EMPFEHLUNGEN DER REDAKTION

17 bunte Buchtipps für den literarischen Herbstzauber

Illustration: Adobe Stock

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Romane, Biografisches und Bildbände – das sind die Tipps von Bernd Melichar und Karin Waldner-Petutschnig für einen goldenen Bücherherbst.

Mieze Medusa

Mit Ironie
Mut machen

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Mitreißend alltägliche Sorgen, Freundinnen und viel Humor prägen das Leben von Melanie, die in einem feministischen Hotelprojekt jobbt und ständig in Geldnot ist. Mieze Medusa hat wieder einmal ihre rhythmische Sprache, feine Beobachtungsgabe und eine Portion Ironie in einen warmherzigen Roman gepackt – ein Lesevergnügen!

Mieze Medusa. Hätte ich es vorher gewusst. Residenz, 256 Seiten, 26 Euro.

Michael Köhlmeier

Lebensgeschichte in Dialogform

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Filmregisseur Robert Dornhelm und Autor Michael Köhlmeier sind seit 40 Jahren befreundet. In „Dornhelm – Roman einer Biografie“ setzten sie sich lang zusammen, um über ihre Leben und die Welt zu reden. Herausgekommen ist ein amüsanter und informativer Dialog zweier Künstler, der von Dornhelms Geburtsland Rumänien über Österreich bis nach Hollywood führt. Dornhelm, dessen Villa in den USA bei einem Feuer vernichtet wurde, spricht aber auch über den politischen Wandel in Amerika und Entwicklungen in der Filmindustrie: „Mein Amerika ist abgebrannt.“

Michael Köhlmeier. Dornhelm. Zsolnay. 284 Seiten, 26,80 Euro.

Peter Waterhouse

Von Spuren, die Bücher ziehen

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Zuhause in Wien und im zweisprachigen Südkärnten, wo einst sein Vater als britischer Offizier stationiert war, ist der in Berlin geborene Peter Waterhouse ein vielstimmiger Schreiber und Denker, der gerne Brücken baut. In dem 1500 Seiten starken Wälzer mit dem sperrigen Titel „Z Ypsilon X“ forscht der Autor unter anderem den Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen im Leben und Lesen seines Großvaters nach. Der war in der NS-Zeit Hauptschriftleiter in Österreich und gleichzeitig ein ungemein belesener Mann mit einer Privatbibliothek von Shakespeare über Karl Kraus bis Dostojewski.

Peter Waterhouse. Z Ypsilon X. Matthes und Seitz. 1554 Seiten, 148 Euro.

Clemens J. Setz

Weiterexistieren in fremden Köpfen

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Nicht nur für Fans des Büchnerpreisträgers Clemens J. Setz ist das Buch zum Film seines Lebens eine bereichernde, berührende Lektüre. Mitzuerleben, wie aus einem sensiblen, belesenen Achtzehnjährigen ein Star des deutschsprachigen Literaturbetriebs wird, eröffnet einen intimen Blick auf den werdenden Autor und seine Fragen ans Leben. Das Buch umfasst eine Auswahl an E-Mails, handschriftlichen Notizen aus den Jahren 2000 bis 2010, Beobachtungen, Erlebnisse, Wünsche eines jungen Mannes aus Graz, der bis zu seinem 16. Lebensjahr wenig mit Literatur anfangen konnte. Über Ernst Jandl und Friederike Mayröcker fand er zur Poesie und wollte bald unbedingt selbst gelesen werden, „das heißt, in fremden Köpfen als vorübergehend vom Nichts getrenntes Hologramm weiterexistieren dürfen“. Die autobiografischen Aufzeichnungen beginnen mit Clemens Setz´ Zeit als Zivildiener in einem Zentrum für Menschen mit Behinderung, erzählen vom wenig erfüllenden Studium, belastenden Familienverhältnissen, aber auch von der frühen Sehnsucht nach einem eigenen Kind. Eine Reise nach Venedig, das erste veröffentlichte Buch und die Teilnahme am Bachmann-Wettbewerb führen den einstigen Computer-Nerd in die literarische Welt. Poetische Preziosen, die zwischen den Berichten aufblitzen, machen diese lesenswerte Chronik zu einer kleinen, feinen literarischen Schatzkiste.

Clemens Setz. Das Buch zum Film. Jung&Jung, 192 Seiten, 24 Euro.

