Erlesener Herbst

Buchtipps zur Frankfurter Buchmesse

Ein bisschen Statistik gefällig? Die 75. Frankfurter Buchmesse vom 18. bis zum 22. Oktober 2023 stellt mit dem Motto "Waben der Worte" das Gastland Slowenien vor. Die poetische Kraft der großen Literatur aus dem kleinen, jungen Staat wird bei einer Sonderschau und einem dichten Veranstaltungsprogramm sicht- und spürbar.

Mit 150 Buchhandlungen, 1400 Verlagen und rund 6000 Neuerscheinungen jährlich ist das Zwei-Millionen-Einwohner-Land Slowenien eine Literaturgroßmacht. Zahlreiche Neuerscheinungen wetteifern anlässlich seines Gastlandauftritts um die Aufmerksamkeit der Literaturfreunde.

Nicht vergessen werden sollten aber Publikationen, die in den vergangenen Monaten bereits für Blätterrauschen gesorgt haben. Allen voran natürlich Drago Jančar mit seinem Roman "Als die Welt entstand" über das Aufwachsen im Nachkriegsjugoslawien und Maja Haderlaps Drei-Generationen-Geschichte "Nachtfrauen". Der Österreichische Staatspreisträger Florjan Lipuš wird mit der Suhrkamp-Neuausgabe von "Die Verweigerung der Wehmut" (übersetzt von Fabjan Hafner) gewürdigt. Die Bachmann-Preisträgerin des Vorjahres, Ana Marwan ("Verpuppt"), und Ana Schnabl mit ihrer Geschichte über ein ungleiches Liebespaar ("Meisterwerk") sind ebenso Pflichtlektüre für Freunde slowenischer Literatur wie Andrej Blatnik mit "Platz der Befreiung" über die Entstehung des modernen Slowenien. Die große Dichte an Lyrik bei unseren südlichen Nachbarn lässt sich mit Maruša Krese, Srečko Kosovel, Tomaž Šalamun und vielen anderen entdecken. Und last but not least hat unlängst auch der Philosoph Slavoj Žižek ein neues Buch herausgebracht: "Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten."

Aber auch abseits der slowenischen Literatur hat die Buchmesse viel zu bieten: Mit im Vorjahr an die 70.000 Neuerscheinungen machten 4000 Aussteller den rund 180.000 Besucherinnen der größten Leistungsschau des internationalen Buchmarktes Appetit aufs Schmökern. Es ist wieder angerichtet! Also schmökern Sie los!

ALEŠ ŠTEGER

Wenn die Götter lachen und Menschen weinen

Von Karin Waldner-Petutschnig

Die antiken griechischen Götter spielten den Mythen nach eher mit den Menschen, als dass sie ihnen Vorbilder sein wollten. Würden sie lachen, wäre das Fröhlichkeit oder Schadenfreude, Spott oder nachsichtiges Verstehen? Aleš Šteger gibt seine Figuren nicht der Lächerlichkeit preis. Im Gegenteil: Er leidet mit ihnen. Mit der türkischen Mutter, die ihre Tochter entführt, um sie zu retten; mit dem Bergarbeiter, der einen Tunnel aushebt und ein Massengrab findet; mit dem Schauspieler, der seine Eitelkeit auf Instagram auslebt; mit dem Museumswärter und dem Pianisten, die sich in mysteriöse Frauen verlieben, oder mit dem alten Mann, der sich nach und nach in eine Möwe verwandelt. Europa, Prometheus, Narziss, Orpheus, Medusa, Ikarus sind die antiken Vorbilder zu den im Heute angesiedelten Geschichten, die teils pathetisch, teils poetisch und skurril daherkommen.

Aleš Šteger. Das Lachen der Götter. Erzählungen. Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz. Wallstein. 222 Seiten, 22,70 Euro.

GORAN VOJNOVIĆ

Rasante Rückkehr in
die Heimatlosigkeit

Von Karin Waldner-Petutschnig

In Slowenien war er ein Tschefur, ein Einwanderer aus anderen Teilen Ex-Jugoslawiens. In Bosnien, wohin ihn sein Vater geschickt hatte, war er ein Janez, ein Slowene. Marko Ðordić kehrt in "18 km bis Ljubljana" nach Fužine, einen Vorort von Ljubljana, zurück, als sein Vater krank wird – und fühlt sich wieder nicht heimisch. In Rückblicken erinnert er sich an seine erste Liebe Alma, eine muslimische Bosniakin, mit der er sich allerdings nicht getraut hatte, den Balkan zu verlassen. So wie im Vorgängerbuch "Tschefuren raus!" reißt der derbe Jugend-Slang (grandios übersetzt von Klaus Detlef Olof) die Leserin mit. Doch bald spürt man hinter dem Zorn Wehmut über die vergebliche Suche nach Zugehörigkeit: "Ich gebe einen Scheiß auf Fužine, ich gebe einen Scheiß auf Bosnien, ich gebe einen Scheiß auf alles. Mich gibt es nirgends mehr. Ich bin kein Tschefur mehr und ich bin auch kein Janez. Jetzt bin ich nur noch ein Nichts und Niemand."

