BILD DER WOCHE 47

Moses und die Stadt
aus dem Meer

Foto: Adobe Stock/Fabrus

Foto: Adobe Stock/Fabrus

Von Stefan Winkler

Mose hat Venedig vor den Fluten bewahrt. Nicht der Moses der Bibel, das "aus dem Wasser gezogene" Findelkind, das – zum Mann gereift – Israel aus der ägyptischen Knechtschaft befreite und auf Gottes Geheiß das Meer teilte, um sein Volk vor der Rache des Pharao zu erretten. Sondern Mose, das mobile Dammsystem, dessen skandalumwitterter Bau Milliarden verschlang und zum Sinnbild für die Machenschaften einer korrupten Politikerkaste wurde. Als vor ein paar Tagen vom Süden der Schirokko zu wehen begann, stiegen die gewaltigen Sperrwerke vom Meeresgrund auf und riegelten die Lagune vor den anbrandenden Wassermassen ab. Später hieß es, ohne Mose, das eigentlich für "Modulo Sperimentale Elettromeccanico" steht, wäre die Serenissima wohl einer Jahrhundertflut zum Opfer gefallen. Venedig und das Meer, das ist die Geschichte einer wundersamen Verschmelzung von Mensch und Natur, deren Ursprünge sich im Dunkel der Zeiten verlieren. Es ist eine Geschichte, die davon erzählt, wie eine aus dem Wasser geborene Stadt durch das Wasser schön, reich und mächtig wurde wie keine zweite und nun langsam wieder im Wasser versinkt.

Jahr für Jahr feierte Venedigs Oberhaupt, der Doge, zu Christi Himmelfahrt die "Vermählung" seiner Stadt mit dem Meer. Der goldene Ring, den er von seinem Schiff in die Fluten warf, war nicht nur ein Symbol der Erneuerung dieses Paktes, sondern auch eine Geste der Besänftigung und ein Ausdruck des Wissens um die dunkle Seite dieser Beziehung. Denn das Meer trug die venezianischen Handelsschiffe nicht nur an die fernen Küsten der Levante. Das Meer brachte auch Unheil. Es überflutete Gemüsegärten und Weinstöcke, vernichtete Salinen und Fischgründe und verdarb die Süßwasserbrunnen in der Lagune. Früh lernten die Venezianer sich gegen seine zerstörerische Kraft zu schützen. Erst mit Schilfgürteln und Tamariskensträuchern, dann mit Palisaden und gegen Ende der Republik mit kilometerlangen Steindämmen, den "murazzi".

Mose ist der vorläufige Höhepunkt dieser Bemühungen, aber gewiss nicht ihr Ende. Der Klimawandel lässt die Meere steigen und das Wetter immer ärgere Kapriolen schlagen. Immer öfters steht Venedig unter Wasser. Doch Mose zeugt vom ungebrochenen Willen der Menschen, sich nicht geschlagen zu geben. So umstritten sein Bau auch war, geht davon doch eine klare Botschaft aus: Nicht die Propheten des Untergangs sollen in einer immer unwirtlicheren Welt das letzte Wort haben, sondern Pioniergeist, Mut, Kreativität und die Gabe, sich den neuen Lebensbedingungen anzupassen.

BILD DER WOCHE 46

Vor Taylor Swift ist
kein Rekord sicher

Foto: Imago/Zuma Wire

Foto: Imago/Zuma Wire

Von Susanne Rakowitz

Für gewöhnlich wirft Google zwar mehr Antworten aus, aber auch Fragen. Eine davon, die offenbar sehr oft gestellt wird: "Was ist das Besondere an Taylor Swift?" Die rangiert noch vor der Frage: "Wie viele Kinder hat Taylor Swift?" Zumindest letztere Frage ist leicht zu beantworten: keine. Die Antwort auf die erste Frage wird gerne mit Worten wie "Phänomen" eingeleitet, was stark darauf hindeutet, dass man sich maximal annähern kann, aber vermutlich nie des Pudels Kern treffen wird. Wie auch, Taylor Swift ist bekennender Katzen-Fan.

Was man über die 32-jährige, in Nashville wohnende Sängerin mit Sicherheit sagen kann: Wenn es in der Musikbranche einen Rekord zu brechen gilt, dann hat ihn wohl Swift gebrochen. Grammys, MTV-Awards am laufenden Band, unlängst hat sie mit ihrem aktuellsten Album „Midnights“ die ersten zehn Plätze der Billboardcharts belegt. Sie schreibt Musikgeschichte, das hört Swift vermutlich so oft wie: Was magst du heute zum Frühstück?

Was Swift sicher auch oft über sich liest: Taylor Swift – vom blondlockigen Countrygirl zur Popprinzessin. Was hier auch steht: zu perfekt, zu aalglatt, zu freundlich. Man könnte natürlich auch sagen: Taylor Swift ist die perfekte Projektionsfläche für jene, die sie nicht mögen. Doch die, die sie mögen, die machen ihr die Mauer: Die Macht ihrer Fans, auch "Swifties" genannt, hat sich dieser Tage eindrucksvoll gezeigt, als das Onlineticketsystem von Ticketmaster, dem übermächtigen Monopolisten, beim Ansturm auf Konzertkarten für ihre Tour in die Knie ging. Was ihre Fans in ihr sehen, was andere negieren? Eine Künstlerin, die von frühester Jugend an ihre Karriere selbst gesteuert hat und im grellen Scheinwerferlicht nicht nur ihre Selbstermächtigung zelebriert, sondern auch ihre politische Stimme gefunden hat. Die sich gegen sexuelle Belästigung gerichtlich gewehrt hat und die LGBTQI+-Community unterstützt. Was wohl nicht einmal Google beantworten kann: Wo liegt eigentlich das Problem, wenn man im Popbusiness freundlich ist?

BILD DER WOCHE 43

Ein Herz für
den Herbst

Foto: APA/AFP/Sebastien St-Jean

Foto: APA/AFP/Sebastien St-Jean

Von Thomas Golser

L'Étang Baker oder Baker Lake nennt sich dieser kleine, herzerweichend geformte See nahe dem Städtchen Brome Lake im kanadischen Quebec. Auch wenn der digital getrimmte Mensch des 21. Jahrhunderts es augenblicklich vermuten würde: Nein, die atemberaubende Szenerie und die Umrisse des Gewässers entstammen keinem Photoshop. Hier sind 100 Prozent echt: Eine wunderschöne Laune der Natur, die im "Indian Summer", wenn die Verfärbung von Myriaden Blättern in den Wäldern vom Wandel kündet, so richtig herauskommt. Wenn die Liebe auch offenkundig nicht überall in dieser Welt in der Luft liegt, ist sie hier, nicht allzu weit von Montreal entfernt, zumindest im Herbstwald verborgen.

