EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION
Mit 27 Büchern eintauchen in den Sommer

Neue Romane, Klassiker, Sachbücher, Krimis & Thriller, Lesekost für Kinder. Das sind die Tipps der Redakteurinnen und Redakteure der Kleinen Zeitung für einen erfrischenden Bücher-Sommer.
Kate Atkinson
Schillerndes Porträt der 1920er
Empfohlen von Marianne Fischer
Im London der 1920er pulsiert das Leben: In den Nachtclubs wird getanzt, getrunken, gekokst, unter der schillernden Oberfläche lauern aber zahlreiche Abgründe. Korruption und Gewalt sind an der Tagesordnung, die Wunden des Ersten Weltkriegs noch lange nicht verheilt. Die Königin von Soho ist Nellie Coker, aber ihr Imperium ist bedroht – von innen und außen. Intelligent, vielschichtig, kurzweilig.
Kate Atkinson. Nacht über Soho. Dumont, 528 Seiten, 25,60 Euro.
Sebastian Haffner
Ein Fest
fürs Leben
Empfohlen von Martin Gasser
Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ zählen zu den Standardwerken über den Nationalsozialismus. Aus dem Nachlass des 1999 verstorbenen Berliner Publizisten stammt der Liebesroman „Abschied“, den er knapp vor der Machtergreifung geschrieben hat. Eine Hymne an das Leben und die Leichtigkeit, voller Lebenslust. Und der Abschied von einer Zeit der Freiheit.
Sebastian Haffner. Abschied. Hanser, 192 Seiten, 25,90 Euro.
Tammy Armstrong
Im Geist alter
Abenteuer
Empfohlen von Andreas Kanatschnig
Pearly Everlasting ist ein magisches Buch, das von einem Mädchen erzählt, das in der rauen Welt kanadischer Holzfäller aufwächst – Seite an Seite mit dem zahmen Bär Bruno. Mit dem Moment, in dem Pearly kapiert, dass ihr Leben hart, arm und ungerecht ist, zieht auch mehr Realismus in die märchenhaft gemalte Welt. Auch der bisher geduldete Bruno gerät in Gefahr.
Tammy Armstrong. Pearly Everlasting. Diogenes, 368 Seiten, 26,95 Euro.
Sanne Rooseboom
Ungewöhnliche Schatzsuche
Empfohlen von Michaela Kanatschnig
Es sind Ferien, und nur Motte und ihre Mutter sind nicht in den Urlaub gefahren. Während Mottes Mutter andere Menschen von Berufs wegen verschönert, trägt ihre Tochter am liebsten schwarz. Zum Glück zeigt Lehrer Lukas Motte das Metallfischen – das perfekte Hobby für Motte, denn sie liebt das Unperfekte an den Dingen.
S. Rooseboom. Motte und die Metallfischer. Ab 10 Jahren. Magellan, 336 Seiten, 18 Euro.
Ocean Vuong
Geist und
Gefühl
Empfohlen von Bernd Melichar
Bittere Zärtlichkeit und Straßenschmutz durchziehen den neuen Roman des US-vietnamesischen Schriftstellers Ocean Vuong. Komplexe Themen wie Klasse, Herkunft, Sexualität, Queerness, Jugend, Stadt und Provinz verhandelt er mit leichter Erzählhand, geführt von Geist und Gefühl.
Ocean Vuong. Der Kaiser der Freude. Hanser, 521 Seiten.
Matthias Politycki
Macht-
spiele
Empfohlen von Julian Melichar
Ein gewagter Versuch, die alte Männlichkeit zu verteidigen. Differenziert, aber nicht feige; fordernd, doch nie anmaßend. Der Westen sinniert über toxische Verhaltensmuster, während der Rest der Welt die Ellbogen ausfährt, so der Autor. Ein höchst interessanter Essay auf dem Minenfeld.
Matthias Politycki. Mann gegen Mann. Hoffmann & Campe, 256 Seiten, 25,50 Euro.
Sissi Tax
Wortspielraum
Empfohlen von Tina Perisutti
Lustvolle Sprachspiele mit philosophischen und politischen Anklängen. Aus Wörtern formen sich Bilder, um dann durch assoziative Gebilde zu fließen und immer neue Bedeutungen zu wecken. Die kurzen, intensiven Textkreationen verleiten zum Schmunzeln wie auch zum Nachdenken.
