BILD DER WOCHE 52 | 2023

Wimmelbild der Schwerarbeit

Foto: APA/Georg Hochmuth

Foto: APA/Georg Hochmuth

Von Martin Gasser

Am Anfang steht gar nicht die Musik des Walzerkönigs Johann Strauss, sondern ein strammer Marsch von Karl Komzák. Der Leiter der Militärkapelle des k. u. k. Infanterieregiments Nr. 84 ist weitgehend vergessen, sein "Erzherzog-Albrecht-Marsch" blieb ein Lieblingsstück der Blaskapellen und darf 2023 das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker eröffnen. Es gilt als das schönste Konzert der Welt.

Von sicherer Distanz aus betrachtet stimmt das auch. Man erspart sich das Gedränge der aus vielen Gründen aufgeregten Publikumsmasse durch die Gänge des Musikvereins und auch der Selfie-Wahnsinn wird von Jahr zu Jahr, nun ja, wahnsinniger. Dennoch: Ein schwacher Trost für alle, die noch nie dabei sein konnten. Denn live ist das Konzert in Wahrheit nicht weniger schön, sondern noch viel, viel schöner. Der Wohlklang, mit dem die Philharmoniker den Goldenen Saal fluten (egal unter welchem Dirigenten) umhüllt die Seele wie Balsam, der fröhliche Schwung der Musik lässt kurz alles Ungemach vergessen. Das ist alles so kitschig, wie es wahr ist.

Der Eskapismus kostet: Für alle, die sich den Luxus der sündteuren Karten nicht leisten können, ein Tipp: Es gibt auch ein Silvesterkonzert und ein Vorkonzert, wo die Karten auch nicht billig, aber um ein Eck günstiger sind als für den Neujahrsvormittag. Und die Philharmoniker, die heuer wieder Schlager der Strauss-Familie spielen, aber auch Raritäten aus dem Archiv holen, sind auch schon vor dem 1. 1. mit Eifer, Können und Feingefühl bei der Sache.

Dirigent Christian Thielemann versprach, dieses Mal das Letzte aus dem Eliteorchester herauskitzeln zu wollen. Obiges Probenbild verrät jedenfalls einiges über die schwere Arbeit, die das Leichte macht. Ein bunter Haufen, über die halbe Welt verstreut aufgewachsen, macht Musik, die die Herzen ihrer Millionen Hörerinnen und Hörer leichter machen möchte.

BILD DER WOCHE 51 | 2023

Schwester, wie feiert man in einem Kloster?

Foto: Patrick Staar

Foto: Patrick Staar

Von Ernst Sittinger

Eine Handvoll Klosterschwestern hält die Stellung im Franziskanerkloster Reutberg in Bayern. Die geistliche Gemeinschaft trotzt dem steten Gegenwind der Zeit. Hier lebt meine Schwester Solveig, die jetzt Maria Pia heißt und "mehr mit Gott als mit den Menschen sprechen" will, wie sie uns einst beschied. Wie feiert sie Weihnachten in der stillen, fremden Welt? Hat sie Wünsche?

"Man wünscht sich was, wenn man gefragt wird", erzählt sie. Üblich sei das nur am Namenstag. Die Schwestern machen einander keine materiellen Geschenke. Das findet Maria Pia "schön". Auch früher fiel sie nie durch Begehrlichkeit auf. Zu den Festtagen stellt die Oberin besonders schmackhafte Speisen auf den Tisch. Die Christmette ist schon für 20 Uhr angesetzt, man ist an frühes Zubettgehen gewöhnt. Bis Mitternacht würden die Schwester wohl nicht durchhalten. Im Advent ist es im Kloster noch stiller als sonst. Die Schwestern schreiben bis zum 25. Dezember keine privaten Briefe, aber via Mail kann ich "meine" Schwester erreichen. In abendlichen Gesprächs- und Singrunden tragen sie weihnachtliche Texte vor, das Psalmengebet handelt jetzt vom Kommen des Königs und Retters. Dazwischen Spurenelemente der Außenwelt: "Wir haben einen Schokoadventkalender geschenkt bekommen und wechselten uns ab beim Öffnen der Türchen."

Für das riesige Kloster werden drei Christbäume aus dem eigenen Wald angeliefert. Jede Nachwuchsschwester darf einen Baum dekorieren.

Das Weihnachtsfest begeht man äußerlich eher karg, der Schwerpunkt liegt auf dem inneren Erleben. Man feierte früher nur in der Liturgie (gemeinsames Psalmengebet, Festmessen) und mit festlicher Gestaltung der Mahlzeiten. Als Extras gab es Tischtücher und klassische Musik. Für Silvester wünscht sich Maria Pia eine eucharistische Anbetung. Das bedeutet: in der Kirche knien und schweigend Jesus in der weißen Hostie betrachten.

Für sie "die beste Art, das neue Jahr zu beginnen". Sagt sie. Und ist wieder aus "unserem" Universum entschwunden.

BILD DER WOCHE 50 | 2023

Ein Licht für den Frieden

Foto: Getty Images

Foto: Getty Images

Von Susanne Rakowitz

Ach, Kerzenschein! Der ist in unserer perfekt ausgeleuchteten Welt längst zum Symbol romantischer Zweisamkeit geworden. Das bewusste Abschalten, die Reduktion auf das Wesentliche. Es ist paradox, aber dieses Zelebrieren der Einfachheit kann sich nur leisten, wer über den Luxus verfügt, jederzeit den Lichtschalter betätigen zu können. Die beständige Verfügbarkeit von elektrischem Licht hat es zum Alltagsinterieur werden lassen. Längst gibt es Begriffe wie Lichtverschmutzung, die den überbordenden Konsum von Licht kritisieren.

