 Seiten, 23,50 Euro.

TIMON KARL KALEYTA

Heilung

Buchtipp von Susanne Rakowitz

Ein Ort, wie ein Glücksversprechen! Im Wellnessressort San Vita soll der Protagonist des Buches seine Schlaflosigkeit loswerden. Ein Wunderland der Heilsversprechen, wo das Individuum auf Fünfsternniveau vom Leiden an der 24/7-Gesellschaft befreit werden soll. „Heilung“ von Timon Karl Kaleyta (Piper) ist eine herrlich schräge Erzählung über die Zivilisationskrankheit Leistungsdruck. Im Zentrum der Geschehnisse steht eine Art ausgehöhlter Mannscher Zauberberg, wo man mit aalglatter Profi-Empathie und Künstlicher Intelligenz die Klienten unter Hochdruck aufpoliert, um sie dann runderneuert wieder ins Hamsterrad einzuschleusen.

Timon Karl Kaleyta. Heilung. Piper. 208 Seiten, 23,50 Euro.

SAMANTHA HARVEY

Umlaufbahnen

Buchtipp von Susanne Rakowitz

Vielleicht sollte man künftig nicht mehr sagen: Ach, schau dir die Sache doch aus der Vogelperspektive an. Besser: aus der Allperspektive! Erstaunlich, wie Samantha Harvey ihre Leserschaft wie von Zauberhand auf eine Raumstation beamt, um dort zu staunen. Mit den sechs Astronauten, vier Männer und zwei Frauen, immer wieder die Erde zu umrunden und sie als das wahrzunehmen, was sie ist: ein Wunder. Wie man, abgehoben von allem Irdischen, sich mit der Crew der wortwörtlichen Anschauung der Welt hingibt. Die „Umlaufbahnen“ (dtv Verlag, Booker Prize 2024!) zieht einen in die Allperspektive und weckt die Sehnsucht nach „da oben“.

Samantha Harvey. Umlaufbahnen. dtv. 224 Seiten, 23,50 Euro.

RICHARD POWERS

Das große Spiel

Buchtipp von Susanne Rakowitz

Eine Meeresforscherin, eine Künstlerin, zwei vom Spieltrieb durchdrungene beste Freunde und das Südseeatoll Makatea. Pulitzer-Preisträger Richard Powers hält viele Zügel in der Hand, um alle in die richtige Richtung zu lenken. Wie bei einer guten Schachpartie lässt er sich Zeit, um das, was die Protagonisten antreibt, ihre Passionen, wie ein Rochen langsam zu umkreisen. Stück für Stück setzt er das Puzzle zusammen, das sie alle miteinander verbindet – eine Erde, die am Limit ist und eine Macht namens Künstliche Intelligenz, die am Anfang steht. „Das große Spiel“ (Penguin) ist ein Buch, dessen eindringliche Botschaften lange nachwirken.

Richard Powers. Das große Spiel. Penguin. 512 Seiten, 27,50 Euro.

PETRA PELLINI

Der Bademeister ohne Himmel

Buchtipp von Karin Waldner-Petutschnig

Hier wird ein schwergewichtiges Thema leichtfüßig erzählt: Wer Arno Geigers Erfolgsroman „Der alte König in seinem Exil“ über seinen Vater gerne gelesen hat, wird auch die mit schnoddrigem Jugend-Ton, witzigen Dialogen und herzerwärmenden Szenen erzählte Geschichte „Der Bademeister ohne Himmel“ (Kindler) über einen 86-Jährigen mögen, der Schwimmflügerln zählt und sich mit der Zahnbürste die Haare kämmen will. Die Vorarlberger Autorin Petra Pellini schreibt über einen Menschen mit fortschreitender Demenz. Wie sie das tut, ist aber so berührend, heiter und zärtlich, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen mag.

Petra Pellini. Der Bademeister ohne Himmel. Rowohlt Kindler. 320 Seiten, 24,50 Euro.

BEATRICE SALVIONI

Malnata

Buchtipp von Karin Waldner-Petutschnig

Schon beim Griff zu Betrice Salvionis Debüt „Malnata“ (Penguin) freut man sich auf die widerständige Person mit wildem Blick und dunklem Haarschopf, die da abgebildet ist: Malnata wird die zwölfjährige Maddalena genannt, weil sich die Unglücksfälle in ihrer Umgebung zu häufen scheinen und sie sich nicht in die patriarchale Gesellschaft im Italien der 1930er Jahre einzwängen lassen will. Ja, diese feministische Coming-of-age-Geschichte erinnert an Elena Ferrantes „Meine geniale Freundin“. Aber nein, es ist keine altbekannte Schilderung einer Mädchenfreundschaft. Diese Story ist um einiges direkter und auch deftiger.