"Der Herbst ist der Frühling des Winters", formulierte es der postimpressionistische französische Maler Henri de Toulouse-Lautrec treffend. Generation Instagram kommt hier mit dem Posten von Fotos gar nicht mehr nach: Licht verbündet sich auf einzigartige Weise mit Farbe – und so manche Drohne hält den Anblick von oben fest. Jetzt, da die Natur auch bei uns noch ihr schönstes Farbenfeuerwerk veranstaltet, bevor dann der Winter kommt, will man laut applaudieren und "Ein Herz für den Herbst!" rufen: Mensch könnte Anblicke wie diesen als Appell sehen: als einen in Rot, Orange und Gelb glühenden Appell, sich ein Herz für die Umwelt zu fassen und ihre Schönheit und Einzigartigkeit zu bewahren. Nicht zuletzt in Österreich, unrühmlicher Europameister im hemmungslosen Versiegeln von Boden.

Mutter Natur: größer als wir alle. Fotos wie diese liefern Beweise. Als ob es die bräuchte!

BILD DER WOCHE 41

Paninis Werk und
FIFAs Beitrag

Foto: Getty Images

Foto: Getty Images

Von Martin Gasser

Es ist nicht schwer dahinterzukommen, warum die Sammelbilder von Fußballern eine solche Faszination auslösen: Es geht immerhin um Fußball, es sind Bilder, die in kleinen Überraschungstüten stecken, man kann sie in ein Heft einkleben und der Sammlung beim Wachsen zuschauen, was den Besitzerstolz leuchten lässt. Dazu noch die Hoffnung auf gute Tauschgeschäfte. Allein der Geruch der Sticker hat sich als Kindheitserinnerung eingebrannt. Es war einmal einfach alles gut an den Panini-Sammelalben. Außer der Preis, der war immer brutal. Später haben auch die Erwachsenen zu sammeln begonnen, aus Nostalgiegründen. Vor 20 Jahren wurde es „Mainstream“. Alles kaufte, klebte und tauschte plötzlich wie wild drauflos, die Möglichkeiten, ein Album einigermaßen günstig zu komplettieren, stiegen beträchtlich. In der Gegenwart, wo Fußball medial tausendfach präsenter ist als früher, hat sich der Wert der Bilder selbst natürlich erheblich vermindert.

Vor 40 Jahren wusste man als fußballnarrisches Kind in Österreich ja tatsächlich nicht, wie Zico, Daniel Passarella oder Jean Tigana ausgesehen haben, bevor man ihr Foto aus der Tüte gezogen hatte. Panini war immer die Ouvertüre zu einem Großereignis, die die Vorfreude auf WM- und EM-Endrunden anfachte. Auch 2022 gibt es die Sticker wieder (das Foto ist aus einem Panini-Werk in Brasilien). Ob man damit die Vorfreude auf ein Turnier steigert, das immer mehr wie eine anachronistische, ja unmenschliche Monstrosität anmutet? Fußballfans haben bereits eine lange Übung darin, sich das schönzureden, was der Weltverband FIFA an Bizarrem so ausheckt. Es wird halt von Turnier zu Turnier schwieriger. Und diesmal schier unmöglich.

BILD DER WOCHE 40

Mädchen, seht, wie
weit es gehen kann

Foto: Imago/Zuma Wire

Foto: Imago/Zuma Wire

Von Thomas Golser

Völlig losgelöst, in ihrer Aufgabe und Rolle jedoch sehr geerdet: Das ist Samantha Cristoforetti, 45 Jahre jung und ihres Zeichens erste europäische Kommandantin der Internationalen Raumstation (ISS), die als bemerkenswert einträchtiger menschlicher Außenposten in 408 Kilometer Bahnhöhe die Erde umkreist. Bevor der Kosmonaut Oleg Artemjew Ende September zur Erde zurückkehrte, hatte er sein Kommando an die Italienerin übergeben. Cristoforetti forscht seit April im Kosmos-Caravan und war die erste europäische Frau, die einen Außenbordeinsatz absolvierte. Derzeit teilt sie sich die ISS mit zwei Russen, einer Russin, vier Amerikanern, zwei Amerikanerinnen und einem Japaner.

Dieses Foto, auf dem die Kommandantin auf den wundervollen, von nicht immer so wundervollen Menschen bewohnten Planeten blickt, strahlt eine friedvolle, beinahe selige Atmosphäre aus. Cristoforetti, die bereits als Kind vom All tagträumte und Mädchen animiert, sich selbst Großes zuzutrauen, dürften Gedanken durch den Kopf schwirren: Der irdische Kriegstreiber Russland stellt auch seine Zukunft auf der ISS infrage. Auf die faszinierende wie beinharte Alltagsarbeit darf und wird das keinen Einfluss haben. Amerikaner, Russen, Europäer und Asiaten arbeiten hier Hand in Hand zusammen – für größere Ziele.

Die zweifache Mutter – sie ist Ex-Kampfpilotin, "Star Trek"-Fan und genoss als erster Mensch auf der ISS italienischen Espresso – wird in absehbarer Zeit zurückkehren: Die zu ebener Erde verschollen gegangene Kunde, wonach menschliches Miteinander doch möglich wäre, dürfte sie aus dem Orbit mitnehmen.

BILD DER WOCHE 39

Ein Abschied, der
für immer sein könnte

Foto: APA/AFP

Foto: APA/AFP

Von Ute Baumhackl

Die Liebe, die eigene und die der anderen, erschüttert uns am meisten, wenn sie kommt oder wenn sie geht. Oder wenn sie, wie auf diesem Bild, auseinandergerissen wird. Ein stählerner Zaun trennt das Paar, das sich durch die Gitterstäbe hindurch zu küssen versucht. Das Foto, entstanden diese Woche in St. Petersburg, zeigt eine Frau und einen Mann, der im Zuge der russischen Teilmobilmachung zum Kriegsdienst in der Ukraine einberufen wurde. Man kann also, ohne zu dramatisieren, sagen, dass er in dem zärtlichen Moment, den er hier mit seiner Partnerin teilt, schon unterwegs ist auf die Schlachtfelder. Man kann, ohne zu dramatisieren, sagen, dieser Satz ist natürlich falsch. Denn über Wladimir Putins Kriegsirrsinn lässt sich nicht sachlich oder unbeteiligt sprechen, man hat dabei die Toten vor Augen und ihre Mörder, man denkt an die Geflüchteten und an die, die in zerstörten Städten zurückgeblieben sind. Man sieht die Bilder der Bombardements auf Flüchtlingszüge und neuerdings auch die Bilder russischer Männer, die Hals über Kopf ihr Land zu verlassen versuchen, weil sie sich von Putin nicht zum Töten und Getötetwerden zwingen lassen wollen. Und man liest von denen, die freiwillig losziehen, um Russland, wie sie glauben, zu „verteidigen“.