Schwer vorstellbar, dass plötzlich jemand auf einen zukommt und sagt: Folgen Sie dem Stern, dann werden sie das Jesuskind schon finden! Es wäre aus vielerlei Gründen schwierig, um es charmant zu sagen. Doch einmal im Jahr öffnet sich eine Art Zeitfenster, wo auch eine Geschichte von Hirten, denen ein Engel erscheint, um sie mithilfe eines Sterns zum Christuskind zu lotsen, ihren Platz findet. Und es ist die Zeit, wo man sich auch darauf besinnt, an die Kraft der Hoffnung zu glauben.

Das Friedenslicht aus Bethlehem steht symbolisch dafür. Seit November reist es um die Welt, wird von Mensch zu Mensch weitergegeben, wie hier in einem Zug in Kiew, um es an viele Orte des Landes zu bringen. Einem Land, das seit beinahe zwei Jahren damit zu leben gelernt hat, dass das Fehlen von Strom und Licht nur eine Randerscheinung eines Krieges ist. Es wäre falsch, hier von einem kurzen Moment der Ruhe zu schreiben, von einer vermeintlichen Idylle, die es so nicht gibt – das würde die Realität negieren. Und doch erzählt uns dieses Bild auch davon, dass dieses Friedenslicht aus Bethlehem weit mehr ist, als nur eine Lichtquelle. Für einen Augenblick verbindet es dort, wo es hinkommt, die unterschiedlichsten Menschen und ihre gemeinsame Hoffnung auf Frieden.

Ist das naiv, weltfremd sogar? Wohl nicht, denn wer auf den Frieden hofft, der glaubt aktiv an die Möglichkeit, dass es je Frieden geben wird. Wer es nicht tut, der hat die Welt wohl schon aufgegeben. Ein Glück, dass das weihnachtliche Zeitfenster gerade geöffnet ist.

BILD DER WOCHE 49 | 2023

Kinder im Krieg

Foto: AFP/Mohammed Abed

Foto: AFP/Mohammed Abed

Von Thomas Götz

Sie sitzen auf Bündeln bunter, warmer Decken. Die Moschino-Hose erinnert daran, dass ihr Leben gerade noch anders gewesen war, normal unter den Bedingungen der Abgeschlossenheit und der Herrschaft einer Terrororganisation. Ihre Bedürfnisse waren die aller Kinder: genug zu essen, Familie, ein paar schöne Sachen, Flipflops, eine Haarspange vielleicht, und Freunde. Die rosa Sandschaufel in der Hand gehört noch in die alte Zeit.

Der Fotograf Mohammed Abed hat die Kinder im provisorischen Flüchtlingslager Tell es-Sultan im Westen der Grenzstadt Rafah nahe Ägypten gefunden. Bis zu ihrer Wohnung oder was von ihr geblieben ist, kann es nicht weit sein. Nichts ist weit entfernt in dem schmalen, 40 Kilometer langen Küstenstreifen, in dem Krieg tobt. Krieg zwischen einer terroristischen Untergrundarmee, die sich unter Zivilisten mischt, und dem Heer des Nachbarlandes.

Das Bild zeigt nichts davon. Es ist schön und farbenfroh. Auch die Gesichter der Kinder verraten nicht, was um sie herum passiert. Häuserblocks kollabieren unter Bomben, in unterirdischen Gängen fürchten Geiseln, die das Massaker im Nachbarland überlebt haben, um ihr Leben. Niemand weiß genau, wo in dem Labyrinth sie auf Befreiung oder Freilassung hoffen. Oberirdisch zittern Familien um ihr Leben und Kinder wie die beiden. Sie wissen noch nichts von Politik, aber sie spüren ihre Folgen. Später werden sie lernen, den Feind zu benennen, vielleicht auch zu kämpfen. Wenn es weitergeht wie in griechischen Tragödien, werden auch ihre Kinder aufwachsen mit dem Hass und ihn weitergeben. Wie die Atriden. Nach dem Mord an seiner mörderischen Mutter, dem vorerst letzten Opfer im ewigen Kreislauf dieser antiken Familienfehde, weiß Orest, dass seine Tat nicht das Ende des Tötens sein wird. Es gibt kein Entrinnen.

Bei Aischylos beendet erst die Erfindung einer übergeordneten, gerichtlichen Instanz den Kreislauf individueller Rache. Für Staaten gibt es die schon, wenn auch kraftlos und gelähmt. Aischylos gibt Hoffnung.

BILD DER WOCHE 48 | 2023

Lange Nächte in der Stadt der Lichter

Foto: AFP/Ludovic Marin

Foto: AFP/Ludovic Marin

Von Martin Gasser

Am 3. Dezember geht die Sonne in Österreich um halb 8 auf und schon kurz nach 16 Uhr wieder unter. Bis um den 19. Dezember herum wird der Tag noch um eine Viertelstunde kürzer. Wir leuchten im Advent ja auch gegen die Dunkelheit an. Das ist angesichts der tiefen Finsternis nur umso rührender und heimeliger. Die Schwärze des Dezembers umfängt selbstverständlich auch die "Lichterstadt" Paris und eine kleine Insel auf der Seine in ihrem Zentrum, wo eines der schönsten Gebäude der Welt steht. Die Kathedrale Notre-Dame de Paris ist mehr als ein historisch bedeutsamer Sakralbau, sie ist, man kann das ohne Pathos sagen, das Herz Frankreichs. Victor Hugo schrieb vor fast 200 Jahren einen schnell berühmt gewordenen Roman über einen missgestalteten Glöckner, der in Wahrheit vielmehr ein Roman über eine Kirche ist und alle jene, die in ihrem Schatten leben. Ihr stiller Ernst, ihre Schönheit, ihre überwältigende Aura beeindrucken auch den hartnäckigsten Nichtgläubigen.

