BILD DER WOCHE 30 | 2023
Dunkle Seele, lichte Anmut

Von Bernd Melichar

Raspelkurze Haare, der Blick konzentriert nach unten, in wenigen Sekunden wird die Musik einsetzen. Und was für eine faszinierende Gemengelage in diesem Gesicht eingeschrieben ist. Es strahlt Zerbrechlichkeit aus, Sinnlichkeit, aber auch Trotz und Rebellion. Dass das Foto in Schwarz-Weiß gehalten ist, passt zur dargestellten Person, denn das Leben von Sinéad O’Connor enthielt lichte Momente und viele Schattenseiten – kaum etwas dazwischen. Dieses tragische Leben, es ging am Mittwoch zu Ende: Die irische Sängerin wurde tot in ihrer Wohnung in London aufgefunden. Sie wurde nur 56 Jahre alt.
"It’s been seven hours and 15 days/Since you took your love away." Schon die ersten Worte und Takte von "Nothing Compares 2 U" erzeugen wohligen Schauer. Der Pop-Prince hat das ikonische Lied geschrieben, geadelt hat es Sinéad O’Connor; mit einer erschütternd intensiven Stimme, die zwischen Zärtlichkeit, Verzweiflung und Wut taumelte. Das war 1990, der Beginn einer internationalen Karriere und eines öffentlichen Lebens, das sich bald zur fortlaufenden Tragödie zuspitzte. Denn mit dem Ruhm kamen auch die Ruinen an die Oberfläche. Misshandlungen und Missbräuche in Kindheit und Jugend; durch die eigene Mutter, durch Institutionen der Kirche. O’Connor wehrte sich gegen starre Rollenbilder und soziale Konventionen, kämpfte gegen Gott, die Welt, vor allem aber gegen sich selbst und die Heerschar von Dämonen, die sie zeitlebens verfolgten. Irr- und Wirrwege, Widersprüche: Sie zerriss ein Porträt von Papst Johannes Paul II. live im US-Fernsehen, wurde später Nonne der apostolischen Kirche, konvertierte zum Islam. Doch auch der Schleier konnte nicht verdecken, dass sich O’Connor längst selbst abhandengekommen war.
Die Chronik eines angekündigten Todes: Depressionen, Selbstmordversuche, die emotionale Apokalypse dann im Vorjahr: Ihr Sohn Shane verübte im Alter von nur 17 Jahren Suizid. "Lebe seitdem als untotes Nachtgeschöpf", lautete der letzte Tweet der Künstlerin. Es war, als würde sie seither dem Tod förmlich hinterherlaufen und ihn anflehen, sie doch endlich auch mitzunehmen. Diese geplagte, dunkle Seele hat uns helle musikalische Momente voll Schönheit und Anmut geschenkt. Auch und vor allem das möge von der unvergleichlichen Sinéad O’Connor in Erinnerung bleiben.
BILD DER WOCHE 29 | 2023
Braus, Saus, Graus