Betrice Salvioni. Malnata. Penguin. 272 Seiten, 25,50 Euro.

JACKIE THOMAE

Glück

Buchtipp von Karin Waldner-Petutschnig

Mutter werden oder nicht? Das fragen sich die Journalistin Marie-Claire und die Politikerin Anahita, die mitten im Wahlkampf steht. Die beiden begegnen einander in Jackie Thomaes Roman „Glück“ (Claassen) bei einem Interview, beide leben in Berlin und haben anfangs recht konventionelle Vorstellungen zum Thema Fortpflanzung. Doch der Erwartungsdruck von Familie und Gesellschaft macht den Frauen zu schaffen, deren biologische Uhr langsam abläuft. Im zweiten Teil des Buches wird es dystopisch, indem ein neues Medikament zur Verhinderung der Menopause getestet wird. Warum sollen nur Männer so lange Zeit haben?

Jackie Thomae. Glück. Claassen. 432 Seiten, 25,50 Euro.

Sachbücher

YUVAL NOAH HARARI

Nexus

Buchtipp von Thomas Golser

„Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit“ hat Kultstatus, mit „Nexus“ (Penguin) legt Yuval Noah Harari nach. Der Star-Intellektuelle leuchtet leicht fassbar aus, wie Homo sapiens Wissen erwirbt, verwaltet und weitergibt. Die Historie menschlicher Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz ist atemberaubend, aber nicht immer ein Erfolgsmodell: Harari fordert ein, der „KI-Revolution in politischen Debatten mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen“ und kommt zum offensichtlichen, aber oft negierten Schluss: Technologie garantiert nicht gesellschaftlichen Fortschritt. Hochspannender Stoff!

Yuval Noah Harari. Nexus. Penguin. 656 Seiten, 29,50 Euro.

JO HEDWIG TEEUWISSE

Fake History

Buchtipp von Thomas Golser

Wir leben in einem Zeitalter, in dem uns Wissen wie nie zuvor zur Verfügung steht, doch trotzdem fliegen uns Verschwörungsmythen und gestreute Unwahrheiten um die Ohren – von der noch gar nicht abwägbaren Wucht Künstlicher Intelligenz ganz zu schweigen: Man sitzt aber schon lange manchem Irrglauben auf, wie Jo Hedwig Teeuwisse in „Fake History“ (Heyne) aufzeigt: Die präsentierten Mythen bzw. 101 Dinge, die so nie passiert sind, aber alle für wahr halten, sind kurzweilig zu lesen. Das Buch der niederländischen Historikerin ist ein ausführlicher Faktencheck, bei dem man viel über Geschichte und Wahrheitssuche lernt.

Jo Hedwig Teeuwisse. Fake History. Heyne. 432 Seiten, 19,00 Euro.

JAN HAFT

Unsere Wälder

Buchtipp von Thomas Golser

Bücher über Bäume und Wälder gibt es mittlerweile reichlich – und das zu Recht: „Unsere Wälder“ (Penguin) von Jan Haft ist eine Empfehlung, weil es einen ganzheitlichen Blick auf die unschätzbare Bedeutung gesunder Baumbestände wirft: Der Münchener Biologe leuchtet aus, wie komplex und verzweigt das Ökosystem Wald ist – und wie stark es durch zivilisatorische Fehlentwicklungen wie Verbauung und Klimaerhitzung bedroht ist. Haft räumt mit manchem Irrglauben auf, etwa, dass nur ein dichter Wald ein guter sei. Ein relativ schlankes, aber rundes und fundiertes Werk, dem auch ein üppiger Bildteil gut steht. Mensch, informiere dich!

Jan Haft. Unsere Wälder. Penguin. 256 Seiten, 25,50 Euro.