Der verheerende Großbrand von 2019 hat die Seelen in halb Europa so aufgerüttelt, dass die Zartbesaiteten bzw. die Ängstlicheren gleich etwas von einem bösen Omen und der Apokalypse geraunt haben. Aber was ist ein Unglück schon angesichts des menschlichen Geistes und seinen Ambitionen, es wieder gutzumachen? Seit Jahren wird Notre-Dame wiederaufgebaut und restauriert, in einem Jahr soll die Kathedrale wieder aufsperren. Es muss kein Hochmut sein, wenn man vom Geist und seinen Ambitionen redet, von der Größe des Menschlichen. Die millionenfachen Bemühungen, etwas gutzumachen, etwas Gutes zu tun, die Tag für Tag geschehen, müssen auch zählen. Gerade, wo in Israel und Gaza, in der Ukraine und Äthiopien, in Myanmar und Sudan, Somalia, Syrien, Irak, Mexiko und vielen anderen Regionen Kriege und Konflikte herrschen, die jedes Jahr Abertausenden das Leben kosten, sei auch daran erinnert.

Die Existenz des Guten ist eines der großen Weltwunder. Das Baugerüst rund um die Kathedrale erleuchtet jetzt die langen Nächte des Advents. Am Gerüst wird gearbeitet, um das Herz von Frankreich wieder in Schwung zu bringen. In Paris sind die Tage übrigens sogar noch ein bisschen kürzer als bei uns. Da wie dort gilt: Man kann zwar nicht einfach die Sonne einschalten, aber man kann versuchen, die Welt ein bisschen heller zu machen. Gerade jetzt.

BILD DER WOCHE 46 | 2023

Das ewige Buhlen und Begehren

Foto: Picturedesk/Britta Pedersen

Foto: Picturedesk/Britta Pedersen

Von Julia Schafferhofer

Es bleibt die kleinste und – zumindest im Salzburger Festspielsommer – die wichtigste Nebenrolle der Welt: die Buhlschaft. Eine auf rund 30 Sätze minimierte Figur mit der Bedeutung einer Hauptrolle. Im Fokus steht dabei das Buhlen, Begehren und Begehrtwerden. Inklusive medial ausgepresstem Society-Zirkus, der noch keiner Schauspielerinnenkarriere geschadet hat. Seit 1920 wird am Domplatz in Hugo von Hofmannsthals "Jedermann" gestorben; mit Ausnahme von 1938 bis 1945.

Nicht totzukriegende Trara-Debatten sind auch jene um Dekolletés, Kleider- oder Hosenanzugfarben (zumeist rot), die Frisuren und Figuren der Darstellerinnen und spezielle Regieeinfälle. Erinnern Sie sich noch, als Brigitte Hobmeier fast vom Fahrrad kippte?

Die immer wieder reproduzierten Stereotype von der lasziven Verführerin halten sich auch im 21. Jahrhundert hartnäckig. Eine neue, jüngere Generation von Schauspielerinnen brach diverse Buhlschaft-Klischees in zeitgemäßen Neuinterpretationen zuletzt auf. Stefanie Reinsperger verkörperte eine sehr fordernde Buhlschaft, Verena Altenberger begegnete ihrem Jedermann als emanzipierte Geliebte auf Augenhöhe, Valerie Pachner betörte im Vorjahr in einer Doppelrolle vor allem als zärtlicher Tod.

Mit der 32-jährigen Deleila Piasko (im Bild) wird die Verjüngungskur 2024 fortgesetzt. Die gebürtige Schweizerin hat jüdische Wurzeln, ist Red-Carpet-tauglich, ihr Spiel bescherte diversen Streaming- und TV-Projekten Auszeichnungen, ihre kluge Rollenauswahl überzeugt. Im Kino glänzte sie zuletzt in der "Stasikomödie" sowie in Hauptrollen der preisgekrönten Serien "Transatlantic" oder "Der Schatten". Zuletzt stand sie u. a. mit ihrem ehemaligen Burgtheater-Kollegen Jan Bülow in "Lili" als Fräulein Else vor der Kamera.

Er hätte bei der Buhlschaft nach "jemandem mit viel Eigenleben" gesucht, erklärte Regisseur Robert Carsen bei der Präsentation des neuen "Jedermann"-Teams. Nicht der schlechteste Vorsatz für eine Figur, die viel zu lange als "Kleiderständer" herhalten musste.

BILD DER WOCHE 45 | 2023

Das wahre Wissen der Welt

Foto: Stefan Leitner

Foto: Stefan Leitner

Von Bernd Melichar

Dass Bücher im Zeitalter der digitalen Grenzen- und wohl auch Schrankenlosigkeit noch immer bewegen und Menschen berühren, ist ein schöner Hoffnungsstrahl in trüben Zeiten. Ein Foto der weltberühmten Klosterbibliothek des Stiftes Admont hat beim Hamburger "PR-BildAward" in der Kategorie Tourismus eine Auszeichnung erhalten. Insgesamt wurden 550 Bilder eingereicht, die Abstimmung erfolgte per Online-Voting, womit wir wieder in der digitalen Welt wären. Selbige soll hier nicht verteufelt werden, das wäre zu billig. Schattenseiten und Bösartigkeiten aller Art gibt es auch im Analogen zuhauf. Allerdings liegt bezüglich des World Wide Webs offensichtlich ein weitverbreiteter Irrglauben vor, wenn behauptet wird, dass dort das Wissen der Welt gespeichert sei. Vielmehr lagert dort nur das Grundmaterial, eine unvorstellbare Menge an Information. Erst durch geistige und vor allem geistvolle Beschäftigung damit kann Information in Wissen umgewandelt werden. Und dafür sind wir Menschen zuständig. Noch sind wir das.