Goran Vojnović. 18 Kilometer bis Ljubljana. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag. 320 Seiten, 26 Euro.

NAVID KERMANI

Eine Wundertüte voll Geist, Gefühl und Genres

Von Bernd Melichar

Wenn man ein Buch von Navid Kermani in die Hände nimmt, ist es vorbei mit der stilistischen Eindeutigkeit – und das ist (meist) gut so. Das war schon in seinem großen Buch "Dein Name" so, in dem der deutsch-iranische Publizist und Orientalist atem- und formlos über einen Mann namens Navid Kermani geschrieben hat. In seinem neuen Roman "Das Alphabet bis S" führt eine namenlose Icherzählerin ein Tagebuch ohne Datum, in dem sie zunächst all ihre zahlreichen Verluste des vergangenen Jahres festhält, dann aber gleitet sie vom Alltäglichen und Privaten ins Grundsätzliche ab und arbeitet sich an Themen sie Identität, Krieg und Vergänglichkeit ab. Dass Kermani in die Rolle einer Frau schlüpft, ist auf der Höhe der Zeit und eine gute Perspektive für das kritische Ausleuchten des eigenen Geschlechts. Das Etikett "Roman" ist freilich wieder viel zu eng für dieses Buch. Es ist Journal, Essay, Meditation und im Kern eine Liebeserklärung an die Literatur. Denn die Icherzählerin will sich endlich jenen Autorinnen und Autoren widmen, die ungelesen im Regal stehen. Wie weit sie kommt, besagt der Buchtitel.

Navid Kermani. Das Alphabet bis S. Hanser. 591 Seite, 32,90 Euro.

ROMAN ROZINA

Monumentale´Familiensaga aus Slowenien

Für seinen Roman über die Menschen in einer Bergbauregion erhielt Roman Rozina im Vorjahr mit dem Kresnik-Preis den wichtigsten slowenischen Literaturpreis.

Von Karin Waldner-Petutschnig

Am Ende seines Lebens ist Matija hundert Jahre alt. Geboren im Mai 1900, überblickt er Weltkriege, Familiengründungen, Todesfälle und andere Schicksalsschläge, und er ist müde: "Er, Matija, bestimmt nicht den Gang der Dinge, er bestimmt nicht einmal die Richtung seines Lebens, er ist die ganze Zeit nur irgendwie dabei. Er ist ein historisches Stück Pergament, auf dem alles dokumentiert ist, was im Tal geschieht." Das Tal, das ist eine Bergbauregion, in der die Böden von der Grube unterhöhlt und die Menschen arm sind. Aus der Bauernfamilie Knap werden Bergarbeiter im Kohleabbau, das Leben für die fünf Kinder ist hart und entbehrungsreich. Auch wenn es einer von Matijas Brüdern später selbst zum Besitzer einer Glasfabrik bringen wird, in der der Blinde arbeiten kann, wird die soziale Situation für die Arbeiter immer schwieriger. Der aufkommende Sozialismus, Streiks und Gewerkschaften, aber auch die wachsenden Emanzipationsbemühungen der Frauen machen den Männern das Leben schwer. Der Erste Weltkrieg verdüstert die Zeit noch mehr und verstreut die große Familie in alle Himmelsrichtungen.

Foto: KK

Matija ist zwar blind, als Kind aber geborgen inmitten seiner Geschwister, er kennt den heimatlichen Hof in- und auswendig, "er muss nicht einmal mehr die Schritte zählen, seine Füße erspüren fast jede Mulde und Unebenheit. 'Wenn es dunkel ist, muss man andere Augen haben. Ich habe andere Augen.'" Die Dunkelheit des 20. Jahrhunderts sieht er mit seinen "anderen Augen" als Einziger der Familie realistisch, auch wenn er "die ganze Zeit nur irgendwie dabei" ist.

Roman Rozina. Hundert Jahre Blindheit. Aus dem Slowenischen von A. N. Zaleznik u. a. Klett-Cotta. 584 Seiten, 28,80 Euro.