Von Thomas Götz

In diesem Wetter, in diesem Braus, nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus", schrieb Friedrich Rückert nach dem Tod seiner Kinder Luise und Ernst. 428 "Kindertotenlieder" hat der verzweifelte Vater hinterlassen. Ein paar Häuser weiter von diesem als Schlösschen getarnten Bootshaus der Seevilla Samek in Maiernigg am Wörthersee hat Gustav Mahler fünf der Lieder vertont. Im letzten peitscht ein Sturm um das Haus. Scharfe Pizzicati scheinen Regentropfen gegen die Fenster zu klatschen. Oder war es das Knacken von Bäumen, das Mahler in seinem kleinen Komponierhäuschen oberhalb der Wörthersee-Süduferstraße gehört hat? Braus, Saus, Graus steigert Rückert in seinem Lied die Schrecken der Natur. Die täglichen Nachrichten.
Gestürzte Flachwurzler verlegen Wanderern im Wald den Weg. Blitze spalten dicke Buchen. Ein alter Baum vom Grundstück, das die Mahlers 1907, nach dem Tod ihrer Tochter Maria Anna, abstießen, stürzte auf das Nachbarhaus, zertrümmerte Dach und Auto. Bei diesem Wetter, bei diesem Saus.
Mahler war zur Jahrhundertwende, zwei Jahre vor Paul Samek, in die noch fast unberührte Landschaft am Südufer gekommen, auf der Suche nach Ruhe. Noch war es still um den See. Erst ein Jahr zuvor hatte Kaiser Franz Joseph die Süduferstraße eröffnet.
Fast jeden Tag müssen Männer in Warnwesten mit Kettensägen den Weg für den Verkehr freischlagen. Das Urlaubsidyll als Gefahrenzone. "Der süße Duft der Blumen ist verflogen", komponierte Mahler 1908, schon in Toblach. "Ein kalter Wind beugt ihre Stengel nieder. / Bald werden die verwelkten, goldnen Blätter / Der Lotosblüten auf dem Wasser ziehn."
BILD DER WOCHE 28 | 2023
Das Ende ist der Anfang

Von Martin Gasser

Die Statue am Hafen von Neapel scheint kein Interesse an den Gebäuden oder am Kreuzfahrt-Terminal zu haben, sondern den Berg von Textilien vor sich zu betrachten. Die den Statuen der Antike nachempfundene Figur und die Fetzen sind nicht zufällig so angeordnet, sie gehören zusammen. Es ist eine monumentale Version der "Venus der Lumpen". Der Künstler Michelangelo Pistoletto hat dieses Werk in den 1960er-Jahren konzipiert. Seine Venus wurde zu einer Ikone der Kunstrichtung Arte Povera und ist seit ihrer Entstehung in vielen Museen – in kleineren Versionen – gezeigt worden. Die Arte Povera arbeitet mit alltäglichem "wertlosen" Material. Was das Werk des 90-jährigen Pistoletto mit seiner Kombination aus antiker Schönheit und den Überbleibseln der Konsumgesellschaft bedeutet, ist schwer zu sagen.
Das Werk bringt die größtmöglichen Kontraste in einen Kontext, vielleicht, um die enorme Vielfalt des Lebens anzudeuten und zu sagen, dass die Liebe auch angesichts des Unrats nicht vergeht. Vielleicht auch, um die Vorstellungen von Schönheit zu befragen: Vielleicht ist die tausendfach reproduzierte Venus ja bloßer Kitsch und Massenware und die Lumpen eine beeindruckende Erinnerung ans Leben der vielen, die damit in Berührung gekommen sind. Vielleicht ist es auch bloß ein Spiel aus Materialien, die Härte der Figur und die wärmende Weichheit der Textilien. Oder es zeigt den kritischen Blick der Alten auf unsere Gegenwart. Man könnte lange spekulieren und gerade dieses Nachdenken könnte ebenso die Bedeutung des Werks sein.
Diese Woche ist die Skulptur angezündet worden, übrig blieben Asche und ein verkohltes Gerüst. Angeblich die Tat eines Obdachlosen. Pistoletto war untröstlich, die Skulptur sei wie ein "Freund" gewesen, aber das Ende ist auch ein Anfang: Das Werk wird neu gemacht und wird wieder aufgestellt.
BILD DER WOCHE 27 | 2023
Erinnerungen legen uns die Rutsche