Die 1776 fertiggestellte Stiftsbibliothek von Admont beinhaltet den weltweit größten klösterlichen Büchersaal. Er beherbergt rund 70.000 Bände, der Gesamtbestand des Stiftes umfasst zirka 200.000 Bücher. Eine Bibliothek, die gleichsam zum menschlichen Wesen mutiert, spielt auch in Umberto Ecos "Der Name der Rose" eine gewichtige Rolle. Schauplatz des Literaturklassikers ist eine Abtei, in der Mönche auf geheimnisvolle Weise ums Leben kommen. Bruder William von Baskerville und sein Gehilfe Adson von Melk geraten immer mehr in den Bann der Büchermacht. "Die Bibliothek verteidigt sich selbst. Unergründlich wie die Wahrheit, die sie beherbergt; trügerisch wie die Lügen, die sie hütet, ist sie ein geistiges Labyrinth und zugleich ein irdisches." Dass Bücher und die Orte, wo sie ein Zuhause gefunden haben, nicht nur etwas Magisches und Mystisches, sondern auch Menschliches und Lebendiges ausstrahlen, ist mehr als eine Information. Das ist wahres Wissen, tief empfunden bei jeder Berührung eines Buches.

BILD DER WOCHE 44 | 2023

Ein Lächeln, das nicht alle übrighatten

Foto: AP/Thomas Mukoya

Foto: AP/Thomas Mukoya

Von Thomas Golser

Vorweg: So viele fröhlich lächelnde Gesichter bekam Charles III. während seiner viertägigen Visite in Kenia nicht immer zu sehen. Beim ersten Staatsbesuch in einem Commonwealth-Land als Monarch traf er in der Eastlands-Bücherei auf kenianische Schülerinnen und Schüler. Der späte König erfuhr mehr über eine Initiative, die alte Bibliotheken restauriert und das Lesen unter Kindern im Bezirk Makadara in Kenias Hauptstadt Nairobi fördert. Auch nachhaltige Landwirtschaftsprojekte bekamen royalen Besuch. So weit, so löblich, will man meinen. Ansonsten war es – wie vorab erwartet – ein Canossagang im langen Schatten britischer Kolonialverbrechen. Ein Spagat zwischen Respektsbekundungen und Nicht-Verschweigen-Können der Vergehen des Empire: Charles betonte bei seinem Besuch in dem ostafrikanischen 55-Millionen-Einwohner-Land zwar, dass die Verfehlungen der Vergangenheit Anlass für größten Kummer und tiefes Bedauern seien.

"Es wurden abscheuliche und nicht zu rechtfertigende Gewalttaten an Kenianern begangen" – und das sei nicht zu entschuldigen. Eben das, eine offizielle Entschuldigung des Vereinigten Königreichs, wurde indes von vielen Kenianern sehr wohl erwartet: Die Ziviljustiz-Lobbygruppe "Africans Rising" merkte an, dass Beteuerungen ohne formelle Abbitte und Reparationen ohne Bedeutung seien.

Der höfliche Besuch eines aus einem Zeitloch gefallen wirkenden Monarchen kann bestenfalls ein Anfang sein. Das Königshaus wird stärkere Zeichen setzen müssen – nicht zuletzt mit Blick auf das längst dahinerodierende Commonwealth.

BILD DER WOCHE 43 | 2023

53 Jahre abwarten und Tee trinken

Foto: Imago/Cinema Publishers Collection

Foto: Imago/Cinema Publishers Collection

Von Thomas Golser

Als George Harrison, Ringo Starr, Paul McCartney und John Lennon – 1970 den Stecker der Beatles-Maschinerie zogen, zerbrach für Millionen von Fans eine Parallelwelt. Eine Reunion gab es nie – 1980 wurde Lennon ermordet, 2001 starb Harrison.

Am 2. November 2023, gut 53 Jahre nach der Auflösung der erfolgreichsten Band der Musikgeschichte, klingt eine Sensation aus Boxen und Kopfhörern: ein, jawohl, brandneuer, letzter Beatles-Song. Einen Moment, bitte: "Now & Then" ist natürlich nicht ganz neu. Basierend auf einem Stimme-Klavier-Demo, das Lennon in den später 1970er-Jahren mit einem bescheidenen Tonbandgerät anfertigte, ist der Song nicht zuletzt auch ein Produkt künstlicher Intelligenz: Modernste KI-Technik säuberte Lennons Originalaufnahme von sämtlichen Nebengeräuschen und bewirkte wohl auch sonst so einige artifizielle Wunderdinge.

Gitarrenspuren wurden indes 1995 noch von Harrison im Rahmen einer Beatles-Anthologie eingespielt, McCartney zupfte Bass, Ringo trommelte. Streicher komplettieren das Stück. Geschenk oder Leichenfledderei, fantastisch oder frevelhaft? Die Frage erübrigt sich, weil die noch lebenden Pilzköpfe – Co-Hauptdarsteller "Macca" und der stets sonnig getaktete Drummer – das Projekt als Musiker vorantrieben. Danken sollten die Beatles-Fans (ausnahmsweise) auch Lennons Witwe Yoko Ono: Sie hatte das Tonband 1994 schließlich an die Rest-Beatles übergeben.

Die Rolling Stones lieferten gerade im 61. Dienstjahr ein feines neues Album (so gar nicht Rock 'n' Rollator!) ab und dazu "Now & Then": Come together!

BILD DER WOCHE 42 | 2023

Schönheit und Genie – ohne Ablaufdatum

Fotos: Imago (9)

Fotos: Imago (9)

Von Martin Gasser

Vereinzelt erscheinen sie auf der Leinwand, jene singulären Figuren, die nicht nach Hollywood gehen müssen, um zur Ikone zu werden. Die Deneuve ist ein solches Exemplar. Sie hat Kunst und Glamour auf eine Weise verschmolzen, wie es fast nur im Kino möglich ist. Sie wurde zum Inbegriff von Stil, Eleganz und Souveränität. Eine oft als kühl beschriebene Schönheit, von der Kamera genauso geliebt wie vom Publikum.

