REDAKTION EMPFIEHLT

24 Bücher zum Verschenken oder selbst genießen

Illustration: Adobe Stock

Illustration: Adobe Stock

Bücher für (fast) alle Geschmäcker – das sind die Empfehlungen unserer Kulturredaktion für ein weihnachtliches Lesevergnügen.

Mieko Kawakami

Ein Sprachwunder

Empfohlen von Ute Baumhackl

Ist es ein Krimi, eine Milieustudie, eine Coming of Age-Geschichte? Dieser Roman entzieht sich den Genres. Hana wächst in Armut auf und findet in Kimiko Mutterersatz und Freundschaft. Soziale und kriminelle Verwicklungen münden in eine Art Thriller. Sensationell: Kawakamis Sprache (übersetzt von Katja Busson): Sie lässt vieles offen, auch überwältigende Imaginationsräume.

Mieko Kawakami. Das gelbe Haus. DuMont, 528 Seiten, 27,60 Euro.

Alex Beer

Der Meisterdetektiv

Empfohlen von Marianne Fischer

Sie ist die Großmeisterin des historischen Kriminalromans. Alex Beers Reihe rund um den ehemaligen Meisterdieb und nunmehrigen Meisterdetektiv Felix Blom und seine Partnerin Mathilde führt ins Berlin der späten 1870er. Als ein düsteres Geheimnis Mathilde fast zum Verhängnis wird, muss Blom sich mit Gaunern und Polizei zusammentun. Hervorragend recherchiert, atmosphärisch dicht und mitreißend erzählt.

Alex Beer. Mord an der Spree. Limes, 320 Seiten, 19 Euro.

Karl Schlögel

Analytische Schärfe

Empfohlen von Martin Gasser

Der Historiker Karl Schlögel ist einer der bedeutendsten Russland-Kenner im deutschsprachigen Raum. Nach dem Angriff des Landes auf die Ukraine hat er den Krieg immer wieder analysiert und reflektiert. Diese Textsammlung enthält zwar einige Doppelungen, ist aber eine mit aller Schärfe formulierte Kritik an Russland und eine Reflexion über die Rolle des Historikers im Zeitgefüge.

Karl Schlögel. Auf der Sandbank der Zeit. Hanser, 176 Seiten, 24,50 Euro.

Barbara Yelin

Queerer Widerstand

Empfohlen von Andreas Kanatschnig

Barbara Yelin umreißt mit wuchtigen Strichen das Leben der legendären Mimin Therese Giehse (1898–1975). Die Münchnerin war jüdisch, queer und politisch aktiv. Attribute, die in der Zeit des Nationalsozialismus ein Todesurteil bedeuteten. „Die Giehse“ spielte sich noch vor der Nazi-Herrschaft und ihrer Flucht in die erste Liga. Ein eindringliches Comic-Porträt einer widerständigen Künstlerin.

Barbara Yelin. Die Giehse. Reprodukt, 56 Seiten, 20,95 Euro.

John Banville

Lug in der Lagune

Empfohlen von Bernd Melichar

Nur absolute Könner wie John Banville können dem strapazierten Genre „Venedig-Roman“ noch etwas hinzufügen. Evelyn Dolman, minder begabter Autor aus London, landet zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit seiner frischvermählten Frau Laura in der Lagunenstadt – und bald auf Abwegen. Natürlich ist nichts wie es scheint, aber wie Banville damit spielt, ist atemberaubend heimtückisch.

John Banville. Schatten der Gondeln. KiWi, 377 Seiten, 25,50 Euro.

Laura Trethewey

Die Welt da unten

Empfohlen von Julian Melichar

Hoch hinaus wollen sie alle. Vor allem die, die sich einen Wettlauf zum Weltall liefern. Aber tief sinken – wer will das schon? Kaum verwunderlich, dass die Menschheit über den Meeresboden (noch) wenig weiß. Laura Trethewey erzählt von einem versunkenen Kontinent, der uns Fragen zur Zukunft beantworten könnte und gleichzeitig bedroht ist, ausgebeutet zu werden.

Laura Trethewey. Bis zum Grund der Welt, Mare, 368 Seiten, 28 Euro.