Unmöglich zu sagen, zu welcher Gruppe der Mann hinter den Gitterstäben gehört; ob er in Kürze tot sein wird, ob er Helden- oder Untaten begehen wird. Das Einzige, das dieses Bild erzählen kann, ist, dass, auch wenn alle Umstände dagegen sprechen, die Liebenden die glücklichsten Menschen der Welt sind; und sei es auch bloß einen Kuss lang, der ihr letzter sein könnte.

BILD DER WOCHE 38

Über das Fallen
und Ruhen

Foto: Imago/Pellinni

Foto: Imago/Pellinni

Von Bernd Melichar

Ein englisches Wort für den Herbst ist wunderbar in seiner Bildhaftigkeit: Neben „Autumn“, das luftig nach Atmen klingt, gibt es den Ausdruck „the Fall“. Das Fallen. Nicht im Sinne von abruptem Stolpern und Stürzen, sondern im Sinne von gemächlichem Hinabsinken – zu ebener Erde.

Die Temperaturen fallen, die Blätter auch. Dieses Fallen der Blätter ist naturgemäß die Verbal-Ikone für den beginnenden Herbst. Die Landschaft auf diesem Foto ist aber noch vom Übergang geprägt, im Umbruch. Die Natur hat schon die Pastelltöne ausgepackt, es raschelt und knackt unter den Füßen, doch das ganz große Fallen hat noch nicht eingesetzt. Der Hitzkopf Sommer bäumt sich zu einem letzten Seufzen auf.

Doch wenn die Temperaturen weiter sinken, wird das große Blätterrauschen beginnen. Denn diese vifen Zellwesen wissen genau, wann die Zeit reif ist für den Fall. Dann nämlich, wenn der erste Frost droht und somit der letale Blattschuss. Um dem zuvorzukommen, rotten sie sich zum geordneten Rückzug zusammen, entziehen sich selbst das Chlorophyll, also den grünen Blattfarbstoff, führen diesen aber den Ästen und dem Stamm des Baumes zu, damit dieser im nächsten Frühjahr wieder prächtig und mächtig im Saft stehen möge. Dem Grün entzogen, zeigt sich das Herbstblatt in jenem Farbenkleid, das wir so lieben: gelb, gold, rot, braun, fallweise violett.

Und später, wenn auch der Herbst verblasst, ruht draußen vor der Tür die Natur und drinnen in der Stube rastet der Mensch. Er fährt die Ernte ein, befindet sie für gut oder für schlecht, zieht Bilanz und sich dann zurück. Schön klingt das, nicht wahr? So herbstlich elegisch, ist aber immer seltener der Fall im „echten“ Leben. Denn der moderne, durchgetaktete Mensch rastet nicht, er rast. Durch den Tag, durch das Jahr, durch sein Leben. Und dann, atemlos und erschöpft, fällt er. Intelligenz und Weitblick sind wohl nur der Natur vorbehalten.

BILD DER WOCHE 37

Heimkehr aus der
Sommerfrische

Foto: Robert Cescutti

Foto: Robert Cescutti

Von Martin Gasser

Die Badesachen sind verstaut, die kurzen Hosen eingemottet, die Kinder wieder in der Schule, die Blumen verblühen allmählich, die Tage werden so schnell kürzer, dass man buchstäblich dabei zuschauen kann. Herbst. Man holt nicht nur die warmen Sachen hervor, es sind zugleich die Rüsttage fürs Gemüt. Wärme und Licht werden ab nun sparsamer verteilt werden.

Diesmal ist der Herbst mit einer nasskalten Gewalt und Forschheit ins Land gezogen, die uns auch innerlich frösteln ließ. Die Zukunftsaussichten sind, wie üblich, nicht die allerbesten: Nebel, Frost, Dunkelheit. Aber der Herbst hat natürlich seine (von zahllosen) Dichtern besungenen goldenen Seiten. Die Feste, mit denen die Menschen seit Generationen von der warmen Jahreszeit Abschied nehmen, sind ein bedeutender Teil davon. Der Almabtrieb ist eine Konstante im Jahreslauf. Die Tage der Sommerfrische sind gezählt. Rinder und Schafe, oft reich geschmückt, werden derzeit allenthalben ins Tal geführt. Wobei der Schmuck quer durch die Alpen sehr unterschiedlich, oft äußerst kunstvoll, ausfällt. Der Mensch feiert, dass der Aufenthalt in der Natur ohne Probleme abgelaufen ist.

In der Steiermark hat man kürzlich die schönen, manche meinen: majestätischen Lipizzaner hinuntergetrieben. Wobei die beiden Exemplare auf dem Foto aus Maria Lankowitz nicht nur schön, sondern auf eine sehr eigentümliche, faszinierende Art klug aussehen. Stumme Zeugen eines sehr menschlichen Rituals, das um sie herum gebaut worden ist. Dabei handelt es sich bei den Pferden um Junghengste, die auf der Alm gewissermaßen ein Trainingslager absolviert haben und ihre Muskeln und Sehnen stärken konnten, bevor es gestern wieder zurück ins Gestüt Piber gegangen ist. Seit mehr als 100 Jahren gibt es nun diesen Brauch, der wie viele andere Abtriebe zum Volksfest geworden ist.

Bis rund um Pfingsten 2023 sind die Tiere im Tal, dann geht es im ganzen Alpenraum wieder hinauf, zur Sonne, zur (halben) Freiheit.

BILD DER WOCHE 35

Abschied vom Architekten
des Friedens

Foto: APA/AFP/Evgenia Novozhenina

Foto: APA/AFP/Evgenia Novozhenina

Von Thomas Golser

Der Westen und hier nicht zuletzt das bis 1989 in sich entzweite Deutschland brachten und bringen ihm höchsten Respekt entgegen. In Russland war er in seinen letzten Lebensjahrzehnten ein sehr einsamer Mann, größtenteils mit Ignoranz und Verachtung bedacht. Zur Trauerfeier für Michail Gorbatschow in Moskau – kein Staatsbegräbnis! – kamen nun immerhin Tausende.