Sissi Tax. das abc der sissi tax. Ritter, 96 Seiten, 15 Euro.
Katharina Köller
Transformation
Empfohlen von Susanne Rakowitz
Marie haut ab, muss abhauen. Aus der Stadt, aus der Beziehung. Wohin? In der Not zu Johanna, Cousine, Eremitin am Berg. Nix außer einer dramatischen Geschichte haben sie gemeinsam. In fabelhafter Sprache (im wahrsten Sinne) lotet die Autorin die nicht vorhandene Schnittmenge aus. Dicht!
Katharina Köller. Wild wuchern. Luchterhand, 208 Seiten, 23,50 Euro.
Olga Flor
Zynische Satire
Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig
Eine apokalyptische Welt in bunten Farben: Der Planet ist unwuchtig geworden, hat „eine Beule“ bekommen, die Klimakatastrophe manifestiert sich in Überschwemmungen, Feuerstürmen. Amanda macht sich auf den Weg, um ihre Tochter Nora zu suchen. Zynische Satire mit einer Prise Hoffnung.
Olga Flor. Ein kurzes Buch zum fröhlichen Untergang. Jung und Jung, 160 Seiten, 20 Euro.
Volker Klüpfel
Liebenswert-
verschroben
Empfohlen von Marianne Fischer
Ein Möchtegern-Thriller-Autor, der in einem alten Wohnmobil wohnt, und eine taffe, ukrainische Putzfrau, die für ein bisschen Ordnung in seinem Leben sorgt: Volker Klüpfel erzählt von einem schrägen Duo, das an einem Waldrand auf ein Mädchen stößt. „Muss sich doch kümmern jemand“, sagt Svetlana. Das wird für Schwierigkeiten sorgen. Liebenswert-verschrobener Blick auf die Welt.
Volker Klüpfel. Wenn Ende gut, dann alles. Penguin, 416 Seiten, 25,50 Euro.
Joyce Carol Oates
Der ganz
reale Horror
Empfohlen von Martin Gasser
Für Unerschrockene: Ein feministischer Horrorroman, der auf Tatsachen beruht. Joyce Carol Oates hat einen Schocker über die Anfänge der Gynäkologie in den USA verfasst: Dr. Weir hat kein Talent, aber die Mittel und die Möglichkeit, an Sklavinnen zu experimentieren. Fabulierlustig, farbig und erschütternd. Das Buch, das Quentin Tarantino gerne geschrieben hätte, aber wohl nicht zustande brächte.
Joyce Carol Oates. Der Schlächter. Blessing. 448 Seiten, 25,50 Euro.
Jack London
Die Wildnis ruft noch immer
Empfohlen von Andreas Kanatschnig
Jack London (1876–1916) hat das Abenteuer-Genre gekonnt geprägt. Sein „Ruf der Wildnis“ ist jene Sorte von Roman, dem gerade in der Hitze des Sommers ein erneutes Lesen gut tut: Die Form (erzählt aus der Perspektive des Rüden Buck) bleibt überzeugend, eines der Hauptthemen (die Konfrontation des zivilisierten Hundes mit der ungezügelten Wildnis) nährt die Sehnsucht nach Abenteuer.
Jack London. Ruf der Wildnis. Anaconda, 256 Seiten, 8,95 Euro.
Kate Peridot, Terri Po
Der Traum
vom Weltall
Empfohlen von Michaela Kanatschnig
Obwohl Weltraumgeschichten bei Kindern in etwa denselben Beliebtheitsstatus haben wie Dinosaurierbücher, hat es dieses Buch mehr als andere geschafft, zum richtigen Zeitpunkt zu erscheinen. Denn zu keiner Zeit erschien es realistischer als heute, sich den Traum vom Flug ins All zu erfüllen.
Kate Peridot, Terri Po. Dein Ticket ins Weltall. Ab 7 Jahren. Knesebeck, 64 Seiten, 20,60 Euro.
Milica Vučković
Zerstörende
Männer
Empfohlen von Bernd Melichar
Die serbische Schriftstellerin Milica Vučković hat einen herausragenden Roman über die emotionale Zerstörungskraft von Männern geschrieben. Die Geschichte ist schrecklich, macht aber Spaß beim Lesen, wofür man sich fast schämt.