THOMAS HOFER,
BARBARA TÓTH

Wahl 2024. Krisen, Kickl, Kanzlerkiste

Buchtipp von Walter Hämmerle

Einen umfassenden Blick hinter die Kulissen des historischen Super-Wahljahrs 2024: Das bietet der Sammelband „Wahl 2024. Krisen, Kickl, Kanzlerkiste“ (Goldegg), herausgegeben vom Politikberater Thomas Hofer und der Journalistin Barbara Tóth. Im Fokus steht der Aufstieg der FPÖ zur stärksten Kraft im Land, aber auch das vergeblich ausgerufene Kanzler-Duell der ÖVP von Karl Nehammer mit Herbert Kickl sowie der Absturz der SPÖ unter Andreas Babler auf Platz drei. Die gerade für Politikinteressierte aufschlussreichen Beiträge stammen von Insidern aus dem Maschinenraum der Politik und externen Beobachtern.

Thomas Hofer, Barbara Tóth. Wahl 2024. Krisen, Kickl, Kanzlerkiste. Goldegg. 250 Seiten, 25,00 Euro.

GEORG RENNER

Die letzten Jahre der Zweiten Republik

Buchtipp von Walter Hämmerle

Wann kommt die Zweite Republik an ihr Ende? Was kommt danach – und ist das nun eine gute oder schlechte Entwicklung? Diese Fragen treiben Österreich seit 40 Jahren um. In „Die letzten Jahre der Zweiten Republik“ (Ecowing) beschreibt der Journalist Georg Renner die Erosion staatlicher Strukturen, Kompetenz und Verlässlichkeit anhand von Migration, Pandemie & Co. Der ehemalige Co-Chef der Kleinen-Innenpolitik zeichnet die Krisen der vergangenen zehn Jahre – von Migration über Corona bis zu Energie und Teuerung – wie die mehr oder weniger hilflosen Versuche der verschiedenen Koalitionen nach, dieser Herr zu werden.

Georg Renner. Die letzten Jahre der Zweiten Republik. Ecowing. 184 Seiten, 25,00 Euro.

FRANZ FISCHLER

Die Kraft der Mitte

Buchtipp von Walter Hämmerle

Das politische Leben Franz Fischlers umfasst viele Jahrzehnte und Ebenen. Der stets bärtige Tiroler, mittlerweile 78 Jahre alt, war Landwirtschaftsminister in Österreich, EU-Kommissar, allzeit umtriebig, etwa als Präsident des Ökosozialen Forums und des Europäischen Forums Alpbach, und ein kritischer Begleiter seiner ÖVP. In „Die Kraft der Mitte“ („Gemeinsam für Europa: Eine Politiker-Biografie im Zeichen des Miteinanders“, Ecowing) legt er ein nachdenkliches Buch über seinen Lebensweg, der ihn als Bauernbub bis in die höchsten Etagen der Europäischen Union führte, und die Veränderungen in Politik und Gesellschaft vor.

Franz Fischler. Die Kraft der Mitte. Ecowing. 192 Seiten, 26,00 Euro.

ANGELA MERKEL

Freiheit

Buchtipp von Ronald Schönhuber

Es ist nicht zuletzt der Versuch, die Deutungshoheit über das eigene politische Leben zu bewahren. Auf den 736 Seiten ihrer „Freiheit“ (Kiepenheuer & Witsch) genannten Memoiren erinnert sich die deutsche Altkanzlerin Angela Merkel nicht nur an die wichtigsten Momente ihrer 16-jährigen Amtszeit, sondern versucht auch heute kontroversiell betrachtete Entscheidungen – sei es ihre Russlandpolitik oder die Öffnung der Grenzen 2015 – zu erklären und zu rechtfertigen. „Freiheit“, das bereits das erfolgreichste deutsche Buch des Jahres ist, gibt aber auch Einblicke in den Mensch Merkel – vom Job als Bardame bis zur Lieblingsspeise.

Angela Merkel. Freiheit. Kiepenheuer & Witsch. 736 Seiten, 44,50 Euro.

PETER R. NEUMANN

Die Rückkehr des Terrors

Buchtipp von Ronald Schönhuber

Mehr aktuelle Brisanz besitzen nach dem tödlichen Messerangriff von Solingen und den Anschlagsvorbereitungen auf das Taylor-Swift-Konzert in Wien derzeit wenige Bücher. In „Die Rückkehr des Terrors“ (Rowohlt Berlin) beschreibt Extremismusforscher Peter Neumann die neue Gefahr, die er auf die westlichen Gesellschaften zukommen sieht. Denn der Terror hat nach dem Hamas-Massaker des 7. Oktober nicht nur einen neuen Schub bekommen, sondern hat sich auch gewandelt. So gibt es eine neue Generation von Attentätern, die sich in den Echokammern der sozialen Medien radikalisiert. Viele der TikTok-Dschihadisten sind noch im Teenageralter.