Der Kontrast zwischen seinem ewigen Vermächtnis und dem Kriegswahn des aktuellen russischen Präsidenten könnte vehementer nicht sein: Gorbatschow war eine Art Anti-Putin. Das friedliche, menschliche Gesicht Russlands, das Europa nun vergeblich sucht. Eine Stimme der Besinnung, die das eigene, zerbröckelnde Volk nicht fassen konnte. Der Abrüster und Friedensnobelpreisträger 1990 kämpfte dafür, den Kalten Krieg auf den Schutt der Geschichte zu stellen.

Gorbatschow wurde Wegbereiter der deutschen Einheit. Und auf der anderen Seite wollte er die moribunde Sowjetunion reformieren, mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit voranbringen. Er strauchelte an so mancher Fehleinschätzung, aber bei aller Ehre. Am Ende blieb er singulär in der Geschichte – ein mittig Gescheiterter, der der Welt doch so viel gab. Der russische Überfall auf eine souveräne Ukraine legte seine große „Vision vom gemeinsamen und friedlichen Haus Europa“ in Trümmer, wie der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier es in seiner Kondolenz formulierte.

„Wir sind eine Menschheit – auf einer Erde, unter einer Sonne“: Ob Putin, der seinen Krieg ins Europa des 21. Jahrhunderts schleifte, das Gorbatschow-Zitat überhaupt erfassen kann?

BILD DER WOCHE 34

Lady Diana,
Säulenheilige mit Bruchlinie

Foto: Imago/Hulton Royals Collection

Foto: Imago/Hulton Royals Collection

Von Thomas Golser

Wo setzte die szenische Überhöhung ein? Ab wann musste der Mensch hinter der Figur endgültig aus dem Fokus treten? Bald jährt sich der Todestag von Diana Spencer, nach ihrer Heirat in die britische Königsfamilie nur noch Kronprinzessin Diana, zum 25. Mal. Was aber blieb vom Menschen?

Offenkundig ist, dass die britische Monarchie, irgendwo zwischen versteinert (für die meisten) und verzaubernd (für auch nicht wenige), nach ihr nicht einmal annähernd eine Figur mit derart magischer Ausstrahlung aufbieten konnte. Diana wurde beinahe zur Säulenheiligen, spätestens nach ihrem frühen Unfalltod 1997. Der Preis, den sie dafür selbst bezahlen musste, hätte nicht höher sein können. Das Verhältnis zu Prinz Charles, das Ende der 1970er-Jahre begann und in die Hochzeit 1981 – Diana war bei der Trauung gerade 20 – mündete, war von Beginn an ein Trugschluss: Diana-Biografin Tina Brown etwa nannte es „eine Ironie, dass der Königshof, je mehr Prinz Charles sich in Camilla (seine Jugendliebe und spätere, zweite Frau, Anmerkung) verliebte, umso dringlicher eine Frau präsentieren musste, die Camilla ersetzen konnte.“

Das Bild entstand im Rahmen der Flitterwochen Ende Juli 1981 auf der royalen Jacht „Britannia“, als man Gibraltar verließ. Die Prinzessin hatte soeben das Leben, so wie sie es kannte, verlassen. Die verbliebenen 16 Lebensjahre sollten von endlosen Vollbädern in der Öffentlichkeit – viele unfreiwillig – geprägt sein. Da war der Kampf für ein globales Verbot von Landminen, da war die Solidarität mit Aidskranken: Hier war für die Welt ein Mensch erkennbar. Die einst vermeintlich naiv Wirkende gewann nicht erst durch den Ausbruch aus den royalen Fesseln an Statur.

Ein letzte Illusionen zertrümmerndes BBC-Enthüllungsinterview („Wir waren zu dritt in dieser Ehe!“) und die Scheidung setzten dem Image des Königshauses, nicht dem von Diana zu. Glanz, Leid, Wut, Mitgefühl – und Emanzipation: Ein Leben, das nicht zufällig bannte.

BILD DER WOCHE 33

Valerie und ihr
rotes Kleid

Foto: KK/PRIVAT

Foto: KK/PRIVAT

Von Maria Schaunitzer

Ein rotes, wallendes Kleid aus leichtem Chiffon sollte es sein. Ausgesucht gemeinsam mit den Freundinnen. Ein Kleid, um am Maturaball den ersten großen Meilenstein im Leben zu feiern. Gekauft am 22. Februar dieses Jahres. Doch dann kam der Krieg und mit ihm die Bomben. Fünf Tage danach wurde die Schule von Raketen zerstört– und mit ihr alle Träume von Valerie. Vier Generationen ihrer Familie – bis hin zur Urgroßmutter – haben in dieser Schule maturiert, die sogar den Zweiten Weltkrieg überstanden hat, nur die russischen Angriffe nicht. Wenige Tage danach posierte Valerie im roten Kleid vor den Trümmern ihrer Träume und tanzte mit ihren Eltern jenen Tanz, den sie schon Monate, wenn nicht Jahre herbeigesehnt hatte. Ihre Tante erzählte der Welt auf Social Media Valeries Geschichte und der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer den Premierengästen bei den Festspielen: „Valerie hat in diesem Krieg nicht ihr Leben, aber ein Stück ihres Lebens, ihre Hoffnungen und Erwartungen verloren und musste sie gegen elementare Nöte eintauschen.

Ihr rotes Kleid ist ihre Antwort und auch eine Aufforderung. Sie will sich ihre Lebensfreude, ihre Sehnsüchte nicht nehmen lassen und sie appelliert – vielleicht unbewusst – mit ihrem Foto an uns, trotz des großen Elends, der Zerstörung und des Sterbens, trotz dieses verbrecherischen Krieges nicht aufzugeben.“ Ein Appell, der gehört wurde. Eine Frau im Publikum machte Valerie ausfindig und lud die junge Ukrainerin ein, ihr Kleid bei Verdis „Aida“ in Salzburg zu tragen. Ein Abend voller Leichtigkeit und Lebensfreude, wir es der Ball hätte sein sollen. Ein Abend, um der irdischen Schwere zu entschweben, wenn auch nur kurz. Wie es der Jugend eigentlich gebührt.