M. Vučković. Der tödliche Ausgang von Sportv. Zsolnay, 190 Seiten, 23,70 Euro.
Michel Faber
Der letzte
Konsens
Empfohlen von Julian Melichar
Michel Faber legt unsere Hörgewohnheiten unter das Seziermesser. Warum gibt es Songs, die wir nie leid sind, was hat das alles mit Biologie zu tun, und wie können wir unsere Lieblingsplatten vielleicht doch noch einmal neu entdecken? Ein wunderbares „Hörbuch“ über den letzten uns verbliebenen Konsensort: Musik.
Michel Faber. Hör zu! btb, 544 Seiten, 29,50 Euro.
Karin Antonia Mairitsch
Zwischen Kulturen
Empfohlen von Tina Perisutti
Ist der Anfang die Schweiz oder ist sie das Ende? Von einer Handvoll Menschen ausgehend, die sich an und in diesem Land abarbeiten, dringt der Roman ein in aktuelle Themen wie Identität, Mentalität und wirft die Frage nach sexueller Orientierung und möglicher Umorientierung auf.
Karin Antonia Mairitsch. Schweizweh. Johannes Heyn, 256 Seiten, 26,90 Euro.
Kristine Bilkau
Perspektivenwechsel
Empfohlen von Susanne Rakowitz
Ein bisschen grundelt sie dahin, diese Annette. An die 50 ist sie, in ihrem Haus am Wattenmeer. Dann kracht ihre Tochter wie ein Meteorit zurück in ihr Leben. Linn hat sich rausgenommen aus dieser Leistungsgesellschaft. Ein Buch über das Zueinanderfinden und Sich-neu-finden.
Kristine Bilkau. Halbinsel. Luchterhand, 224 Seiten, 25,50 Euro.
Martina Behm
Vom Leben im Dorf
Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig
Eine Familie zieht von Hamburg aufs Land. Dort ist es alles andere als idyllisch, der Traum der Städter platzt. Lärmende Traktoren Tag und Nacht, Jauche-Gestank, Besäufnisse auf Dorffesten und das ständige Rasen-Mähen in der Nachbarschaft zerren an den Nerven. Und dann überfährt der Vater auch noch eine weiße Hirschkuh. Witzig und todernst.
Martina Behm. Hier draußen. dtv, 490 Seiten, 24,70 Euro.
Stefan Zweig
Ein Leben zwischen Zeiten
Empfohlen von Marianne Fischer
Von der Habsburgermonarchie bis zu den großen Veränderungen Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Stefan Zweig (1881–1942) beschreibt in seiner im Exil entstandenen Autobiografie eine „Welt von gestern“, gleichzeitig kann man auch viel über das Heute lernen. Ein brillantes Porträt einer verlorenen Epoche, aber auch ein bewegendes Zeugnis kulturellen und politischen Wandels.
Stefan Zweig. Die Welt von gestern. Fischer, 512 Seiten, 18 Euro.
Thomas Mann
Genug für
ein Leben
Empfohlen von Martin Gasser
Seite für Seite ein Lesegenuss, Seite für Seite ein Sprachkunstwerk. Thomas Manns Tour d’Horizon durch Europas Ideengeschichte und Kultur hat einfach alles: Tiefe, Witz, Ironie, intellektuelle Schärfe, politische und psychologische Analyse und einen erzählerischen Reichtum ohnegleichen. Zum Immerwiederlesen, ganz oder in Auszügen, bietet der Roman Stoff für ein ganzes Leben.
Thomas Mann. Der Zauberberg. Fischer, 1072 Seiten, 21,50 Euro.
Birgit Weyhe
Strukturelles
Schweigen
Empfohlen von Andreas Kanatschnig
Birgit Weyhe gehört seit vielen Jahren zu den wichtigsten Stimmen im deutschsprachigen Comic. Ihre Graphic Novel „Schweigen“ erzählt anhand zweier ausgewählter Frauenbiografien vom strukturellen Schweigen in Diktaturen und der Zeit danach. Eine Geschichte beginnt in der Zeit des Holocausts, ein weiteres Mal zeigt Weyhe, wie über die Verbrechen der argentinischen Militärjunta geschwiegen wird.
Birgit Weyhe. Schweigen. Avant-Verlag, 360 Seiten, 41,95 Euro.