Die 1943 im besetzten Paris geborene Catherine Dorléac, die sich bald einen Künstlernamen suchte, hat das europäische Kino in seiner Glanzzeit mitgeprägt. Mit dem Regisseur Luis Buñuel lotete sie als Teilzeit-Sexarbeiterin die Abgründe des Bürgertums aus ("Belle de Jour"). Mit ihrer Schwester Françoise sang und tanzte sie sich durchs bunte Filmwunder "Die Mädchen von Rochefort". Für Roman Polanskis "Ekel" wurde sie zur halluzinierenden Mörderin. Sie spielte Mary Vetsera ("Mayerling") und eine lesbische Vampirin ("Begierde"), sie gab die unwiderstehliche Verbrecherin ("Das Geheimnis der falschen Braut") und die Fabrikarbeiterin ("Dancer in the Dark"). Für Hirokazu Koreeda spielte sie 2019 eine Diva, die über das Verhältnis zwischen Realität und Film nachdenkt. Also sozusagen sich selbst.

Obwohl schon seit Jahrzehnten lebende Legende, arbeitet Catherine Deneuve immer weiter. Die Menschenrechtsaktivistin und Philanthropin hat gerade ihren 143. Film ("Funny Birds") abgedreht, am Nationalfeiertag stattet sie Wien einen Besuch ab, um auf die Viennale zu kommen, die ihr eine Filmreihe widmet. Heuer ist sie 80. Auch die Unsterblichen werden älter.

BILD DER WOCHE 41 | 2023

Wesen, die uns Staunen lehren sollten

Foto: Laurent Ballesta

Foto: Laurent Ballesta

Von Thomas Golser

Kein Außerirdischer, sondern eine Art lebendes Fossil – und unter Wasser zu finden: Das Natural History Museum in London kürte im Rahmen des "Wildlife Photographer of the Year"-Wettbewerbs wieder die besten Naturfotografen und ihre Meisterstücke – darunter war dieser Pfeilschwanzkrebs: Der Meeresbiologe und Fotograf Laurent Ballesta hielt das ganz besondere Tier fest, als es sich an den Bodenschlamm in den Gewässern vor der Insel Pangatalan auf den Philippinen schmiegte. Jury-Vorsitzende Kathy Moran betont, ein Gewinnerbild brauche Viererlei: "Ästhetik", die Magie des "Moments", "erzählende" Qualitäten und zunehmend "etwas, das konservatorische Dimension hat".

Eine Kreatur, die wie ein goldenes Raumschiff wirkt – und doch gehört die Spezies seit Urzeiten zum Planeten Erde und seiner Fauna. Wie es mit dem Meeresgliederfüßer weitergehen wird, steht unterdessen in den Sternen: Der Pfeilschwanzkrebs ist durch die Zerstörung seines Lebensraums bedroht – sein blaues Blut wird für medizinisch-pharmazeutische Tests verwendet und rettet dadurch Leben. Ein Geschöpf – den meisten Menschen unbekannt und doch für ihre Gesundheit (und jene der Ozeane) wichtig. Zumindest im Meeresschutzgebiet rund um Pangatalan finden Pfeilschwanzkrebse Zuflucht. Die Tiere werden bis zu 60 Zentimeter lang und sehen mit drei Augen. Sie krochen bereits vor 150 Millionen Jahren über den Meeresgrund, überlebten die Dinosaurier und finden hoffentlich auch durch den Menschen kein Ende. Natur als perfektes Wunder in sich. Homo sapiens, staune – und achte.

BILD DER WOCHE 40 | 2023

Das junge Leben im Trauma

Foto: APA/AFP/Hasmik Khachatryan

Foto: APA/AFP/Hasmik Khachatryan

Von Thomas Golser

Jede elementare Katastrophe – und daran besteht auf dem Planeten im 21. Jahrhundert leider kein Mangel – birgt unzählige "kleine" Tragödien: Dieses Mädchen lebte, wie einst 55.000 Menschen, in Stepanakert in Bergkarabach. Nach der Eroberung der Südkaukasusregion durch Aserbaidschan haben 120.000 ethnische Armenierinnen und Armenier die Region in einer Massenflucht verlassen. Zweieinhalb Wochen später ist die Gebietshauptstadt ein Ort für Geister, ein "Lost Place" bar aller Hoffnung. Aserbaidschan hatte der mehrheitlich armenischen Bevölkerung Bergkarabachs nach dem zügigen militärischen Sieg über die Truppen der international nicht anerkannten Republik Arzach zwar zugesagt, ihre Rechte zu achten. Jedes Vertrauen darauf fehlt nach all den Jahren des Konflikts jedoch.

Laut der Kinderhilfsorganisation Unesco sind ein Drittel der Geflüchteten Kinder und Jugendliche. Ein Zurück scheint unvorstellbar – die selbst ernannte Republik Bergkarabach, aus der die Armenier kamen, hört de facto auf zu existieren. Die Zukunft ist andererseits ein großes Fragezeichen: Nach Armenien waren wegen des anhaltenden Putin’schen Krieges gegen die Ukraine auch Zehntausende Russen ausgewandert.

Sie musste schnell vor sich gehen, die Flucht vor dem Erzfeind Aserbaidschan. Was man noch hat, steckt in hastig gepackten Reisetaschen und Plastiksäcken – wer Glück hat, hat ein klappriges Auto. Die Versorgung mit Nahrung, Medikamenten, Kleidung und Wohnraum hängt in der Luft. Eine Ethnie im Exodus, junge Leben im Trauma. Die Menschheit bleibt Fortschritte schuldig.