Peter R. Neumann. Die Rückkehr des Terrors. Rowohlt Berlin. 176 Seiten, 23,50 Euro.

FRANZ-STEFAN GADY

Die Rückkehr des Krieges

Buchtipp von Ronald Schönhuber

Franz-Stefan Gady ist seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine einer der großen Erklärer dieses Konflikts im deutschsprachigen Raum. In seinem neuen Buch „Die Rückkehr des Krieges“ (Quadriga) seziert der Militäranalytiker, der auch regelmäßig als Experte in der Kleinen Zeitung schreibt, nicht nur den Status quo, sondern wirft auch einen detaillierten Blick auf die drohenden Kriege der Zukunft. Gady zufolge müssen wir wieder lernen, mit militärischen Konfrontationen umzugehen. Ein Punkt, in dem vor allem Europa hinterherhinkt, das jahrzehntelang kaum in die eigenen Abschreckungsfähigkeiten investiert hat.

Franz-Stefan Gady. Die Rückkehr des Krieges. Quadriga. 368 Seiten, 25,50 Euro.

SHILA BEHJAT

Söhne großziehen als Feministin

Buchtipp von Barbara Haas

Mädchen müssen „empowered“ werden, schon klar. Damit sie im Patriarchat besser zurechtkommen. Aber was, wenn die Mama als Feministin plötzlich zwei Söhne zur Welt bringt? Diese Frage hat sich Autorin Shila Behjat gestellt und zwar in „Söhne großziehen als Feministin“ (Hanser). Und bei der Lektüre kommt etwas in Gang, denn natürlich ist die Erziehung der Motor der Persönlichkeit und eine Zeit, in der sich die Persönlichkeit – entweder in misogyn männlich oder wertschätzend männlich – entwickelt. Es ist ein subjektiver Essay, doch lernen kann man allerhand, etwa, dass die Mutterrolle auch heute politisch ist. Und so nebenbei: die Vaterrolle auch.

Shila Behjat. Söhne großziehen als Feministin. Hanser. 200 Seiten, 24,50 Euro.

LUCY COOKE

Bitch

Buchtipp von Barbara Haas

Schwach, mit der Aufzucht des Nachwuchses beschäftigt und sexuell passiv. Mit diesen Zuschreibungen, weibliche Tiere betreffend, räumt die britische Zoologin Lucy Cooke auf. In „Bitch – ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich“ (Malik) lernt man promiskuitive Löwinnen kennen oder Albatrosweibchen, die sich lieber mit anderen „Freundinnen“ zusammentun, um den Nachwuchs zu versorgen. Es gibt gender-fluide Wesen, so kann etwa der Tabakbarsch sein Geschlecht pro Tag bis zu 20-mal wechseln, oder Geckos, die sich rein weiblich fortpflanzen. Der „Observer“ sagt: „Ein Wahnsinnsspaß“. Stimmt.

Lucy Cooke. Bitch – ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich. Malik. 432 Seiten, 23,50 Euro.

KRISTINA LUNZ

Empathie und Widerstand

Buchtipp von Barbara Haas

„Nach diesem Buch werden Sie anders auf die Welt blicken. Und eine Einladung zu mutiger Mitmenschlichkeit erhalten haben: Das Silencing, mit dem strukturelle Gewalt normalisiert wird, können wir nur solidarisch brechen.“ Das sagt die Ökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel über das neue Buch von Kristina Lunz. In „Empathie und Widerstand“ (Ullstein) geht die Gründerin des „Zentrums für feministische Außenpolitik“ der Frage auf den Grund, wie man einer Welt, die von Kriegen und Krisen dominiert scheint, Konstruktives entgegensetzen kann. Es ist wohltuend, Perspektiven vermittelt zu bekommen.

Kristina Lunz. Empathie und Widerstand. Ullstein. 160 Seiten, 22,50 Euro.