Giselle Clarkson
Forschend durch
die Welt
Empfohlen von Michaela Kanatschnig
„Schau genau hin!“ ist ein kurzweiliges Buch im Comic-Stil, das beweist, dass man nicht in den Dschungel fliegen muss, um aufregende Naturphänomene zu entdecken. Es reicht ein Blick in eine Lacke, eine feuchte Ecke oder auf das Supermarkt-Schwammerl, um vielleicht irgendwann der nächste beste Naturfilmer zu werden.
Giselle Clarkson. Schau genau hin! Ab 8 Jahren. Moritz, 128 Seiten, 22,70 Euro.
Karl Ove Knausgård
Den „Faust“
im Nacken
Empfohlen von Bernd Melichar
Sein gigantischer „Min Kamp“-Selbstbespiegelungszyklus gehört bereits zum modernen Klassiker-Portfolio; im aktuellen Roman von Karl Ove Knausgård geht es um Hyper-Narzissmus, krankhaften Ehrgeiz, das Fehlen von Empathie. Raffiniert spielt der schwedische Literatur-Superstar mit dem Faust-Motiv. Am Ende steht aber die Erkenntnis, dass die Hölle in uns selbst steckt. Ein faszinierendes Nachtstück.
Karl Ove Knausgård. Die Schule der Nacht. Luchterhand, 665 Seiten.
Sophie Gilbert
Von wegen Selbstermächtigung
Empfohlen von Julian Melichar
Sophie Gilberts Buch legt offen, wie unter dem Deckmantel der Kunst weibliche Erniedrigung inszeniert wird. Von Britney Spears in den 90ern bis heute analysiert sie den Pop-Kosmos: Power Girls, Boss Girls, Neid, Size Zero. Wo endet Selbstermächtigung, wo beginnt Selbstsexualisierung? Und was ist weibliche Macht wert, wenn sie an sexuelle Verfügbarkeit geknüpft ist? Body Positivity war gestern, die Selbstverniedlichung ist zurück. Ein klarsichtiges Buch zur rechten Zeit.
Sophie Gilbert. Girl vs. Girl. Piper, 336 Seiten, 19 Euro.
Ingeborg Bachmann
Erzählungen
mit Tiefgang
Empfohlen von Tina Perisutti
Sieben Erzählungen von Ingeborg Bachmann, die die Dichterin mit einem „Utopiezeichen“ verbunden wissen wollte. Streift sie in „Jugend in einer österreichischen Stadt“ durch die Straßen in Klagenfurt, so spürt sie in „Undine geht“ einer Nymphe nach, die an Land nur durch die Treue eines Mannes leben kann. Die lyrische Kraft Bachmanns zieht sich auch durch diese dichten Erzählungen hindurch.
Ingeborg Bachmann. Das dreißigste Jahr. Piper, 192 Seiten, 14,10 Euro.
Roger Willemsen
Odyssee,
verlockend
Empfohlen von Susanne Rakowitz
Der 2016 verstorbene Roger Willemsen war so etwas wie der Herodot der kleinen Dinge. Für ihn war die Welt ein offener Quellcode, den er mit seiner präzisen Beobachtungsgabe auslesen konnte. All das packte er in fulminante Texte. Fünf Kontinente bereist er in diesem Buch – von Bombay bis Timbuktu. Sein Blick auf das Reisen schärft auch den eigenen. Ein Buch, nein, ein Lebensbegleiter.
Roger Willemsen. Die Enden der Welt. Fischer Verlag, 544 Seiten, 18 Euro.
Joseph Roth
Welt von
gestern
Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig
Klassiker. Abgesang an die k.u.k.-Monarchie und sensibles Psychogramm: In der Schlacht von Solferino rettet Joseph Trotta dem jungen Kaiser Franz Josef das Leben, wird daraufhin geadelt und als Held gefeiert, was später auch das Leben von Sohn und Enkel prägt. Atmosphärisch dichtes Zeitporträt. Mit „Die Kapuzinergruft“ verfasste Roth eine zwingende Fortsetzung, über die ein Kritiker einmal schrieb: „Es ist ein Roman ohne Ausweg, es sei denn in eine Gruft.“
Joseph Roth. Radetzkymarsch. dtv, 416 Seiten, 13,40 Euro.