Von Thomas Golser

Ralph Waldo Emerson, der brillante amerikanische Naturphilosoph und Essayist, konnte im 19. Jahrhundert noch keine spritzigen Wasserrutschen wie diese kennen.
Er wusste jedoch um den besonderen Reiz eines Sommers in Kindheitstagen: "Sonne bescheint nur das Auge des Mannes, aber in das Auge und das Herz des Kindes scheint sie hinein." Wer an Sommer denkt, wird vermutlich auch einiges an Nostalgie aus seiner Kindheit und Jugend beimischen: In den großen Ferien waren die Tage lang und im Idealfall golden. Vor dem digitalen Paralleluniversum und dem einhergehenden Social-Media-Zirkus war als Kind ferner Jahrzehnte die wichtigste Frage die nach der Eissorte des Tages. Oder: Zum See oder ins Freibad? Was unternehmen, wenn Sommerregen kommt?
Der Schwärmerei des Sommers (und womöglich auch noch des Herbstes!) konnte man als Jüngling zarte Signale der Sympathie zeigen. Mit Freunden tauchte man in Natur, Musik oder Spiele ein. Der Typus Tagträumer fand in Büchern seiner Wahl entsprechende Welten: Auch dafür gab einem der Sommer damals Zeit und Muße. Süßer Vogel Jugend. Erwachsen fühlt sich vieles davon zwangsläufig anders, der Sommer nicht mehr so farbecht an. Und das "Sommerloch", in dem sich die Welt einst für einige Wochen wirklich etwas heruntergefahren hatte? Ohnehin ein längst verblasster Begriff. Obgleich Erinnerung nicht selten auch Verklärung ist: Auf Wunsch zurück in den Sommer unserer Kindheit – wer würde das nicht ab und zu wollen? Die wertvollsten Archive sind nicht digital – sie sind fest im Herzen und in unserem Gedächtnis.
BILD DER WOCHE 24 | 2023
Der neue König bekommt eins auf die Mütze

Von Bernd Melichar

Dass er – endlich – ganz hoch zu Ross sitzt und nicht mehr in der ewigen Warteschleife ausharren muss, das wird Prinz Ch..., pardon, König Charles III. natürlich freuen, wenngleich der Gesichtsausdruck auf diesem Foto nicht gerade auf Jubelstimmung schließen lässt. Dabei gibt es allen Grund zum Feiern: Erstmals seit seiner Thronbesteigung ist der britische König am Samstag mit der Geburtstagsparade "Trooping the Colour" geehrt worden. Zehntausende Zuschauer haben sich in London versammelt, um die Prozession mit 1400 Soldaten, 400 Mitgliedern von Militärkapellen und 200 Pferden zu verfolgen. Tatsächlich Geburtstag hat Charles übrigens erst im November, aber das traditionsreiche Remmidemmi findet aus pragmatischen Gründen immer im Juni statt, weil es in diesem Monat am wenigsten regnet.
"Trooping the Colour", erstmals im 17. Jahrhundert unter Karl II. von England durchgeführt, bedeutet sinngemäß "Die Farben der Fahne den Truppen" zeigen. Der Ursprung der Zeremonie liegt im Brauch des täglichen Vorführens der Truppenfahnen vor den Soldaten, damit sie diese später im Kampf wiedererkennen konnten. Diese enge Bindung an die Fahne war nötig, um im Durcheinander historischer Schlachtfelder einen festen Orientierungspunkt zu haben. Der Gesichtsausdruck von Charles könnte auch etwas mit dem Ding auf seinem königlichen Haupt zu tun haben. Die klassische Bärenfellmütze ist mehr als einen halben Meter hoch, wiegt rund sieben Kilo und wird – trotz Protests von Tierschützern – noch immer aus dem Fell von kanadischen Braunbären hergestellt.
Oder aber der neue König schaut deshalb so verzwickt drein, weil dem Land gerade alle Felle davonschwimmen: Brexit-Dauerkater, kollabierendes Gesundheitssystem, hohe Kriminalitätsrate, niedrige Erwartungen an die Zukunft. Da war es wohl in der Stellvertreterhöhle gemütlicher.
BILD DER WOCHE 23 | 2023
Von friedvoller Nachbarschaft mit Weitblick