BYUNG-CHUL HAN

Der Geist der Hoffnung

Buchtipp von Martin Gasser

Man darf nicht glauben, dass Hoffnung etwas mit Optimismus oder gar mit der Kraft des positiven Denkens zu tun hat. Mit solchen Irrtümern räumt der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han gleich einmal auf. „Der Positivitätskult im neoliberalen Regime entsolidarisiert die Gesellschaft“, schreibt er in „Der Geist der Hoffnung“ (Ullstein), einem großen Essay gegen eine Gesellschaft der Angst und des Egoismus. Hoffnung sei dagegen eine Triebfeder, die Gestaltungsräume öffne und uns zu Handlungen antreibe. „Die Hoffnung baut einen Steg über den Abgrund, in den die Vernunft nicht hineinzublicken vermag.“

Byung-Chul Han. Der Geist der Hoffnung. Ullstein. 128 Seiten, 24,50 Euro.

KARL SCHLÖGEL

American Matrix

Buchtipp von Thomas Götz

Karl Schlögel ist berühmt für Schlüsselwerke über Russland, überraschend war jetzt sein Themenwechsel. In „American Matrix“ (Hanser) wendet der deutsche Historiker die von konkreten Erfahrungen ausgehende Erzählweise seiner Russland-Bücher auf die USA an. Schlögel legt Raster aus Highways, Bahn- und Fluglinien über das Land, zeichnet die Reisebewegungen von Amerika-Fahrern wie Alexis de Tocqueville und Max Weber nach und erzählt von seinen Reisen im Greyhoundbus. Er besucht ikonische Orte, schildert Sitten und Unsitten, Menschheitsverbrechen und Großleistungen. Eine anregende Landvermessung. 

Karl Schlögel. American Matrix. Hanser. 832 Seiten, 47,50 Euro.

MANFRED PRISCHING

Verlorenheit

Buchtipp von Thomas Götz

Der Soziologe Manfred Prisching nennt seinen Versuch der Deutung eines grassierenden Lebensgefühls „Verlorenheit“ (Psychosozial-Verlag). Ausgestattet mit dem Sezierbesteck seiner Zunft und einem unerschöpflichen Wissensfundus analysiert der Autor zeitgenössische Depressionszustände und ihre Ursachen. Prisching sieht elementare „Stabilitätskonstellationen ins Wanken geraten“. Die Angst vor Verlust betreffe das Gemeinschaftsgefühl, den Wohlstand, die Sicherheit wie die Orientierung. Wer sich mit ihm auf die Suche nach Gründen und Auswegen begibt, wird immunisiert gegen verlockende Vereinfachungen von Links und Rechts.

Manfred Prisching. Verlorenheit. Psychosozial-Verlag. 171 Seiten, 21,50 Euro.

LISA RETTL,
PETER PIRKER

„Ich war mit Freuden dabei“

Buchtipp von Tina Perisutti

Eine österreichische Geschichte haben die Historiker Lisa Rettl und Peter Pirker in der Neuauflage ihres 2010 erschienenen Buches „Ich war mit Freuden dabei“ (Mauthausen Studien der KZ-Gedenkstätte Mauthausen) zum Kärntner Arzt Sigbert Ramsauer wiederaufleben lassen. Gut aufbereitet gibt die Biografie des KZ-Arztes Einblick in die Gräuel, die im KZ-Loibl passierten; aber auch, wie die britische Justiz agierte und wie NS-Verbrecher in Österreich als angesehene Menschen in der Gesellschaft leben konnten. In einem neuen Kapitel kommt auch die Sicht der Opfer durch Berichte und Fotos aus dem Nachlass des jüngsten Gefangenen im KZ-Loibl-Nord.

Lisa Rettl, Peter Pirker. „Ich war mit Freuden dabei“. New Academia Publishing. 376 Seiten, 33,50 Euro.

MARTYN RADY

Vom Rhein bis zu den Karpaten

Buchtipp von Thomas Götz

Wo beginnt Mitteleuropa, wo endet es? Der britische Historiker Martyn Rady verzettelt sich nicht lange in Details. Ihn interessiert vielmehr der weite Raum zwischen Rhein und Karpatenbogen, unabhängig davon, wie spätere Staaten und Nationen ihn aufteilten. In kühn gesetzten Pinselstrichen zeichnet er in „Vom Rhein bis zu den Karpaten“ (Rowohlt Berlin) die Entwicklung eines von Westen wie von Osten stets bedrohten Landstrichs. In der lebendigen Tradition angelsächsischer Geschichtsschreibung, die das Erzählen über den Fakten nicht vergisst, gelang Rady solcherart ein lebendiges Porträt des Herzstücks unseres Kontinents.