Valerie ist danach zurück nach Charkiw und in den Krieg gefahren. In der Nacht auf den 18. August starben dort 21 Menschen bei schweren russischen Angriffen.

BILD DER WOCHE 32

Arm in Arm
in den Himmel

Foto: Imago/Cinema Publishers Collecti

Foto: Imago/Cinema Publishers Collecti

Von Bernd Melichar

Dieses strahlende Lächeln, die wilde Lockenmähne; neben ihr der coole Typ mit viel Schmiere im Haar, „Grease“ also. Der gleichnamige Film aus dem Jahr 1978 hat Olivia Newton-John berühmt gemacht. John Travolta, der Lederjacken-Feschak neben ihr, hat sich bereits im Jahr zuvor mit „Saturday Night Fever“ in den Disco-Olymp getanzt. Das strahlende Lächeln ist Anfang dieser Woche erloschen, die Sängerin und Schauspielerin im Alter von 73 Jahren ihrem langen Krebsleiden erlegen.

Danny und Sandy heißt das ikonische „Grease“-Pärchen, der Film eine harmlos-schmalzige Highschool-Musical-Romanze, die im Jahr 1959 angesiedelt ist. Das ist interessant. Eskapismus schon damals? Eine nostalgische Rückwärtsrolle, um dem drängenden Vorwärts zu entkommen? Ende der 70er-Jahre stand die Disco-Bewegung in explosiver Hochblüte, der Sound war lasziv, ekstatisch, stampfend, fiebrig, fluid; die US-Klubs galten als Tempel von Lust und Laster: verschwitzt, versifft, versext. Die Glitzerkugel drehte sich, das Geschlechterkarussell mit ihr, wenige Jahre später sollte man erstmals von einer Krankheit namens Aids hören. Zeitgleich haben in England die Punks gewütet, die Sex Pistols zur Anarchie aufgerufen, Konventionen wurden zertrümmert, Autoritäten gestürzt, Perspektiven beerdigt: No Future! Keine Zukunft! Aber eine Vergangenheit. Und in die konnte man flüchten, sich dort ausruhen, verstecken vor den Schroffheiten und Zumutungen des Hier und Jetzt. Die 50er-Jahre als gemütlicher Gegenentwurf, weil das Früher bekanntlich immer besser war, immer rosaroter Sehnsuchtsort. Mädchenhafte Petticoats statt vampige High Heels. Kuscheln im Autokino statt Kotzen am Klo. Verlässliche Frau-Mann-Hierarchien statt schrankenloser Hedonismus. Aber selbst auf die plüschigen 50er-Jahre ist kein Verlass: Im Film „Grease“ verwandelt sich Sandy vom lieben Schulmädchen zum verruchten „Feger“ in schwarzem Leder und hochhackigen Schuhen. Ganz am Ende ist natürlich alles gut, und Danny und Sandy fliegen mit einem Roadster in den Himmel.

Olivia Newton-John ist tot, ihr „Grease“-Lächeln lebt weiter. Vielleicht ist das der legitime Zweck von Vergangenheitsverklärung: Trost.

BILD DER WOCHE 31

Da ist ein Loch
in der Scholle

Foto: APA/AFP/Johan Godoy

Foto: APA/AFP/Johan Godoy

Von Martin Gasser

Atacama – schon der Name klingt nach Abenteuer. Die gigantische Wüstenlandschaft an der südamerikanischen Westküste verfügt über einige Winkel von unwirklicher Schönheit. Unwirklich scheint auch dieses Loch. Der Schlund war plötzlich da. 25 Meter im Durchmesser, 200 Meter tief gähnt es im Süden der Atacama-Region. Nachdem die Existenz von 40-Meter-Maulwürfen hoffentlich angezweifelt werden darf und auch sonst natürliche Ursachen eher auszuschließen sind, gibt es den Experten enorme Rätsel auf. Freilich: Dass sich in Nachbarschaft eine Kupfermine befindet und einige hundert Meter unter dem Loch Stollen durchs Gestein führen, lässt die Lösung des Rätsels näher erscheinen. Bergbau gibt es in dieser Weltgegend ja allenthalben. Bodenschätze machen einen Gutteil der Wirtschaft aus und viele internationale Betriebe haben sich angesiedelt. Im konkreten Fall ist es ein kanadisch-schwedischer Konzern, der die Mine ausbeutet. Hoffentlich nicht zum Nachteil der Bewohner – die nächste Siedlung liegt 600 Meter vom Loch entfernt, die Unruhe ist verständlich riesig. Das Loch regt die Fantasie an und erinnert an eine kolossale Vorstellung, die man als Kind mit sich herumtrug: Wie wäre es, wenn man sich senkrecht durch die Welt graben könnte, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen? Im chilenischen Fall würde man in China landen. In Österreich sollte man davon lieber lassen, man kommt nämlich nicht in Australien heraus, wie immer behauptet wurde, sondern es würde etwa 1500 Kilometer östlich der Südinsel Neuseelands wohl recht feucht und langweilig werden.

BILD DER WOCHE 30

Die Frau des Präsidenten
und der Krieg

Foto: Vogue

Foto: Vogue

Von Maria Schaunitzer

Olena Selenska sitzt mit ernster Miene auf den Stufen des Kiewer Präsidentenpalastes. Dezent geschminkt, flache Schuhe, modisch gekleidet. Sie trägt keinen Schmuck. Eine ästhetische Komposition, ein schönes Bild. Nur die Sandsäcke im Hintergrund erinnern daran, dass das Foto mitten im Krieg in der Ukraine entstand. Dort, wo seit den ersten Kriegstagen ihr Mann, Präsident Wolodymyr Selenskyj, sein Land gegen Russland so unermüdlich verteidigt. Das Foto ziert die Titelseite des Modemagazins Vogue. Eine Ästhetisierung des Krieges, die US-Starfotografin Annie Leibovitz, die auch durch ihre Reportagebilder in den Trümmern der bosnischen Hauptstadt Sarajevo bekannt wurde, hier geschaffen hat? Diese Inszenierung irritiert. Obwohl unschuldige Kinder in diesem Krieg im Kugelhagel sterben, lässt sich die Präsidentengattin in Hochglanz ablichten.

