Lokalaugenschein in Belgien

Wenn Kinder schon mit zwei Jahren in die Schule gehen

REPORTAGE. Anders als in Österreich kommen in Belgien die meisten Kinder schon früh ins Bildungssystem. Über die Angst vor zu viel Drill, gleiche Startmöglichkeiten für alle und verpasste Chancen. Ein Lokalaugenschein in Brüssel.

Von Anna Stockhammer

Ohne zu zögern, ruft Colette: „Ein Regenschirm!“ Madame Barbara nickt dem zweijährigen Mädchen zu und sagt: „Bravo“. Sie zeigt auf das nächste Bild im aufgeschlagenen Buch. In einem Halbkreis sitzen die Kinder vor der Pädagogin. Regelmäßig werden sie auf die Vokabeln abgeprüft. In Österreich würde man Kindergarten zu diesem Ort sagen, hier in der belgischen Hauptstadt Brüssel heißt das école maternelle. „École“ bedeutet Schule. Und das ergibt Sinn, die Kinder lernen viel, die école maternelle ist fixer Bestandteil des Bildungssystems, meist angeschlossen an eine Volksschule. 

Eves Nase läuft, die Kleine steht aus dem Sitzkreis auf, nimmt sich ein Taschentuch, wischt sich damit über das Gesicht, geht zum Mistkübel und wirft es hinein. „Die Kinder werden schnell selbstständig“, sagt Madame Barbara, die mit Nachnamen Lantez heißt und seit 15 Jahren unterrichtet. In der École maternelle de Calevoet im Viertel Uccle bringt sie den Zwei- bis Dreijährigen Formen bei, Farben, erste Zahlen und wie man einen Stift richtig hält, seinen Namen schreibt und zusammenarbeitet.

Anders als in Österreich kommen in Belgien besonders viele Kinder früh in Berührung mit dem Bildungssystem.

Laut Eurostat-Daten befinden sich 52,7 Prozent der unter dreijährigen Kinder in  Belgien  in Betreuung.

Der  EU-Schnitt  (EU-27, ohne Großbritannien) von Kindern unter drei Jahren, die betreut werden, liegt zur Zeit bei 35,7 Prozent.

In  Österreich  sind es nur 23 Prozent der unter dreijährigen Kinder, die aktuell betreut werden.

Die Europäische Union sieht vor, dass alle Kinder früh gefördert und gefordert werden. Bis 2030 sollen die Mitgliedsstaaten eine Betreuungsquote von 45 Prozent bei unter Dreijährigen erreichen.

Kinder lernen schnell, wenn sie früh Bildung erfahren; sie profitieren und mit ihnen das ganze System.
Michel Vandenbroeck, Uni Gent

Der Bildungsforscher Michel Vandenbroeck von der Uni Gent ist überzeugt: Frühe Bildung trägt dazu bei, dass alle Kinder von Anfang an die gleichen Chancen haben, egal aus welcher Familie sie kommen. In der Klasse von Madame Barbara zeigt sich das. Diego aus Portugal und Dajyar aus Syrien lernen mit den anderen Kindern Französisch und Niederländisch.

Müttern gebe frühkindliche Bildung die Möglichkeit, wieder schneller zu arbeiten. Sie wirkt dem Trend zur Teilzeit entgegen, schließt die Einkommensschere zwischen Männern und Frauen, sagt Vandenbroeck. 

In Belgien wird keine Frau verurteilt, wenn sie ihr Kind ein paar Wochen nach der Geburt in die Krippe und dann in die ecole maternelle gibt. Niemand ist eine Rabenmutter, das hat Tina Obermoser erlebt. Die Steirerin hat ihre Tochter Emma in Brüssel großgezogen. Vieles sei ihr von den ganztägigen Bildungseinrichtungen abgenommen worden.

Vereinbarkeit von Familie und Beruf war kein Thema. Mir ist hier erst aufgefallen, wie gluckenhaft wir in Österreich manchmal sind.
Tina Obermoser, Mutter

Das große Problem mit der frühen Bildung: Sie erreicht nicht alle, sagt Bildungsforscher Vandenbroeck.

In Belgien, aber auch in Österreich sind Kinder aus finanziell schlechter aufgestellten Familien in den Einrichtungen unterrepräsentiert. Dabei wissen wir, dass der Effekt von frühkindlicher Bildung bei ihnen am stärksten ist.
Michel Vandenbroeck

Müsste man frühe Bildung also vielleicht für alle verpflichtend machen?

Liesje Vanhoeck schüttelt den Kopf.

Auf keinen Fall.

Die Mutter unterrichtet ihre Söhne Oskar (13) und Otis (9) in Antwerpen daheim.

Liesje Vanhoecks Wohnzimmer ist gleichzeitig Klassenzimmer, bunte Plakate hängen an der Wand und auch ein Stundenplan. Das belgische Schulsystem sei nicht gut genug, um Kinder dazu zu verpflichten, sagt Vanhoeck.

Oskar war ein Jahr alt und wir haben keinen Krippenplatz für ihn gefunden.
Liesje Vanhoeck, Mutter

Die Mutter berichtet von langen Wartelisten, von überforderten Pädagoginnen, weil Personalmangel herrscht. Auch sei das System zu streng, zu wenig individuell, der Leistungsdruck zu hoch.

„Die Kinder sollten einfach auch spielen dürfen.“ Zuletzt ist die Zahl der Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, in Belgien gestiegen. Aus der von ihr gegründeten Homeschooling-Organisation weiß Vanhoeck.