Martyn Rady. Vom Rhein bis zu den Karpaten. Rowohlt Berlin. 688 Seiten, 40,50 Euro.

ED CONWAY

Material World

Buchtipp von Manfred Neuper

Dass im Rahmen diverser Auszeichnungen bereits kurz nach Erscheinen des Buchs „Material World“ (Hoffmann und Campe) von Ed Conway von „einem modernen Klassiker“ die Rede ist, ist mehr als folkloristische Huldigung. Die Art, wie Conway aus dem „Rohstoff-Sextett“ – Sand, Eisen, Salz, Öl, Kupfer und Lithium – eine packende und lehrreich-unterhaltsame Erzählung komponiert, fällt in die Kategorie außergewöhnlich. Er zeichnet den – für die Menschheit prägenden – zivilisatorischen und imperialistischen Einfluss vergangener Jahrhunderte ebenso nach wie die wachsende wirtschaftliche und technologische zukünftige Bedeutung.

Ed Conway. Material World. Hoffmann und Campe. 544 Seiten, 29,50 Euro.

ANDRIAN KREYE

Der Geist aus der Maschine

Buchtipp von Manfred Neuper

Wenn der Untertitel eines Buchs, „eine superschnelle Menschheitsgeschichte des digitalen Universums“ lautet, könnte man ihm auch mit Skepsis begegnen. Unangebracht. Denn „Der Geist aus der Maschine“ (Heyne) von Andrian Kreye weiß mehrschichtig zu überzeugen. In einer Zeit, in der sich die Literatur über Künstliche Intelligenz ebenfalls „superschnell“ vermehrt, sticht dieses Buch hervor. Kreye nähert sich kulturwissenschaftlich und gesellschaftspolitisch an. So beschreibt er – in einer klugen Gliederung – die Wirkmächte der digitalen Revolution von den Subkulturen der 1980er-Jahre zur „politischen Superkraft der Gegenwart“.

Andrian Kreye. Der Geist aus der Maschine. Heyne. 368 Seiten, 25,50 Euro.

RAINER FLECKL,
SEBASTIAN REINHART

Inside Signa

Buchtipp von Manfred Neuper

Der tiefe Absturz des einstigen Signa-Imperiums von René Benko war ein ganzjähriges Dauerthema – und wird es wohl noch eine ganze Weile bleiben. Die Aufdecker-Journalisten Rainer Fleckl und Sebastian Reinhart haben mit „Inside Signa“ (edition a) heuer eine Art Standardwerk geschaffen, das Hintergründe ausleuchtet und sich streckenweise wie ein wirtschaftspolitischer Kriminalroman liest. Pendelnd zwischen anekdotischen Begebenheiten in Benkos einstigem Glamour-Umfeld und erschütternden Sittenbildern. Aufstieg und Niedergang werden dabei, teils angereichert um brisante Dokumente, mitreißend geschildert.

Rainer Fleckl, Sebastian Reinhart. Inside Signa. Edition a. 240 Seiten, 25,00 Euro.

FRANK BÖSCH

Deals mit
Diktaturen

Buchtipp von Ernst Sittinger

Kanzler Willy Brandt blieb am Flughafen Athen einfach im Flugzeug sitzen, weil er Vertretern der griechischen Militärjunta nicht begegnen wollte. Solch schöne Schnurren reichern das kenntnisreiche Werk „Deals mit Diktaturen“ (C. H. Beck) von Frank Bösch an. Es geht um Staatsräson: Nach 1949 buhlte die junge BRD um Anerkennung und näherte sich dubiosen Staaten wie dem Iran, um der DDR diplomatisch eins auszuwischen. Ab 1968 forderte die zunehmend kritische Öffentlichkeit höhere Standards ein. Doch bis heute ist „Moral oder Geschäft“ eine Kernfrage europäischer Außenpolitik. Den Blick darauf schärft dieses Buch.

Frank Bösch. Deals mit Diktaturen. C. H. Beck. 622 Seiten, 33,50 Euro.

EMMA SOUTHON

Eine Geschichte des römischen Reiches in 21 Frauen

Buchtipp von Stefan Winkler

Die Geschichte des Römischen Weltreiches, das sich zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung von Britannien bis zum Euphrat, vom Rhein und von der Donau und bis nach Nubien erstreckte, wird in der Regel als Geschichte der Männer erzählt, die es regierten. Einen anderen Ansatz hat die britische Historikerin Emma Southon gewählt. Sie lässt in ihrem Buch „Eine Geschichte des römischen Reiches in 21 Frauen“ (Aufbau) Frauen „wiederauferstehen“: die Verräterin Tarpeia, die Jungfrau Lucretia und die verruchte Tullia, Prinzessin Iulia Caesar, Geschäftsfrau Iulia Felix aus Pompeji, Galla Placidia, die letzte Römerin und viele andere.