Seit der russischen Invasion steht auch sie im Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit. Dabei zog sie es eigentlich vor, hinter den Kulissen zu sein. Während ihr Mann als Comedian im Rampenlicht stand, schrieb sie im Hintergrund das Drehbuch für seine Sendung. Der Krieg machte die First Lady jedoch zur „Diplomatin an vorderster Front“, heißt es im Text des Modemagazins. Und das weiß sie auch zu nutzen. Vergangene Woche traf sie in den USA Präsident Joe Biden und Außenminister Antony Blinken. Sie tröstet Witwen und Mütter, die um ihre Kinder weinen. Stets tritt sie modisch und medienwirksam auf. Die Aufmerksamkeit der Kamera ist der attraktiven 44-Jährigen sicher. Doch Glamour im Krieg – das ist auch eine verstörende Mischung.

Aber genau diese Dissonanz ist absurde Wirklichkeit in der Ukraine. Es ist ein Leben zwischen Sandsäcken, Fliegeralarm und einem Stückchen Normalität. Man könne in Kiew in einem Café Matcha trinken, während eine Stunde weiter in Butscha Massengräber ausgehoben würden, beschreibt auch die Vogue-Autorin Rachel Donadio im Artikel zur Bilderstrecke diesen Spagat, den man in der Ukraine derzeit das Leben nennt.

BILD DER WOCHE 29

Ein paar Tropfen
für den armen Tropf

Foto: JOHN SIBLEY/REUTERS/picturedesk.com

Foto: JOHN SIBLEY/REUTERS/picturedesk.com

Von Bernd Melichar

Dieser arme Tropf der Queen’s Guard steht stoisch vor dem Buckingham Palace um – ja, wen eigentlich zu bewachen? Königin Elizabeth II. weilt derzeit sicher nicht im brütend heißen London, sondern vermutlich auf ihrem feudalen Schloss Balmoral in Schottland, wo es wohl reichlich angenehm kühle Räume gibt, in denen man der Affenhitze gut entkommen kann. Übrigens, der Begriff kam angeblich Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin auf. Damals herrschten im dortigen Affenhaus im Zoologischen Garten Rekordtemperaturen. Man sprach deshalb von einer „Hitze wie im Affenstall“.

Noch ein tierischer Begriff muss für schweißtreibende Temperaturen herhalten, die freilich zunehmend von Menschen verschuldet werden, aber das ist eine andere Geschichte. Als „Hundstage“ werden die heißen Tage im Sommer, genauer in der Zeit vom 23. Juli bis zum 23. August, bezeichnet. Die Formulierung stand ursprünglich in Verbindung mit dem Aufgang des Sirius, der auch „Hundsstern“ genannt wird.

Aber zurück zum armen Tropf, der sich freilich nicht rühren darf, um seinem Körper wenigstens einige Tropfen Wasser zuzuführen. Dass sich ein Mann vom Sicherheitsdienst seiner erbarmt und ihm eine Trinkflasche an die Lippen hält, ist eine rührende menschliche Geste. Wenn sogar Großbritannien – das Land des Regens, der freilich nur flüssiger Sonnenschein ist – von einer Hitzewelle überrollt wird, dann ist tatsächlich Feuer am Dach.

Apropos Dach: Die fast einen halben Meter hohen Bärenfellmützen, wie sie auch unser Soldat auf dem Kopf trägt, führen – neben affigen, hundsgemeinen Dienstvorschriften in Kombination mit großer Hitze – immer wieder dazu, dass die Wachen der Königin ohnmächtig aus den Latschen kippen. Hergestellt wird die berühmte Kopfbedeckung noch immer aus den Fellen von kanadischen Schwarzbären, wogegen Tierschützer seit Jahren erfolglos Sturm laufen. All das beweist einmal mehr: Das größte Rindvieh ist und bleibt der Mensch.

BILD DER WOCHE 28

Der tiefe Blick ins All
ist auch einer auf uns

Foto: AFP PHOTO/NASA

Foto: AFP PHOTO/NASA

Von Thomas Golser

Der sehr endliche Mensch: Er darf mitunter durch einen Spalt kurz auf die Unendlichkeit blicken – in diesem Fall auf die atemberaubenden Aufnahmen des „James Webb“-Weltraum-Teleskops. Der „Carina-Nebel“ im obigen Bild ist einer der größten und hellsten Gasnebel am Himmel – und findet sich in einer Entfernung von ungefähr 7600 Lichtjahren im südlichen Sternbild „Carina“. In ihm entstehen neue Sterne. Das Super-Teleskop erspäht auch Galaxien, deren Abbilder uns aus Milliarden Jahren zeitlicher Entfernung erreichen. Aus einer Phase, in der der Urknall – in astronomischen Dimensionen gesehen – noch ziemlich zeitnah war. Ein wissenschaftliches, nach mannigfachen Rückschlägen geglücktes Meisterstück von NASA, ESA und CSA.

Was fangen wir Erdlinge damit an? Ehrfürchtig darf man die elementaren Zusammenhänge des Kosmos erahnen – wohl wissend, dass Mensch zu einem sehr großen Teil das Universum noch nicht einmal annähernd versteht. Das, wovon wir ein winziger, unbedeutender Teil sind, ist in seiner ewigen Ordnung unverrückbar, makellos. Können wir all das (er)fassen? Wir? Sind Passagiere auf unserem geschundenen Heimatplaneten, der blauen Murmel in dem mit Wundern gefüllten Vakuum des Alls: Umgeben von einem Mahlstrom menschgemachter Probleme – und all den materiellen Dingen, die uns vermeintlich die Leere nehmen und doch nur unseren Blick auf das Wesentliche verstellen.

Ehrfurcht ist die Schwester der Demut. Staunen ist auch Bewusstsein, dass es Größeres als den Menschen gibt, der zumeist in einem engen Orbit um sich selbst kreist. Staunen wir also.

BILD DER WOCHE 27

In den Augen
von Larry

Foto: Getty Images

Foto: Getty Images

Von Martin Gasser

Da sitzt er, unberührt von den Weltläuften. Larry, die Katze von Downing Street No. 10. 2011 trat er sein Amt im Sitz des britischen Premierministers an. Der hieß damals David Cameron. Der ging und Theresa May kam. Die ging und Boris Johnson kam. Der geht jetzt auch. Larry bleibt. Der Kater ist offizieller Mäusejäger des Kabinetts, in einem Land voller Traditionen und sprichwörtlichem Humor ist das eigentlich keine Überraschung. Larry, dessen Fell jüngst so zerzaust wirkte, als hätte er sich Johnson äußerlich anpassen wollen, ist der Trubel um seinen Mitbewohner vermutlich egal. Es gibt ja auch wenig zum Aufregen: Wie soll die Gattin eines österreichischen Politikers die Politik einmal treffend zusammengefasst haben? „Einmal der Gigl, einmal der Gogl.“ Einfacher kann man eine funktionierende Demokratie nicht auf den Punkt bringen.