Wie Roman Rozina diese epische Familiengeschichte aufrollt, die einzelnen Figuren lebendig werden lässt und deren meist graue Lebenswelt zeichnet, ist große Erzählkunst, die mit dem Kresnik-Literaturpreis ausgezeichnet wurde, von der Leserin (auch wegen der vielen Namen) aber Konzentration einfordert. Wie nebenbei entwirft der 63-jährige einstige Journalist dabei ein Panorama des 20. Jahrhunderts in Europa – gespiegelt in der Geschichte Sloweniens.

Foto: KK

Foto: KK

Roman Rozina. Hundert Jahre Blindheit. Aus dem Slowenischen von A. N. Zaleznik u. a. Klett-Cotta. 584 Seiten, 28,80 Euro.

Roman Rozina. Hundert Jahre Blindheit. Aus dem Slowenischen von A. N. Zaleznik u. a. Klett-Cotta. 584 Seiten, 28,80 Euro.

KAROLINE THERESE MARTH

Wenn das junge Leben eiert

Von Bernd Melichar

Die Einträge sind notizbuchartig kurz, der Ton ist direkt und schnoddrig, die Grundierung aber dunkelgrau – und nicht leuchtend gelb. Denn das "Dotterland", das die Wiener Autorin Karoline Therese Marth in ihrem Debütroman beschreibt, ist eine zerfurchte Landschaft mit hoher Verletzungsgefahr. Kathlen heißt das Mädchen, das in dieser ebenso "bluesigen" wie komischen Coming-of-Age-Story durch die Untiefen des Lebens treibt. Kindheit in den Nullerjahren, Scheidung der Eltern, der erste Sex. Das ist sehr unverblümt, sehr berührend und sehr originell!

Karoline Therese Marth. Dotterland. Droschl, 117 Seiten, 18 Euro.

TONI MORRISON

Zeitlos gültiger
Klassiker

Von Bernd Melichar

Der Debütroman von Toni Morrison – die 1993 als erste (!) schwarze Frau den Nobelpreis für Literatur erhielt – erschien 1970 und erzählte aus verschiedenen Perspektiven die Geschichte des elfjährigen Mädchens Pecola, das Shirley Temple vergöttert und sich selbst nichts so sehr wünscht wie blaue Augen. Voll Weisheit und Wucht griff Morrison damit das Thema "Colorism" auf; es beschreibt die Bevorzugung von Menschen mit hellerem Hautton innerhalb einer rassifizierten Gruppe. Jetzt liegt dieses Buch, in dem sich bereits die präzise Rhetorik und schmerzhafte Poesie von Morrison manifestieren, in der Neuübersetzung von Tanja Handels vor. Eine wunderbare Gelegenheit, einen Klassiker wiederzuentdecken, der (leider) von zeitloser Gültigkeit ist.

Toni Morrison. Sehr blaue Augen. Rowohlt, 272 Seiten, 24,70 Euro.

ALEX VIGDIS HJORTH

Nordische
Dunkelheit

Von Bernd Melichar

In Norwegen ist sie längst ein Literaturstar und hat mehr als 20 Romane veröffentlicht, bei uns muss Vigdis Hjorth erst entdeckt werden. Ihr aktueller Roman ist dafür eine gute Gelegenheit. Mit schonungsloser, oft nordisch-brutaler Offenheit erzählt Hjorth die Geschichte einer 60-jährigen Frau, die ihr halbes Leben als Malerin in Kanada verbrachte, und jetzt in die norwegische Heimat zurückkehrt und dort versucht, Kontakt mit ihrer 80-jährigen Mutter aufzunehmen. Der Vater ist inzwischen gestorben, aber er scheint die Hauptrolle in diesem undurchsichtigen Schuld-und-Sühne-Drama zu sein. Eine tobende, sprachgewaltige Geschichte voll Besessenheit und Dringlichkeit. Northern Noir!

Vigdis Hjorth. Die Wahrheiten meiner Mutter. S. Fischer, 400 Seiten, 24,70 Euro.

DANIEL KEHLMANN

Macht, Manipulation, Mitläufer

Mit "Lichtspiel" hat Daniel Kehlmann einen grandiosen Roman über die Verführbarkeit während der NS-Zeit geschrieben. Die Hauptfigur ist ein Filmregisseur.

Von Bernd Melichar

Es ist ein literarisch hochklassiges Spiel mit Licht und Schatten, mit menschlicher Größe aber auch Verführbarkeit, das Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman "Lichtspiel" betreibt. Hauptfigur ist Georg Wilhelm Pabst, ein Gigant der deutschen Stummfilmzeit. Als die braune Barbarei naht, setzt sich Pabst – wie viele seiner Künstlerkollegen – mit Familie nach Hollywood ab, scheitert dort aber kläglich – und kehrt wieder nach Österreich, inzwischen Ostmark, zurück. Der Vereinnahmung durch die Nazis, die das Propagandapotenzial des Films längst erkannt haben, glaubt er sich entziehen zu können – und täuscht sich auch hier dramatisch.