BILD DER WOCHE 39 | 2023

Die Krönung des Herbstes

Foto: Picturedesk/EXPA

Foto: Picturedesk/EXPA

Von Bernd Melichar

Sie ist eine wahre Pracht, diese Erntekrone, die von jungen Männern im Lichte der strahlenden Herbstsonne geschultert wird, vermutlich auf dem Weg in eine Kirche, zum Gottesdienst, zum Erntedankfest, das in diesen Wochen allerorts gefeiert wird. An diesen Sonntagen sind dann die Bankreihen in den Kirchen wieder gut gefüllt und gerne werden zu diesem Anlass Kinder eingeladen, ihre mit Erntegaben gefüllten Körbe vor den Altar zu stellen. Das mögen manche als religiösen Kitsch empfinden, als leer gewordenes Ritual; als triviale Tradition, mit der man nichts mehr anzufangen weiß. Andererseits kann es nicht ganz falsch sein, einmal im Jahr dafür zu danken, dass die Erde noch immer so viel hergibt, dass die meisten von uns satt davon werden. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie Bewohner in anderen Weltgegenden bestätigen werden.

Die Ernte ist also eingefahren. Für manche ist sie gut ausgefallen, für andere schlecht. Wenn sie gut war, wird dafür gedankt; wenn sie schlecht war, auf das nächste Jahr gehofft. Wer die Gabe des Glaubens besitzt, kann dem Herrgott danken – oder auf ihn hoffen. Jetzt, im Herbst, zieht der Mensch auch gerne Bilanz – und sich dann, im Winter, zurück. Zumindest der Bauern-Mensch hat das früher so getan, sich zurückgezogen in die warme Stube. Sein Zyklus ging mit dem Kreislauf der Natur einher. Der Sommer drehte sich schnell, war überhitzt, arbeitsreich. Jetzt könnte alles ein wenig langsamer werden. Doch dem modernen Menschen ist das Wechselspiel der Geschwindigkeiten abhandengekommen. Er rastet nicht, er rast. Wohin wohl?

BILD DER WOCHE 38 | 2023

Eine Königin muss auch nicht alles können

Foto: Getty Images

Foto: Getty Images

Von Thomas Golser

Über die Tischtennis-Expertise von Charles III. ist nichts überliefert – womöglich aus gutem Grund. Offenbar lag es nahe, das Zepter den Schläger an Camilla abzugeben. Zur launigen Szene kam es im Rahmen von Charles’ erster Frankreich-Visite als britischer König. Man traf unter anderem lokale Jugendsportverbände in Saint-Denis bei Paris und ließ sich das dortige Angebot hautnah präsentieren.

Der britische Monarch wird auf dem Foto neben seiner Gattin von Brigitte Macron, der Frau von Staatschef Emmanuel Macron, flankiert. Camilla wollte es jedenfalls wissen – und forderte Frankreichs First Lady zum Match heraus. Das Problem: Die Co-Regentin traf den Ball vor ihrer Nase einfach nicht und stellte sich auch sonst mäßig behände an. Charles brach derweil in schallendes Gelächter aus, was hoffentlich kein innereheliches Nachspiel hatte. Erkenntnis: Auch eine Königin muss nicht alles beherrschen.

Ansonsten galt der Staatsbesuch als diplomatischer Erfolg, zwei historisch enge Nachbarländer setzen nach dem Brexit auf Beziehungspflege. Der späte König und der eigenwillige Präsident sprachen überdies geopolitische Brennpunkte an.

Charles – der weltweit einzige Monarch, der auch eine Art Biobauer ist – rief Frankreich zudem in einer Rede vor Frankreichs Senat zum gemeinsamen Einsatz gegen den Klimawandel auf: Seiner Anreise per Flugzeug und Macrons prunkvoll-spätfeudalem Staatsbankett im Schloss Versailles tat das freilich keinen Abbruch. Nun ja.

Für alle, die gerne einmal König wären, sei das Sprichwort "Die Gedanken eines Menschen sind sein Königreich" ein Trost.

BILD DER WOCHE 37 | 2023

Der Rausch
des Lebens

Foto: Picturedesk/Andreas Tischler

Foto: Picturedesk/Andreas Tischler

Von Bernd Melichar

Ach, fast weigern sich die Worte zu schlüpfen angesichts der prallen Schönheit dessen, was zu beschreiben ist. Was auch sagen zu diesem Foto, das nicht schon das Foto selbst zeigt? Alsdann: Der mächtige Sonnenball pinselt den Himmel in ein leuchtendes Orange und taucht die Weingärten der Südsteiermark in ein milchig-mildes Licht.

Das Idyll wurzelt freilich in einem Boden aus Mühsal und Sorge, aus Bangen und Hoffen. Die Lesezeit steht an. Aber bis zuletzt wissen die Weinbauern nicht, wie ertragreich die Ernte ist und wie edel der Tropfen, der aus den Trauben gewonnen wird. Sie sind dem Willen der Natur und deren Fährnissen ausgeliefert.

"Egal womit, ob durch Wein oder Poesie – berauscht müsst ihr sein!", postulierte einst der französische Dichter Arthur Rimbaud. Nüchtern betrachtet stünde die Berauschung auch uns, die wir gerne durchs Jammertal wandern, gut an. Aber der Rausch nicht als toxischer Eskapismus, sondern als ekstatische Weltzugewandtheit. Viel mehr müssten wir dieser Welt zugewandt sein, ihr herzhaft zugetan, lustvoll zugeneigt; nicht immer nur in dunkle Abgründe starren sollten wir, sondern in die lichten Höhen staunen. Ja, wir Menschen sind Mängelexemplare, aber es mangelt uns auch nicht an herzeigbaren Seiten. Nicht nur Hochmut und Zwietracht zeichnen uns aus, auch Edelmut und Eintracht. Berauscht von der buchstäblich einmaligen Schönheit der Welt sollten wir sein; trunken von der Gnade, auf dieser Welt weilen zu dürfen, torkelnd vor Glück, jeden Tag sehen zu können, wie die Sonne aufgeht. Auf all das darf man auch ruhig anstoßen und die Poesie des Lebens feiern.