Robert Prosser

Piefke-Saga und Partisanen

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Zwischen Tourismus in Tirol und Graffiti-Kultur im Libanon changiert dieser Roman. Piefke-Saga und Partisanengeschichte, Kriegsberichterstattung und Reisereportage zugleich, behandelt die Erzählung originell das Thema Erinnerungskultur. Abseits der Saison dröhnt in dem Dorf, in dem es einst ein Lager für Zwangsarbeiter gab, das Schweigen.

Robert Prosser. Das geplünderte Nest. Jung&Jung. 176 Seiten, 24 Euro.

Michaelina Wautier

Comeback einer Alten Meisterin

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Sehr lieblich schaut es aus, eine Blumengirlande, ein flatternder Schmetterling. Ach ja, da wären noch die beiden Tierschädel, die das Idyll flankieren. Ein launiger Hinweis auf die Vergänglichkeit: Die Barockmalerin Michaelina Wautier (1614–1689) wurde in den letzten Jahren der Vergänglichkeit entrissen. Das Kunsthistorische Museum in Wien widmet ihr nun eine fulminante Ausstellung und einen üppigen Ausstellungskatalog.

„Michaelina Wautier“, hrsg. von Gerlinde Gruber u. a., Belser Verlag, 192 S., 39,95 Euro. 

Anna Maschik

Schlachtungen und Geburten

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Außergewöhnlich und unsentimental ist der formal anspruchsvolle Roman der Wienerin Anna Maschik. Ihrem Text merkt man an, dass sie bisher Kurzprosa und Lyrik veröffentlicht hat. Kurz und dicht sind auch die knappen Kapitel, die über mehrere Generationen das martialische Dorfleben irgendwo in Norddeutschland schildern. In ihrem Debütroman berichtet Ich-Erzählerin Alma lakonisch von Schlachtungen und Geburten, zählt auf: „Dinge, die hängen: Das Schaf am Haken/Die Schinken in der Räucherkammer/Der Urgroßvater am Balken...“

Anna Maschik. Wenn du es heimlich machen willst. Luchterhand. 240 Seiten, 23 Euro.

Sarah Kuratle

Poesie in einer dystopischen Welt

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Sinnlich und surrealistisch ist das „nature writing“ der Vorarlbergerin Sarah Kuratle, das ihren zweiten Roman kennzeichnet. Es ist eine dystopische Welt, die sie in „Chimäre“ entwirft und erschreckend nahe an der Realität. Klimawandel und Artensterben, extreme Wetterereignisse und der Anstieg des Meeresspiegels beschäftigen Schüler und Lehrer in einer Forschungsstation auf einer namenlosen Insel. Da ist Alice, die nicht weiß, ob sie lieber Fisch oder Vogel sein würde oder Gregor, der versucht, das Trauma eines Missbrauchs abzuwaschen – ein poetisches Plädoyer für einen achtsamen Umgang mit der Natur.

Sarah Kuratle. Chimäre. Otto Müller. 160 Seiten, 23 Euro.

Sabine Scholl

Kleidung schützt nicht vor Gefühlskälte

Empfohlen von Karin Waldner-Petutschnig

Sie sind arm und angewiesen auf die Nähkünste der Mutter: Im Roman „Die zweite Haut“ erleben die Ich-Erzählerin und ihre Brüder keine Umarmungen, keine Nähe und Zärtlichkeit ihrer Mutter, sondern „nur Zuschneiden, Anheften, Saumabstecken“. Familien- und Modegeschichte verwebt die österreichische Autorin Sabine Scholl kunstvoll zum Psychogramm einer Familie. Armut und die Scham darüber prägen das Aufwachsen von Kindern, wie Scholl aus eigener Erfahrung weiß: „Das können wir uns nicht leisten.“ Auch ihre Ich-Erzählerin emanzipiert sich, wird Studentin, Schriftstellerin, Mutter.

Sabine Scholl. Die zweite Haut. Weissbooks. 224 Seiten, 24 Euro.