Nell Zink

Illustrer Spaziergang

Empfohlen von Susanne Rakowitz

Das Berliner Interconti, darin eine vor sich hinwabernde Literaturpreisverleihung. Die, die dort aufeinandertreffen, sind alle Suchende – ein Trans-Mädchen, ihr Vater, ein arabischer Prinz und zwischendrin ein Königspudel. Die illustre Gesellschaft bricht zum Spaziergang durch den Tiergarten auf. Eine launig-kluge Auseinandersetzung mit Identitäten, Wokeness, Klassengrenzen.

Nell Zink. Sister Europe. Rowohlt, 272 Seiten, 25,50 Euro. 

Martin Prinz

Späte Kriegsgräuel

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Ende des Zweiten Weltkriegs ließ ein NS-Kreisleiter in Niederösterreich willkürlich Dorfbewohner hinrichten. Das private Standgericht war real und ist dokumentiert. Martin Prinz hat aus den Akten einen beklemmenden Roman gemacht – im Ton nüchtern, in der Sache monströs. Täter wie Opfer kommen zu Wort, das macht die Ungeheuerlichkeit der späten Gräuel noch deutlicher.

Martin Prinz. Die letzten Tage. Jung und Jung, 272 Seiten, 24,95 Euro.

Clemens Marschall

Eine Emanzipation

Empfohlen von Ute Baumhackl

Eine wie sie klingt wie zu gut erfunden: Gertraud Wanda Kuchwalek, die „Wilde Wanda“, war in Österreichs langer Nachkriegszeit eine Legende: eine lesbische Zuhälterin im rauen Wiener Strizzi-Milieu. Auch das ist heimische Zeitgeschichte: True Crime ohne Glitz und ein teilnahmsvolles Porträt, fast eine Emanzipationsgeschichte, die fesselnd von einer versunkenen Halbwelt erzählt.

Clemens Marschall. Wilde Wanda. Brandstätter, 208 Seiten, 26 Euro.

Andreas Pflüger

Da glüht die Kälte

Empfohlen von Marianne Fischer

Luzy Morgenroth hat sich in ihrem Leben als Provinzpolizistin ganz gut eingerichtet, aber dann sterben Menschen und Lucy muss wieder zu der Waffe werden, die sie einst war. Was als Inselkrimi beginnt, wird zunehmend zu einem grandios erzählten, perspektivenreichen Spionagethriller aus der Zeit rund um den deutschen Mauerfall, in dem Jazz den Sound zur Action liefert und zwischen den Zeilen die Kälte glüht.

Andreas Pflüger. Kälter. Suhrkamp, 495 Seiten, 26,50 Euro.

George Orwell

Gegengift zur Zeit

Empfohlen von Martin Gasser

Man kann über den literarischen Rang von George Orwell vermutlich sehr lange streiten, aber „Farm der Tiere“ bleibt immer noch eines der wesentlichen Bücher, mit denen sich Jugendliche auseinandersetzen sollten. Falls der Schulunterricht hier versagt, hilft ein Geschenk: Die Geschichte der russischen Revolution als ewiggültige Fabel, die das kritische Denken schult. In Neuübersetzung.

George Orwell. Farm der Tiere. Insel Verlag, 136 Seiten, 16 Euro.

Keum Suk Gendry-Kim

Die Angst vorm Norden

Empfohlen von Andreas Kanatschnig

Wer ist der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un? Diese Frage stellte sich auch Keum Suk Gendry-Kim, eine südkoreanische Comiczeichnerin. In dieser ausführlich recherchierten Graphic Novel geht die Künstlerin auf Spurensuche, bringt Überraschendes ans Licht und erzählt aus ihrer Perspektive von dem rätselhaften Diktator, aber auch von ihren persönlichen Ängsten.

Keum Suk Gendry-Kim. Mein Freund Kim Jong-un. Avant, 288 Seiten, 33,95 Euro.

Joy Williams

Verwittertes Herz

Empfohlen von Bernd Melichar

Man nennt sie gerne „düstere Großmeisterin der Kurzgeschichte“ und in einem Atemzug mit Raymond Carver – beides völlig zu Recht. Im zweiten Teil der „Stories“ erzählt Joy Williams wieder von Außenseitern und Querstehenden, von den Übersehenen und Überforderten. Mit oft schroffer Klarheit schaut die US-Autorin ins verwirrte, verwitterte, verwundete Herz der Menschen. Kleine Geschichten, große Literatur!