Aber als Johnsons Kanzlerschaft längst in Agonie lag, hat Larry via Twitter auch draufgetreten: „Entweder er geht, oder ich!“ ließ er via soziales Netzwerk verlautbaren. Doch halt: Das waren Fake News, denn dieser Account wird von höchst inoffiziellen Spaßvögeln betrieben, der Mäusejäger würde sich nie zu solchen Kommentaren hinreißen lassen. Wegen Gigl und Gogl? Ich bitte Sie!

Vielleicht amüsiert Larry das Spektakel rund um sein Anwesen auch. Man kann das ja nicht wissen. Wie mutmaßte doch der französische Philosoph Michel de Montaigne: „Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie sich nicht noch mehr mit mir die Zeit vertreibt als ich mir mit ihr?“ Vielleicht sind wir in Larrys Augen lächerliche Clowns, eh lieb, aber nicht ernst zu nehmen

BILD DER WOCHE 26

Musterland der
Verkrampfung

Foto: AP/Susan Walsh

Foto: AP/Susan Walsh

Von Martin Gasser

Jüngst beim G7-Treffen: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder empfängt Joe Biden, und man paradiert an einer zünftig gekleideten Ehrenformation vorbei. Der US-Präsident lächelt den exotisch gekleideten Menschen zu, er grinst beinahe. Tags darauf titelte die nie um einen guten Gag verlegene Berliner Zeitung „taz“: „Endlich indigene Völker beim G7-Gipfel.“ Ja, vielleicht war der US-Präsident ein wenig überrascht über „Leatherhose“ und „Hutfeather“. Vielleicht weiß er nichts über die klandestinen Bräuche dieses seltsamen Bergvolks: von „Shoeplatteln“ und „Octoberfeast“, von „Gämsbeard“ und „Hook-pulling“. Übers „Windowerln“ dürften die wenigsten der Trachtenträger selbst noch Bescheid wissen.

Das eigentlich Bizarre passierte aber danach. Die Deutschen haben als Kollektiv ja einen enormen Minderwertigkeitskomplex, den man schon ein paar Mal mit Weltvernichtungsfantasien bekämpfte. Wobei es fast nicht bei der Fantasie blieb. Den Minderwertigkeitskomplex gibt es offenbar noch immer. Und die Lust an der Korrektheit. So wird nun in aller Ernsthaftigkeit darüber diskutiert, ob Söder im Trachtenjanker ein falsches Bild von Deutschland abgebe. Ob man so nicht einen provinziellen Eindruck hinterlasse. Witzig, auch weil im so aufgeklärten Deutschland Folklore anderer Länder stets bewundert wird. Also: Macht euch locker, liebe Freunde im Norden. Der Traditionen muss man sich nicht schämen (solange man sich regelmäßig die Frage stellt, wohin Traditionen bisweilen geführt haben). Wir mögen euch! Ob mit Tracht oder ohne! Aber zermartert euch bitte nicht wegen jedem Schmarren das Hirn. Auch wenn euch diese spießige Selbstzerfleischung in die Wiege gelegt worden ist. Wie schrieb doch Heinrich Heine zielsicher: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“

BILD DER WOCHE 25

Der Geruch des
braunen Goldes

Foto: Koren Köflach

Foto: Koren Köflach

Von Stefan Winkler

Wer einmal den schwefeligen Geruch des Hausbrands in der Nase hatte, der wird ihn nie vergessen. Ab dem Spätherbst legte er sich über das weststeirische Bergbaurevier, setzte sich in der zum Trocknen aufgehängten Wäsche und in den Köpfen fest. Noch jetzt, Jahrzehnte später, lässt er sich daraus ebenso wenig verbannen wie die Bilder von den riesigen Braunkohlehalden, dröhnenden Förderbändern, vor sich hinrostenden Grubenhunten und in die Landschaft geschlagenen Wunden, den gähnenden Tagbaulöchern, halbabgetragenen Bergen und mit Grundwasser gefüllten Kratern.
In der Gaskrise wollen viele Länder in Europa wieder auf Kohle setzen. Aber wie war es eigentlich, als das „braune Gold“ bei uns noch unter schwersten Bedingungen abgebaut wurde, den Menschen Arbeit und Einkommen gab und ihr Leben bis in die feinsten Kapillaren bestimmte? In unzähligen Momentaufnahmen haben mehrere Generationen von Köflacher Fotografenmeistern aus der Familie Koren diesen Alltag dokumentiert. Ihrem einzigartigen Archiv entstammt auch das heutige historische Albumbild, das – wohl in den Achtzigerjahren geschossen – den Blick von Rosental über den Karlschacht auf Köflach und Maria Lankowitz zeigt. Stammt es von Harald Koren (1935-2017) oder seinem Bruder Agathon (1943-2015)?

Die Fotografie lässt Erinnerungen wach werden an eine Zeit, als sich mit dunkelbrauner Fracht beladene Lastwagen durch die Orte quälten, den kurvenreichen Weg über die Pack vor sich. An Streiks, Ledersprünge und die bei Begräbnissen den verstorbenen Kumpeln zum letzten Gruß aufspielenden Bergkapellen in ihrer schwarzen Standestracht, das gekreuzte Zeichen aus Schlägel und Eisen stolz an den Federhüten prangend. An den Ruß auf dem frischen Schnee und asthmakranke Kinder. An Arbeiterpriester, die in die Grube fuhren, und atheistische Bergmänner, die die heilige Barbara ehrten. Die Kohle selbst war brüchig und wies oft noch die Maserung von Holz auf.

Als stummer Zeuge einer vergangenen Epoche überragte der gewaltige Schlot des Voitsberger Kraftwerks den Bezirk. Und als vor ein paar Jahren das Kesselhaus gesprengt wurde, dachten viele, dass die Ära der Kohle unwiederbringlich zu Ende gegangen sei.

BILD DER WOCHE 24

Der irdischen Schwere
kurz entschweben

Foto: Getty/Anadolu Agency/Behcet Alkan

Foto: Getty/Anadolu Agency/Behcet Alkan

Von Thomas Golser

Über der Welt schweben, losgelöst von der bleiernen Schwere allzu irdischer Belange: ein alter, haltbarer und im Rahmen des physikalisch Möglichen umgesetzter Traum der Menschheit.