Laila Lalami

Dieser Big Brother wird immer größer

Empfohlen von Bernd Melichar

Künstliche Intelligenz, Daten-Mining, Überwachung: Themen, die auch längst unseren Alltag umkreisen, hat Laila Lalami zu einem ebenso spannenden wie erschreckenden Roman verwoben. In „Das Dream Hotel“ erlebt Sara – verheiratet und Mutter von Zwillingen – eine albtraumhafte Odyssee, als sie auf dem Flughafen von Sicherheitsbeamten angehalten und später inhaftiert wird. Der Grund: Die Analyse ihrer Traumdaten hat ergeben, dass ihre Risikobewertung zu hoch ist, deshalb darf sie nicht zu ihrer Familie zurück. Der Roman spielt in einer Zukunft, die bereits begonnen hat. Es geht u. a. um eine „neue Ära digitaler Polizeiarbeit“, um den (vermeintlichen) Kampf gegen Terrorismus und die damit verbundenen Kollateralschäden. Sara ist einer davon.

Laila Lalami. Das Dream Hotel. Kein&Aber, 490 Seiten, 27,50 Euro.

Anton Corbijn

Kultfiguren und Freunde unter sich

Empfohlen von Bernd Melichar

Das letzte Album von Tom Waits („Bad as me“) liegt bereits 14 Jahre zurück, aber jetzt gibt es ein schönes optisches Trostpflaster in Form eines außergewöhnlichen Buches. „Waits/ Corbijn“ heißt das Werk und beinhaltet 145 Porträts, die der Kult-Fotograf Anton Corbijn im Laufe von vier Jahrzehnten von Tom Waits, ebenfalls Kultfigur, aufgenommen hat. Ergänzt wird die großartige Sonderausgabe von Gedanken, Skizzen und Fotos von Tom Waits selbst, die in diesem Buch zum ersten Mal veröffentlicht werden. Waits sagt zu den Fotos von Corbijn: „Anton nimmt eine kleine schwarze Box in die Hand, richtet sie auf dich, und die Bäume verlieren ihre Blätter. Die Schatten sind jetzt lang und unheimlich, das Haus sieht völlig verlassen aus und ich wie ein gutaussehender Leichenbestatter.

Waits/Corbijn. Schirmer/Mosel, 272 Seiten, 60 Euro.

Ian McEwan

Das Gedicht und der Untergang

Empfohlen von Bernd Melichar

Es ist etwas passiert.­ Ein nuklearer Schlagabtausch, eine katastrophale Überflutung. Großbritannien ist zu einem Archipel geschrumpft, viele Städte sind nur noch mit der Fähre erreichbar. Wir schreiben das Jahr 2119. Und dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, lässt der britische Autor Ian McEwan gänzlich normal, ja selbstverständlich erscheinen. Erst langsam sickert das Bedrohliche durch. Das ist Suspense auf höchstem literarischen Niveau. Von diesem Szenario aus arbeitet sich der Literaturwissenschafter Thomas Metcalfe in die Vergangenheit, ins Jahr 2014, vor. Seine Passion gilt der Wiederauffindung eines Gedichtzyklus‘, den der Dichter Francis Blundy seiner Frau Vivien gewidmet hat. Das Werk wurde handschriftlich auf Pergament gefertigt und ging dann verloren. „Was wir wissen können“ ist Ian McEwan auf der Spitze seines Könnens. Und wie er eine Vielzahl an Themen aufgreift und trotzdem nie die „Story“ aus den Augen verliert, ist Leselust und geistige Herausforderung gleichzeitig. Eine Kombination, die fast nur angelsächsische Großmeister zuwege bringen. Dieser Roman ist Liebesgeschichte und Endzeitgeschichte; eine Geschichte über Verlust, Verrat, Verantwortung. Es geht aber auch darum, welche Rolle Kunst in Zeiten großer Umbrüche spielen kann. Und nicht zuletzt ist es ein Buch, dessen Vergangenheit unsere Gegenwart ist. Wenn wir es lesen, müssen wir auch das Wissen um das eigene Versagen ertragen.

Ian McEwan. Was wir wissen können. Diogenes, 462 Seiten, 28,50 Euro.

Irene Dische

Eine Krone für Alice

Empfohlen von Bernd Melichar

In „The Crown“ wurde sie als liebe, verrückte Alte dargestellt. Da hat US-Schriftstellerin Irene Dische schon mehr Schattierungen drauf, wenn sie „Prinzessin Alice“ ein Denkmal setzt, das aus einer wunderbaren Fakten-Fiktion-Mischung gebaut ist. Bei der Prinzessin handelt es sich um Alice von Battenberg (1885–1969), Mutter von Prinz Philip, Schwiegermutter von Queen Elizabeth II. und Urenkelin von Queen Victoria. Mit Sprachwitz und Sympathie für ihre Figur beschreibt Dische in ihrem Roman einen Lebensweg zwischen Lebenslust, Gotteshingabe und geistiger Krankheit. Das Porträt einer starken Frau und stillen Heldin.