Joy Williams. Stories 2. dtv, 316 Seiten, 26,50 Euro.

Michael Behrendt

99 ½ Missverständnisse

Empfohlen von Julian Melichar

Kramt der musikvernarrte Onkel beim Adventkränzchen wieder seine Beatles-Sammlung hervor und referiert über die Bedeutung von „Lucy in the Sky with Diamonds“? Dann kann man nach der Lektüre dieses Buchs selbstbewusst erklären, wieso der Song vielleicht gar keine Anspielung auf einen LSD-Trip ist. Ein köstliches Handbuch zu 99 ½ missverstandenen Songs.

Michael Behrendt. Verhört, verkannt, vereinnahmt, Reclam, 282 Seiten, 19,95 Euro.

Rabea Weihser

Spieglein, Spieglein ...

Empfohlen von Susanne Rakowitz

Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters? Schon, aber davor wurde er durch Zeit, Kulturraum und Popkultur geprägt. Rabea Weihser zischt durch die Epochen, von Baudelaire bis Bill Kaulitz, von Kleopatra bis Thomas Mann. Eine kurzweilige Reise durch das Universum der Schönheit, von dessen Gesicht man immer auch den Zustand der Welt ablesen kann.

Rabea Weihser. Wie wir so schön wurden, Diogenes, 352 Seiten, 27,50 Euro.

Nina George

Absturz ins Leben

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Eine Frau versucht sich aus der toxischen Beziehung zu ihrem Mann zu befreien und verschwindet aus ihrem alten Leben: Filmdiva Jeanne Patou scheint bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen zu sein. Tatsächlich taucht sie in einer Wohngemeinschaft in Barcelona unter, wo alle Frauen ähnliche Schicksale haben. Eine feministische Identitätssuche mit Perspektivenwechsel.

Nina George. Die Passantin. Kein & Aber, 266 Seiten, 28,70 Euro.

Sally Carson

Eine Entdeckung

Empfohlen von Ute Baumhackl

Empfehlung für alle, die gern Englisch lesen: 90 Jahre lang war das Buch vergessen, heuer wurde es wieder aufgelegt. Die britische Autorin bereiste Deutschland in den frühen 1930ern und schildert aus Sicht der Zeitgenossin ein bayerisches Familienidyll, das mit Antritt des NS-Regimes zu zerfallen beginnt. Ein Buch spektakulärer Hellsichtigkeit, die ins Heute herüber zu greifen scheint.

Sally Carson. Crooked Cross. Persephone, 380 Seiten, 23,99 Euro.

Rebecca Gablé

Süffiges Mittelalter

Empfohlen von Marianne Fischer

England im 11. Jahrhundert. Nicht nur unter den Wikingerüberfällen, auch unter dem Gerangel um den Königsthron leidet die ganze Bevölkerung. Neben all den Intrigen und Schlachten müssen die Menschen am Hof, aber auch in den Dörfern irgendwie (über)leben. Wenn eine den Weg durch dieses historische Dickicht weisen kann, dann ist es Rebecca Gablé mit diesem süffig erzählten Roman. Die deutsche Autorin, bekannt für penible Recherche, stellt gewohnt souverän realen Figuren wie Königin Emma fiktive Figuren wie Aelfric of Helmsby zur Seite und füllt damit die Geschichte(n) mit prallem Leben.

Rebecca Gablé. Rabenthron. Lübbe, 896 Seiten, 31,50 Euro.

Walter Moers

Postmoderne zum Zerkugeln

Empfohlen von Martin Gasser

Ein aus Gallert bestehender Prinz, der durch die Dimensionen reist? Ein Würmchen als Reittier? Ein Kontinent, der vor der Versteinerung bewahrt werden muss? Walter Moers schickt im Abenteuerroman „Qwert“ den gleichnamigen Helden in 45 „Aventiuren“ durch eine Tour-de-Force ritterlicher Heldenhaftigkeit. Moers ist ein Glücksfall der Literatur, ein Autor, der postmoderne Metafiktion, Humor, Fantasy und Unterhaltung zusammenführt und die Gegensätze von hoher und Trivialliteratur mit einem Streich zunichtemachen kann, wie ein gewisser Cervantes vor 450 Jahren.