Besonders schön und still gelingt die Illusion auf Zeit mit Heißluftballonen: Diese eindrucksvolle Aufnahme, in der sich Ballon an Ballon reiht, entstand in der historischen und weltberühmten Region Kappadokien in der Provinz Nevehir in der Türkei. Hier können sich Touristen Naturschönheiten vom Himmel aus anschauen – im Zentrum für Heißluftfahrten weltweit ist das an bis zu 250 Tagen im Jahr möglich.

Ballone waren die ersten Fahrzeuge, mit denen der Mensch flog: 1783 hob über Versailles erstmals – nach einer (erfolgreichen) Fahrt eines Schafes, eines Hahns und einer Ente in der Testgondel – ein bemannter Ballon ab: die „Montgolfière“, benannt nach den erfinderischen und patenten Brüdern Michel Joseph und Étienne Jacques de Montgolfier. An Bord waren der Physiker Jean-François Pilâtre de Rozier und der Marquis François d’Arlandes. Seitdem zog es Homo sapiens bekanntlich bis in das Weltall, der Erdgebundenheit auf Zeit trotzend und fasziniert in das Vertikale strebend.

Und ja, auch philosophisch betrachtet täte der Menschheit der große, bedachte Überblick von oben mehr als gut: Das unter uns ist alles, was sie zum Überleben hat. Je weiter der Blick ist, je stärker die eigene Anmaßung in den Hintergrund tritt, desto einverträglicher könnte das Dasein sein. Könnte. Aufschlüsse auf den Ist-Zustand gibt derzeit der Blick auf die von Russland verwüstete Ukraine: Krieg fliegt Mensch nicht davon.

BILD DER WOCHE 23

Steinalt, aber sie rocken
und rollen noch

Foto: AP/Manu Fernandez

Foto: AP/Manu Fernandez

Von Martin Gasser

Gehen zwei 78-Jährige und ein 75-Jähriger auf die Bühne. Keine Sorge, es folgt kein Witz. Denn alle Witzeleien über die Rock-Opas sind längst gemacht. Mick Jagger, Keith Richards und Ron Wood sind Rock-’n’-Roll-Überlebende, die gerade auf ihre Jubiläumstour gegangen sind. „Sixty“ nennen sie die Tournee, weil es 60 Jahre her ist, dass sich ein paar Jugendliche, die von amerikanischer Bluesmusik begeistert waren, zu einer Band zusammengetan haben. Seither schrieb man Musikgeschichte, sorgte für Skandale und große Kunst, wurde zu Ikonen. Weggefährten wie Brian Jones († 1969) und Charlie Watts († 2021) verlor man an den Tod, andere wie Mick Taylor und Bill Wyman verließen nicht die Bühne des Lebens, sondern nur den Kampfplatz Rolling Stones.

Zwei Monate sind sie unterwegs, am 15. Juli finden sie den Weg ins Happel-Stadion. Dass sie irgendwann in Pension gehen werden, mag man kaum glauben, die Konzerte eröffnen die Stones aktuell mit „Street Fighting Man“. Vielleicht ein Beweis, dass ihnen die britische Ironie niemals abhandenkam: Endsiebziger, die noch immer die Hymne des unbehausten Kämpfers, der auf der Straße gegen die Verhältnisse revoltiert, singen und den Zeitgeist der Sechziger auf Stadiongröße aufblähen. Nie wurde die Kommerzialisierung jugendlichen Aufruhrs grotesker vor Augen geführt. Wobei die Revolte der Stones auf anderer Ebene irgendwie doch weitergeht: Wer will schon in Würde altern, wenn er noch rocken kann? „Live fast, die old“ scheint das Motto dieses Trios zu sein, das demonstriert, dass Musik alles Mögliche ist, nur keine Altersfrage.

BILD DER WOCHE 22

Die plötzliche Leichtigkeit
des Seins

Foto: Getty Images

Foto: Getty Images

Von Thomas Götz

Chestnut Tiger heißt er. Gemeinsam mit Tausenden seiner Artgenossen schlüpft er im Mai aus seiner unansehnlichen Puppe und taumelt ein kurzes Leben lang wie trunken durch die Frühlingsluft Japans. Selten sind sie bei uns geworden, die Schmetterlinge. Die wenigen Exemplare, die dem Wüten der Gifte und Maschinen entkommen sind, lösen Gefühle des Glücks aus, der Leichtigkeit, des Schwebens. Ihre Kurzlebigkeit und zarte Verletzlichkeit lösen unsere Verhärtungen. Einmal im heißen Theater an der Wien: Plötzlich war da ein Zitronenfalter, mitten im Saal querte er unbekümmert die Kegel der Scheinwerfer, nahm Kurs auf mich und setzte sich auf meine Stirn. Eine Auszeichnung. Unter den vielen möglichen Rastplätzen als ungefährlich ausgemacht zu werden, empfindet man als Vertreter der riesenwüchsigen Homines sapientes als unverdienten Vertrauensvorschuss. Heute ist Pfingsten. Das Fest erinnert an eine unverhoffte Erfahrung der Entgrenzung.

"Und sichtbar wurden ihnen – sich verteilend – Zungen wie von Feuer. Und die setzten sich auf jeden von ihnen … Und ihre Zungen begannen anders zu reden – wie der Geist es ihnen kund gab", erzählt die Apostelgeschichte. Die Sprachgrenze war plötzlich irrelevant, als hätten "Parther und Meder und Elamiter und die Bewohner von Mesopotamien, Judäa und auch Kappadozien, Pontus und Asia, von Phrygien und auch Pamphylien, Ägypten und den Gebieten Libyens gegen Zyrene hin und die zugewanderten Römer, Juden und auch Proselyten, Kreter und Araber" plötzlich Sprachkenntnisse erworben, die sie nie gehabt hatten. Aber vermutlich ging es gar nicht ums Reden. Was die bunte Menschenschar einte, war das Gefühl wortloser Einigkeit, des Einverständnisses und der Aufhebung gewohnter Schranken. Schmetterlinge im Bauch.

„Tour de France“ heißt ein knappes Gedicht von Günter Grass, das die Kraft dieser schwachen Wesen ohne religiöse Metaphern formuliert:

"Als die Spitzengruppe / von einem Zitronenfalter / überholt wurde, / gaben viele Radfahrer / das Rennen auf."

Ende der Konkurrenz, des Streits um Positionen, Vorteile, Ränge. Pfingsten.