Foto: Werner Kerschbaum

Diese Figur ist historisch belegt. Pabst zählte mit Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau und Ernst Lubitsch zu den großen Filmregisseuren der Weimarer Republik. Mit geradezu beschwingter Eleganz, vorsichtigem Humor und lebhaften Dialogen kommt Kehlmann diesem gewichtigen Thema bei. Doch die vordergründige literarische Leichtigkeit sollte nicht über die Dringlichkeit des Themas hinwegtäuschen.

"Lichtspiel" ist ein weiterer großer Wurf, der dem Bestsellerautor ("Die Vermessung der Welt", "Tyll") gelungen ist. Jeder Satz sitzt, aber keiner wirkt mechanisch gesetzt. Kehlmann erzählt, er doziert nicht. Und dennoch ist das natürlich ein hochpolitisches Buch, zeitlos in seiner Fragestellung. Mit großem psychologischen Gespür liefert Kehlmann Innenansichten eines totalitären Systems und beschreibt, wie die Menschen – in diesem Fall die Kulturszene – damit umgeht. Vermutlich ist die NS-Zeit nur eine historische Folie und es geht um die grundlegende Frage, wie man sich in einem potenziell lebensgefährlichen Regime verhalten würde. Eine unbequeme Erkenntnis: Es ist oft nur ein sehr schmaler Grat, der uns vom Mitläufer- oder gar Tätertum trennt.

Daniel Kehlmann. Lichtspiel. Rowohlt, 471 Seiten, 26,80 Euro.

All dessen war sich Georg Wilhelm Pabst schmerzhaft und wohl auch schuldhaft bewusst. Seine ersten Filme nach dem Krieg waren ein Versuch, sich mit den Schatten der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie wurden ebenfalls zum Misserfolg.

Foto: Werner Kerschbaum

Foto: Werner Kerschbaum

Daniel Kehlmann. Lichtspiel. Rowohlt, 471 Seiten, 26,80 Euro.

Daniel Kehlmann. Lichtspiel. Rowohlt, 471 Seiten, 26,80 Euro.

KEN FOLLETT

Das spannende Porträt einer Welt im Aufbruch

Von Marianne Fischer

Die Industrielle Revolution hat die Welt nachhaltig verändert. Was für rasante Fortschritte in der Wirtschaft sorgt, hat für die Arbeiter fatale Auswirkungen: Immer bessere Spinn- und Webmaschinen ersetzen das Handwerk und damit die Menschen. Der Krieg mit Frankreich unter Napoleon verschärft die Lage, denn die Umsätze sinken, der Brotpreis steigt. Dem britischen Bestseller-Autor Ken Follett gelingt es auch im fünften Teil rund um den fiktiven englischen Ort Kingsbridge, eine ganze Epoche anhand verschiedener sozialer Schichten und facettenreichen Figuren plastisch zu schildern. Von der alleinerziehenden Arbeiterin über Fabrikanten bis zu den Stadträten wird Geschichte nicht nur lebendig, sondern letztlich auch zur Mahnung: Das Recht auf Bildung, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmtheit wurde einst hart und durchaus auch unter Lebensgefahr erkämpft. Umso wichtiger ist es, so die unterschwellige Botschaft, dafür weiter nachdrücklich einzutreten.

Ken Follett. Die Waffen des Lichts. Lübbe, 880 Seiten, 38,50 Euro.

TERÉZIA MORA

Sie ist verstrickt in eine
gewalttätige Beziehung

Von Karin Waldner-Petutschnig

Die 18-jährige Muna will nur weg. Weg von ihrer Mutter, weg aus der DDR, weg aus ihrem Leben. Die Protagonistin im Roman der Büchnerpreisträgerin Terézia Mora schafft das auch, kommt als Journalistin und später Autorin nach Berlin, Wien und London. Nur von der Abhängigkeit von ihrer großen Liebe Magnus kommt sie nicht los. Der um einige Jahre ältere Französischlehrer verstrickt die Frau in eine gewalttätige Beziehung: "Da drehte er sich um und schlug mir auf den Mund. So schnell, dass ich das Kribbeln an meinen Lippen eher spürte, als dass ich die Bewegung registriert hätte." Noch so ein Roman über eine toxische Beziehung? Ja, aber was für einer! Mora erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, ruhig im Ton, erschütternd durch die Hartnäckigkeit der Heldin. "Muna" soll der Auftakt zu einer Trilogie zum Thema Weiblichkeit sein – auf deren Fortsetzung man sich freuen kann!