BILD DER WOCHE 36 | 2023

Am Lagerfeuer mit den drei Buben

Foto: AP/Invision/Scott Garfitt

Foto: AP/Invision/Scott Garfitt

Von Bernd Melichar

Nein, wir rechnen jetzt nicht nach, wie alt die drei rotzfrechen Buben auf dem Foto zusammen sind, das wird allmählich fad – und spielt auch überhaupt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Ron Wood, Mick Jagger und Keith Richards, auch bekannt als Rolling Stones, in dieser Woche im Londoner Hackney Empire Theatre ein riesiges Remmi-demmi veranstaltet und der Welt verkündet haben, dass sie gedenken, am 20. Oktober ihr neues Album – das erste seit fast 20 Jahren – zu veröffentlichen. Und, noch erstaunlicher, die Welt hat gebannt zugehört und ist jetzt ganz aufgeregt, was es da bald zu hören gibt.

Na, was wohl? Typische Richards-Riffs, torkelnd und noch immer rattenscharf, und dazu die bellende, unkaputtbare Rockröhre von Jagger. Business as usual also – und das seit 61 Jahren! Dass die Platte – "Hackney Diamonds" heißt sie – ein großer Wurf wird, ist nicht zu erwarten. Aber auch das spielt im Grunde keine Rolle.

Was dann? Dass ausgerechnet eine Rockband zum Synonym für Beständigkeit, Durchhaltevermögen und Tradition wurde, ist ein Paradoxon. Denn diese Art von Musik – deren Idole reihenweise mit 27 Jahren verglüht sind – verkörpert eigentlich das genaue Gegenteil davon. Rockmusik steht ursprünglich für Revolution und Rebellion, für den schnellen Flächenbrand – und das noch schnellere Erlöschen der Flammen bzw. Interpreten. Aber Mick Jagger, Keith Richards und Ron Wood sind lässige, unpeinliche Überlebenskünstler. Und auch wenn die Glutnester nur noch gemütlich knistern, ist es schön, mit diesen Lausbuben am Lagerfeuer zu hocken.

BILD DER WOCHE 35 | 2023

Gut, in einer Schulklasse in Österreich zu sein

Foto: APA/AFP/STR

Foto: APA/AFP/STR

Von Thomas Golser

Nicht alle Schülerinnen und Schüler dürfte es in absehbarer Zeit (4. September Burgenland, Niederösterreich und Wien, 11. September Steiermark, Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol und Vorarlberg) freudig in ihr Klassenzimmer zurückziehen.

Ein Blick nach China hilft womöglich dabei, Österreichs Schulen noch besser schätzen zu lernen: Diese Luftaufnahme zeigt Erstklässler, die an einer Einführungszeremonie teilnehmen, um an einer Grundschule in der südwestlichen Provinz Guizhou etwas über traditionelle Kultur zu lernen. Auf jeden Schüler kommt offenbar eine Gangaufsicht, alle Reihen sind geordnet und geschlossen, wie es das System der Volksrepublik insgesamt ist. Leistungsdruck begleitet Chinas Schüler von Beginn an, mit einem Flaschenhals, durch den man es – vielleicht – an gute weiterführende Schulen und Universitäten schafft. Allgegenwärtig und einhergehend: Ideologisierung.

"Schulen sind Produktionsstätten der Menschlichkeit", befand indes – vor zugegeben langer Zeit – der Philosoph, Pädagoge und evangelische Theologe Johann Amos Comenius. Ist es zudem nicht schön, nach all der Zeit sommerlicher Muße wieder Freunde und Freundinnen in seiner Klasse wiederzusehen? Gibt die Schule nicht ein Quantum jener Beständigkeit, die der rastlosen Welt von heute zum Gutteil längst abhandenkam? Als Erwachsener ist der wohl beste Ansatz: Der nächste Tag sei der Schüler des vorigen.

PS: Wem der Sinn nach einem "Wimmelbild" steht: Ein Kind auf diesem Foto wird – aus unbekannten Gründen – von einer Aufpasserin mit dem Zeigefinger ermahnt. Finden Sie es?

BILD DER WOCHE 34 | 2023

Was wir beherzigen sollten

Foto: Imago/Arnulf Hettrich

Foto: Imago/Arnulf Hettrich

Von Bernd Melichar

Herzig, nicht wahr? Und der Hintergrund des Fotos ist wahrlich herzzerreißend: In Baden-Württemberg wurde dieses blühende Herz als Zeichen für herzkranke Kinder gesetzt. Auf einer Fläche von zehn Hektar blühen Millionen von Kornblumen, und mittendrin schlägt das Herz aus roten Mohnblüten. Die pralle Farbenpracht des Bildes erinnert noch einmal an einen Sommer, der meteorologisch schon am 1. September zu Ende geht. Und, Hand aufs Herz, es war ein Sommer, dem man nicht nachweinen mag, oder? Zu kalt, zu heiß, zu viel Regen, zu viel Sonne, zu viele verheerende Unwetter, zu viele Gelsen, zu wenig Grill-Stunden, zu wenig Aperol-Zeit, zu wenig – suchen Sie sich etwas aus. Jedenfalls: böser, böser Sommer!