Walter Moers. Qwert. Penguin, 592 Seiten mit vielen Illustrationen. 44,50 Euro.

Judith Kranz

Den Ausbruch
wagen

Empfohlen von Andreas Kanatschnig

Die tapsigen Gestalten wirken niedlich, doch ihr Leben ist von Grund auf bedroht. Die Somas leben in einer dystopischen Zukunft, abhängig von den Entscheidungen des „Großen Rates“. Für Nahrung sorgen Lebensbäume – bei jeder Pflanzung muss sich ein Soma opfern. Eine klug durchdachte Geschichte – mit Bleistift gezeichnet – die von der Möglichkeit erzählt, dass das Leben auch Auswege anbietet.

Judith Kranz. Soma. Reprodukt, 192 Seiten, 30,95 Euro.

Louise Erdrich

Aus dem
Gleichgewicht

Empfohlen von Bernd Melichar

Die Welt im Großen und Kleinen einzufangen und die Verbindungen dazwischen offenlegen, ist die Stärke von Louise Erdrich. Schauplatz North Dakota, 2008: Finanzkrise, Klimawandel und dazwischen Beziehungsgeflechte, die auch aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Pulitzer-Preisträgerin schreibt kritisch, empathisch, engagiert und ist zudem eine große Erzählerin.

Louise Erdrich. So war die Welt. Aufbau, 695 Seiten, 26,80 Euro.

Axel Hacke

Danke, mir
geht's gut!

Empfohlen von Julian Melichar

Dieser Kolumnist (Süddeutsche) und Autor versucht Unerhörtes! Er stellt die alltäglichste aller Fragen, die man in Zeiten wie diesen nur mit einem Seufzer stillen kann. Und er unternimmt den kühnen Versuch, diese Zeiten auch noch zu beleuchten. Was wie ein entbehrlicher Ratgeber-Einwurf klingt, ist in Wahrheit eine kathartische Inventur unserer Wirklichkeit zwischen Aufbruch und Agonie, Post-Demokratie und Pseudo-Zukunft. Mit dem überraschenden Ergebnis: Am Ende wähnt man sich in seltsamer Hoffnung. Das kann nur Axel Hacke. „Wie fühlst du dich?“ – Danke, gut!

Axel Hacke. Wie fühlst du dich? Dumont, 256 Seiten, 23,95 Euro.

Rachel Kushner

Alles andere als
James Bond

Empfohlen von Susanne Rakowitz

In den USA wurde es für die Ex-Agentin Sadie Smith zu brenzlig und so lässt sie sich in Frankreich anheuern, um eine Kommune von Umweltaktivisten zu infiltrieren. Herrlich abgeklärt und fokussiert gibt sie die präzise vorbereitete Akteurin, die sich der Gruppe annähert. Aber es ist ein schmaler Grat, auf dem sie balanciert, denn wäre ein Neuanfang vielleicht nicht doch besser? Umweltaktivismus, Antikapitalismus und Aussteigertum, ballen sich in der französischen Provinz zusammen und Sadie Smith blickt durch ihr amerikanisches Monokel sehr genau auf Good Old Europe. Autsch!

Rachel Kushner. See der Schöpfung. Rowohlt, 480 Seiten, 27, 50 Euro.

Vicki Baum

Kluge
Auswahl

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Sie schrieb mehr als „Menschen im Hotel“ (dessen Verfilmung mit Greta Garbo 1932 einen Oscar erhielt): Die Wiener Jüdin Vicki Baum verfasste mehr als 30 Romane („Stud. chem. Helene Willfüer“, „Vor Rehen wird gewarnt“). Die nun aufgelegte sechsteilige Werkauswahl enthält neben einem Band mit Novellen fünf der wichtigsten Romane, klug ediert und recherchiert.

Vicki Baum. Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Wallstein, 3244 Seiten, 131,60 Euro.