Die meisten Kinder, die zu Hause unterrichtet werden, finden im regulären System keinen guten Platz. Viele Eltern würden ihr Kind in die Schule schicken, wenn es denn eine geeignete gebe.
Liesje Vanhoeck

Das Bildungssystem, so wie es gerade ist, kann eine Pflicht zur frühen Bildung nicht stemmen, stimmt Bildungsforscher Vandenbroeck zu. 

Es wäre komisch, die Kinder zu Bildung zu verpflichten, wenn wir nicht sicherstellen können, dass die Kinder davon profitieren.
Michel Vandenbroeck

Damit frühe Bildung wirkt, muss sie gut sein. Was es bräuchte: kleinere Gruppen, mehr Unterstützung für Pädagoginnen und vor allem viel mehr Geld.

Es sind dieselben Baustellen, in Belgien und in Österreich. Gerade erst haben Tausende Pädagoginnen für ein besseres System demonstriert. Vom Bildungsministerium heißt es, man habe in Ausbildungsplätze für Pädagoginnen und Quereinstiegsmöglichkeiten investiert.

Für Natascha Taslimi von der Pädagogischen Hochschule Wien ist das längst nicht genug. Frühe Bildung spielt, so sagt sie, „zurzeit bestenfalls eine Statistinnenrolle in Österreich“. Die Kindergartenmilliarde nennt sie einen Fortschritt. Aber:

Über 35 Jahre wurde so gut wie kein Geld investiert. Es wird ein bissi gestopft, aber nachhaltig wirkungsvoll ist es nicht.
Natascha J. Taslimi, PH Wien

Es entstehe großer Schaden, Chancen werden verpasst. „Jeder Euro, den man in die frühe Bildung investiert, rentiert sich sieben oder zehnfach“, sagt Taslimi. Weil die frühe Bildung die spätere Laufbahn und die Gesellschaft so sehr beeinflusst, bräuchte man hier die „höchste Qualität“. Verbessert sich das System, würde es auch eher alle erreichen.

Was nicht bedeutet, dass schon kleine Kinder „gedrillt“ werden sollten, sagt Taslimi. Es gehe ums spielerische Lernen, das nah am Alltag ist.

Man kann zum Beispiel beim Essen, beim Tischdecken, fragen, wie viele Teller brauchen wir? Und das Kind wird zählen.
Natascha J. Taslimi

Generell könnten sich die Länder einiges voneinander abschauen.
In der Klasse von Madame Barbara ist die Vokabel-Zeit vorbei, jetzt zeigt die Pädagogin den Kindern an dem winzigen Tisch mit einer kleinen Maschine, wie aus Mais Popcorn wird. Sie erklärt, dass Wärme dabei eine Rolle spielt. Krachend kauen die Kleinen. „Ist das salzig oder süß, Colette?“ Die Zweijährige ist sich nicht ganz sicher, zusammen mit Madame Barbara ist die Antwort aber schnell gefunden. „Salzig!“

Es sind dieselben Baustellen, in Belgien und in Österreich. Gerade erst haben Tausende Pädagoginnen für ein besseres System demonstriert. Vom Bildungsministerium heißt es, man habe in Ausbildungsplätze für Pädagoginnen und Quereinstiegsmöglichkeiten investiert.

Für Natascha Taslimi von der Pädagogischen Hochschule Wien ist das längst nicht genug. Frühe Bildung spielt, so sagt sie, „zurzeit bestenfalls eine Statistinnenrolle in Österreich“. Die Kindergartenmilliarde nennt sie einen Fortschritt. Aber:

Über 35 Jahre wurde so gut wie kein Geld investiert. Es wird ein bissi gestopft, aber nachhaltig wirkungsvoll ist es nicht.
Natascha J. Taslimi, PH Wien

Es entstehe großer Schaden, Chancen werden verpasst. „Jeder Euro, den man in die frühe Bildung investiert, rentiert sich sieben oder zehnfach“, sagt Taslimi. Weil die frühe Bildung die spätere Laufbahn und die Gesellschaft so sehr beeinflusst, bräuchte man hier die „höchste Qualität“. Verbessert sich das System, würde es auch eher alle erreichen.

Was nicht bedeutet, dass schon kleine Kinder „gedrillt“ werden sollten, sagt Taslimi. Es gehe ums spielerische Lernen, das nah am Alltag ist.

Man kann zum Beispiel beim Essen, beim Tischdecken, fragen, wie viele Teller brauchen wir? Und das Kind wird zählen.
Natascha J. Taslimi

Generell könnten sich die Länder einiges voneinander abschauen.
In der Klasse von Madame Barbara ist die Vokabel-Zeit vorbei, jetzt zeigt die Pädagogin den Kindern an dem winzigen Tisch mit einer kleinen Maschine, wie aus Mais Popcorn wird. Sie erklärt, dass Wärme dabei eine Rolle spielt. Krachend kauen die Kleinen. „Ist das salzig oder süß, Colette?“ Die Zweijährige ist sich nicht ganz sicher, zusammen mit Madame Barbara ist die Antwort aber schnell gefunden. „Salzig!“

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Transparenz-Hinweis

Dieses Dossier entstand im Rahmen von "eurotours", einem Projekt des österreichischen Bundeskanzleramts, finanziert aus Bundesmitteln. Teil davon war auch eine Reise nach Brüssel.

Digitale Aufbereitung: Alina Pichler und Claudia Pirchegger

Videos: Adobe Stock (2), KLZ/Anna Stockhammer

Fotos: Adobe Stock (3), KLZ/Anna Stockhammer