Emma Southon. Eine Geschichte des römischen Reiches in 21 Frauen. Aufbau. 495 Seiten, 29,50 Euro.

RICHARD COCKETT

Stadt der Ideen

Buchtipp von Stefan Winkler

Jedes Schulkind in Österreich kennt die Geschichte, wie sich Wien nach dem Untergang der Habsburgermonarchie als überdimensionierte Hauptstadt eines Kleinstaats wiederfand. Dass Wien aber auch nach 1918 nicht nur brodelndes Laboratorium der Moderne blieb, sondern sich unter Führung der Sozialdemokratie bis zur Machtübernahme durch die Nazis 1938 zum Zentrum für die Neuerfindung der Welt in Kunst, Wissenschaft, Ökonomie und der Gesellschaft entwickelte, diese faszinierende Geschichte erzählt der britische Journalist und Historiker Richard Cockett in seinem preisgekrönten Buch „Stadt der Ideen“ (Molden).

Richard Cockett. Stadt der Ideen. Molden Verlag. 432 Seiten, 41,00 Euro.

ALBRECHT ROTHACHER

Österreichs Kanzler in der 2. Republik

Buchtipp von Ernst Sittinger

Man meint, schon alles über sie zu wissen. Doch mit Albrecht Rothacher bleibt es einem Deutschen vorbehalten, die inzwischen recht üppige Galerie der österreichischen Bundeskanzler um einige kräftige Farbtupfer zu bereichern. Das dreibändige Werk „Österreichs Kanzler in der 2. Republik“ (Gerhard Hess Verlag) beginnt, scheinbar paradox, schon 1918, weil jede Person nur aus dem Kontext ihrer Zeit und Vorgeschichte verständlich wird. Ein Gewinn aus der Lektüre ist der Vergleich, der sicher macht: dass sich nämlich die Voraussetzungen, Handlungsspielräume und Sachzwänge politischen Handelns laufend fundamental ändern.

Albrecht Rothacher. Österreichs Kanzler in der 2. Republik. Gerhard Hess Verlag. 3 Bände.

EVA ILLOUZ

Explosive Moderne

Buchtipp von Stefan Winkler

Hoffnung, Enttäuschung, Neid, Zorn, Furcht, Nostalgie, Scham, Stolz, Eifersucht und Liebe – dieser sicherlich nur bruchstückhafte Kanon der großen Gefühle bestimmt, seitdem es Menschen gibt, Individuen und ganze Gesellschaften. Politische Verführer haben sie sich schon immer für ihre Zwecke zunutze gemacht. In ihrem jüngsten Buch „Explosive Moderne“ (Suhrkamp) nimmt die israelisch-französische Soziologin Eva Illouz ihre Leserschaft mit auf eine spannende Reise in den Kosmos der elementaren Gefühle und ergründet, warum ihr Überschwang unsere aufgewühlten Zeiten prägt – von der Konsumkultur bis hin zu den sozialen Medien.

Eva Illouz. Explosive Moderne. Suhrkamp. 447 Seiten, 33,50 Euro.

MARKUS WILLASCHEK

Kant

Buchtipp von Martin Gasser

Wer bereit ist, sich auf die sperrigen Texte mit ihren endlosen Sätzen einzulassen, wer Geduld mitbringt, sich darin einzuüben, der kann Immanuel Kant auch im Original lesen. Es ist ein Geschenk an die ganze Menschheit, keine trockene Philosophie, sondern die Verheißung der Freiheit für jedes einzelne Individuum. Es ist allerdings einfacher, sich Kants unsterbliche Diskussionsbeiträge über die vernunftbasierte Gesellschaft übersetzen zu lassen. Der Kant-Experte Markus Willaschek leistet in seiner Biografie „Kant. Die Revolution des Denkens“ (C. H. Beck) genau das; und erläutert, was uns der Philosoph heute zu sagen hat. Enorm viel.

Markus Willaschek. Kant. Die Revolution des Denkens. C. H. Beck. 430 Seiten, 29,50 Euro.