Jetzt können wir nur noch darauf hoffen, dass wenigstens der Herbst so wird, wie wir uns das vorstellen. Mild und voll Melancholie und Maroni. Denn darauf kommt es schließlich an. Dass die Dinge – und da gehören die Jahreszeiten unbedingt dazu – so werden, wie wir uns das vorstellen. Und wenn sie nicht so sind, wie wir uns das vorstellen, dann sind wir verärgert, enttäuscht, gekränkt, wütend, verzweifelt – suchen Sie sich etwas aus.

Dass die Dinge möglicherweise nicht mehr so sind, wie wir uns das vorstellen, könnte vielleicht an uns selbst liegen. Daran, dass wir an den Dingen zu viel herumschrauben, herumtricksen, manipulieren, malträtieren, uns zu viel rausnehmen, zu wenig hineingeben – suchen Sie sich etwas aus.

Damit die Dinge vielleicht doch noch so werden, wie wir uns das gerne vorstellen, sollten wir vielleicht den Ratschlag des griechischen Philosophen Epiktet beherzigen: "Bedenke die Folgen." Schöne Sommertage noch.

BILD DER WOCHE 33 | 2023

In diesen Ästen steckt noch Hoffnung

Foto: APA Picturedesk/AP/Rick Browmer

Foto: APA Picturedesk/AP/Rick Browmer

Von Thomas Golser

Wird er es schaffen, kann er es wieder zur Blüte bringen, dürfen sich die Hawaiianer an ihm festhalten? Nach verheerenden Bränden auf Maui sind Teile der Insel kaum noch wiederzuerkennen – das gilt auch für diesen 150 Jahre alten Banyan-Baum.

Das Naturkunstwerk mit (einst) 2000 Quadratmetern Schattenfläche nahm in dem für mindestens 110 Menschen tödlichen Feuer schweren Schaden. Die Bengalische Feige steht im weitgehend zerstörten, zuvor jährlich von gut zwei Millionen Touristen besuchten Lahaina an der Nordwestküste von Maui. Ein Wahrzeichen als Schatten seiner selbst – doch die Chance, dass der fantastische Riese über die Runden kommt, lebt: "Ich sprach mit dem Baumpfleger, der sich um ihn kümmert, und bin optimistisch, dass er wieder blühen wird – als Symbol der Hoffnung inmitten von so viel Verwüstung", ließ jüngst Senatorin Mazie Hirono wissen. Auch Gouverneur Josh Green sagte, die angesengte Ikone mit 46 Hauptstämmen und 400 Metern Umfang "atme noch", nehme Wasser auf und produziere Saft – obgleich wegen seines verheerenden Allgemeinzustandes viel weniger als üblich. Natur als Überlebenskünstler in einer zunehmend bedrohlichen und bedrohten Welt: Im Zusammenhang mit den Bränden auf Hawaii betont Klimaforscherin Mariam Zachariah, dass man "man künftig häufiger mit Waldbränden rechnen müsse, auch in Regionen, in denen sie bislang nicht auftraten".

"Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt", sinnierte Khalil Gibran: Natur muss gefühlt werden – am Ende gilt das für jeden Baum, der zivilisatorischem Hunger weicht.

BILD DER WOCHE 32 | 2023

Die Zeit der Pop-Püppchen ist vorbei

Foto: Imago/Zuma Wire

Foto: Imago/Zuma Wire

Von Bernd Melichar

Auf wen zeigt sie? Auf uns? Auf sich selbst? Was könnte sie gerade sagen in diesem Moment? Vielleicht das: "Auch wenn ich voll Glitzer und Glamour vor euch stehe, die Zeit der biegsamen Pop-Püppchen ist vorbei!" Ja, das könnte Taylor Swift sagen. Und es würde stimmen, denn sie selbst hat viel dazu beigetragen, dass die Macht der Popmusik in Kombination mit der Selbstermächtigung der Interpretinnen zu einem Befreiungsschlag geführt hat. Denn, bei allem Wohlwollen: Die Musik allein und die kunterbunte Inszenierung davon sind keine ausreichende Erklärung für die enorme Breiten- und vor allem Tiefenwirksamkeit des Superstars. Der Swift-Pop ist sehr gut, sehr clever, aber nicht weltbewegend, die Welt der "Swifties" bewegt er freilich schon. Was die Menschen aber offensichtlich noch mehr berührt und im Idealfall auch motiviert, ist Swifts sanft-trotzige und zielstrebige Emanzipierung von den Männern und Mächtigen dieser Welt, was meist noch immer dasselbe ist; kurz, das Loslösen vom Pop-Patriarchat und seinen aggressiven Knebelstrukturen.

Aufgenommen wurde dieses Foto im "Soldier Field"-Stadion von Chicago, wo der Pop-Ikone unlängst 55.000 Fans zujubelten. Gleich für drei Konzerte – am 8., 9. und 10. August – kommt Swift im nächsten Jahr ins Wiener Happel Stadion, was nach Bekanntgabe sofort eine Vorverkaufshysterie ausgelöst hat. Aber jubeln dürfen die Fans bereits im heurigen Herbst, da veröffentlicht die 33-jährige Künstlerin die Neuaufnahme ihres Albums "1989". Nach einem Streit um die Musikrechte an ihren früheren Werken hat Swift bereits drei ihrer alten Alben neu aufgenommen – als "Taylor’s Version".

Es war ein weiter Weg, den Taylor Swift gehen musste – und er war gepflastert mit Vorurteilen und Anmaßungen. Vom süßen Country-Girl aus Nashville, das von großen Kleinstadt-Sehnsüchten sang und harsch von der rechten Szene vereinnahmt wurde, bis zur selbstbewussten Feministin und weitherzigen Fürsprecherin einer bunten Menschenvielfalt. Und was auch immer Swift heute tut: Es ist ihre eigene Version davon.