Terézia Mora. Muna oder Die Hälfte des Lebens. Luchterhand, 448 Seiten, 25 Euro.

ALEX SCHULMAN

Zug um Zug kommt die Wahrheit ans Tageslicht

Von Werner Krause

Er ist wie ein Seismograph, der jede noch so kleine seelische Erschütterung registriert, diese in eine wunderbare Sprache verwandelt und daraus melancholische, traurige und spannende Geschichten formt. Als subtiler Chronist von Familientragödien hat sich Alex Schulman mit "Endstation Malma" endgültig in der literarischen Weltklasse etabliert. Hauptschauplatz ist ein Zug, der von Stockholm nach Malma fährt, mehrmals, zwischen den Jahren 1976 und 2001. Als Reisende mit dabei: ein zerstrittenes Ehepaar und eine aus der Bahn geworfene Tochter. Zug um Zug verleiht Schulman seinem Epos neue Wendungen und er holt unentwegt Geheimnisse ans Tageslicht. Ein großes Geheimnis wartet in Malma, es soll endlich gelüftet werden und für Klarheit sorgen. So, Endstation. Wer große Erzählkunst mag, sollte einsteigen.

Alex Schulman. Endstation Malma. dtv, 316 Seiten, 24,70 Euro.

DENNIS LEHANE

Eine Mutter, die nichts mehr zu verlieren hat

US-Bestseller-Autor Dennis Lehane hat einen fulminanten Roman vorgelegt, der vor dem Hintergrund von Rassenunruhen vom Rachefeldzug einer Mutter erzählt.

Von Marianne Fischer

Nach einem richterlichen Urteil, dass es an Bostoner Schulen keine Rassentrennung mehr geben dürfe und weiße Kinder mit Bussen in "schwarze" Schulen gekarrt werden müssten und umgekehrt, kam es 1974 zu heftigen Auseinandersetzungen. Dennis Lehane, damals neun Jahre alt, geriet mit seinem Vater in den Tumult.

Diesen Vorfall, der sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hat, nimmt der US-Autor als Ausgangspunkt für seinen neuen Roman "Sekunden der Gnade". Die alleinerziehende Krankenhaushelferin Mary Pat lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter Jules im irisch geprägten Viertel von Boston und die Grundwut, die in ihr brodelt, hat viel mit Armut zu tun, mehr aber noch damit, dass ihr Sohn verstört aus dem Vietnam-Krieg zurückkam und an seiner Drogensucht starb.

Foto: Imago

Mitten in den Vorbereitungen für die Proteste gegen die Aufhebung der Rassentrennung verschwindet Jules, und schnell geraten die Dinge außer Kontrolle, denn Mary Pat hat nun rein gar nichts mehr zu verlieren und daher auch keine Angst mehr – weder vor der irischen Mafia noch vor der Polizei. Gut, zwischendurch kann sie noch Mitgefühl zeigen mit einer schwarzen Arbeitskollegin, deren Sohn getötet wurde, aber bald wird aus ihrem Hass ein unbarmherziger Rachefeldzug, der auch deshalb unter die Haut geht, weil man trotz der eskalierenden Gewalt mit dieser vom Leben so gebeutelten Frau mitleidet.

Dennis Lehane. Sekunden der Gnade. Diogenes, 400 Seiten, 22,99 Euro.

Bestseller-Autor Dennis Lehane, dessen Romane "Spur der Wölfe" von Clint Eastwood und "Shutter Island" von Martin Scorsese verfilmt wurden, erzählt ebenso schonungs- wie schnörkellos von der Perspektivlosigkeit der Menschen, den Mechanismen der Gewalt und von einem Rassismus, der von Generation zu Generation weitergegeben wird. Gleichzeitig – und das ist hohe Kunst – sind in die temporeiche Handlung zarte Momente eingebettet, in denen auch die Hoffnung auf ein bisschen Glück keimt.

Apple+ soll sich jedenfalls bereits die Rechte gesichert haben. Kein Wunder: Dennis Lehane hat für den Streaming-Dienst unter anderem die viel gelobte Miniserie "Black Bird" geschrieben.

Foto: Imago

Foto: Imago

Dennis Lehane. Sekunden der Gnade. Diogenes, 400 Seiten, 22,99 Euro.

Dennis Lehane. Sekunden der Gnade. Diogenes, 400 Seiten, 22,99 Euro.