Irene Dische. Prinzessin Alice. Claassen, 158 Seiten, 20,50 Euro.

Claire Kilroy

Voll Liebe und Wut

Empfohlen von Bernd Melichar

Nein, das Leben ist kein Kinderspiel, wenn man Kinder hat und mit allem, was damit zusammenhängt, allein gelassen wird. Mit dunklem Humor und kompromissloser Offenheit schildert die vielfach ausgezeichnete irische Schriftstellerin Claire Kilroy ihren Alltag mit endlosen Wäschebergen, Schlafentzug, Spielgruppen und Anforderungen, die sie wie selbstverständlich schultern soll. Erzählt wird die Geschichte in einem inneren Monolog der Mutter. Dabei geht es um die Ängste und Widersprüche, die sich einstellen, wenn das Leben sich radikal verändert. Es geht um Liebe, Schmerz, Verwirrung, auf romantische Verklärung wird großzügig verzichtet.

Claire Kilroy. Kinderspiel. Fischer, 285 Seiten, 23,50 Euro.

Thomas Pynchon

Unfassbar großartig

Empfohlen von Bernd Melichar

Keine Interviews, keine Fotos, Autor und Bücher bleiben rätselhaft. Auch im neuen Roman „Schattennummer“ entzieht sich Thomas Pynchon (88) allen Zugriffen. Nur eines steht fest: Es ist stets hochkarätige Literatur, die er abliefert; wild, widerborstig, bis zum Taumeln verwirrend. Wieder zaubert das ewige Phantom eine Detektivgeschichte aus dem Hut, aber eine nach seiner Façon. „Schnüffler“ Hicks McTaggart soll eine ausgebüxte Industriellen-Tochter finden. Wir schreiben die 1930er-Jahre, der Weg führt in ein Europa, das sich seiner Implosion nähert. Jede Ordnung zerfällt, jede Gewissheit bricht weg. Nur die nicht, dass Pynchons Bücher alles in den Schatten stellen.

Thomas Pynchon. Schattennummer. Rowohlt, 397 Seiten, 26,50 Euro.

Édouard Louis

Der Tod
des Bruders

Empfohlen von Bernd Melichar

An Mutter und Vater hat er sich bereits abgearbeitet, jetzt ist Édouard Louis im Zuge seiner schonungslosen Vergangenheitsbewältigung bei seinem Bruder gelandet. „Der Absturz“ ist wohl das schwierigste Buch des Franzosen, denn als Schutz vor dem Schmerz hat er sich Gleichgültigkeit anerzogen. „Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts; weder Traurigkeit noch Verzweiflung noch Erleichterung noch Freude“, so beginnt das Buch, das als verzweifelter Versuch, dieser Gleichgültigkeit zu entkommen, gelesen werden kann. Der große Bruder, Stück für Stück filetiert vom Leben, trat selbst zum Vernichtungsfeldzug an – auch gegen seinen homosexuellen kleinen Bruder Édouard.

Édouard Louis. Der Absturz. Aufbau-Verlag, 219 Seiten, 24,70 Euro.

Callan Wink

Nicht nur die Bären zeigen ihre Zähne

Empfohlen von Bernd Melichar

Zuerst erlegen sie (innerhalb der Schonzeit) gleich drei Braunbären, um an die wertvollen Gallenblasen der Tiere zu gelangen. Später werden die Brüder Thad und Hazen selbst fast vom Leben zerlegt. Mit „Bärenzähne“ hat der US-Autor Callan Wink einen modernen Western geschrieben, der in der Wildnis von Montana spielt und eine präzise Milieustudie der weißen Arbeiterklasse darstellt. Wink ist ein grandioser Erzähler, der packende Action mit Familiendynamik verbindet. Der Vater ist tot, die Mutter eine Leerstelle, das Dach undicht, der Winter nah. Der Roman ist ein fesselndes Drama des Überlebens und eine Erkundung der Zerbrechlichkeit dieses Lebens. Es geht um Sorgen, aber auch um Fürsorge in einem Land, durch das sich tiefe Bruchlinien ziehen.

Callan Wink. Bärenzähne. Suhrkamp, 251 Seiten, 26,90 Euro.