Von Thomas Golser

Und wieder einmal macht es die Natur bzw. die Tierwelt exemplarisch vor: Reiher – bis zum Horizont und in friedlicher Koexistenz. Die unzähligen Vögel halten sich im Qin-Lake-Park am Rand von Taizhou in Chinas östlicher Provinz Jiangsu auf und scheinen dort in dem Baldachin aus ineinandergreifenden Baumkronen relativ ungestört zu sein. Im Areal gib es noch Dutzende andere Vogelarten: Platz für alle, wenn man sich nur bescheidet, Natur als schlüssiges System.
Das Areal in relativer Stadtnähe eignet sich mit seinen ausgedehnten Feuchtgebieten perfekt für die Tiere: Reiher sind fast ausschließlich an Süßwasserhabitate gebunden, die Nahrung besteht vor allem aus Fischen und anderen Tieren im Wasser und wird dort im ufernahen Flachwasser gesucht. Die Stelzvögel messen von der Schnabel- bis zur Schwanzspitze bis zu 90 Zentimeter und haben eine Flügelspannweite von bis zu 170 Zentimeter. Trotz ihrer recht beträchtlichen Größe bringen erwachsene Reiher eineinhalb bis zwei Kilogramm auf die Waage.
Die Chinesen sehen Reiher – sie sind laut den ziemlich rar gesäten Fossilfunden übrigens eine sehr alte Vogelgruppe – als positives Symbol: Entsprechende Figuren stellen sie deshalb gerne in ihren Wohnungen auf, um so das Glück anzulocken. In der chinesischen Kultur spielen Symbole allgemein eine bedeutsame Rolle – und als solches steht der Reiher nicht zuletzt auch für den "richtigen Weg" im Leben. Eben davon scheint zumindest die menschengemachte Welt längst ein beträchtliches Stück abgekommen zu sein. Friedvolle Nachbarschaft mit Weitblick wäre dringend gefragt/gesucht. Glaube? Der Vogel, der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist, wusste Rabindranath Tagore.
PS: Für die Traumdeuter unter den geneigten Leserinnen und Lesern: Begegnet man in seinem Schlaf einem Reiher, deutet das auf Geduld, die man für eine bestimmte Sache aufbringen muss. Reiher im Flug sprechen für ein interessantes Projekt oder eine abenteuerliche Zeit, die einen erwartet.
BILD DER WOCHE 22 | 2023
Keine Zeit mehr für Cowboy-Romantik

Von Martin Gasser

Die Cowboys reiten in den Sonnenuntergang. Ist ihre Zeit vorbei? Die der knorrigen, harten Mannsbilder? Nun ja. In Westeuropa leben wir in einer Welt, die für – sagen wir einmal – eher reaktionär veranlagte Machos in Trümmern liegen muss. Da will man Benziner abschaffen und auf den Autobahnen soll man immer noch langsamer fahren. Den Müll soll man trennen und der "Playboy" schafft Aktaufnahmen ab. Groupies beschweren sich, dass die Stars Sex mit ihnen wollen. Man darf das "N-Wort" nicht verwenden, obwohl man eh kein Rassist ist, und selbst am Fußballplatz herrscht "Wokeness". Lauter Einschränkungen der Freiheit. Wenn man unter Freiheit halt die Tyrannei individueller Vorrechte verstehen möchte. Gut, da sind jetzt vielleicht ein paar Ebenen miteinander vermischt worden, also bitte um Verzeihung.
Aber man braucht jetzt sowieso gute Nerven, denn nun wird das Rauchen verboten, beziehungsweise erschwert, wie in Schweden. Dazu passt, dass der Tabakkonzern Philip Morris die Marke Marlboro einstellen möchte. Marlboro! Das passiert erst in ein paar Jahren, und niemand muss den potenziell tödlichen Glimmstängeln nachtrauern, aber das ist eine der größten Marken der Welt, verschlungen mit der Populärkultur des 20. Jahrhunderts. Eine Ikone, Sinnbild für den Westen und seine Konsumkultur und für die Welt jener knorrigen Marlboro-Männer. Zeitweilig ist sogar Niki Lauda in einem Auto gefahren, das wie die Schachtel der Marke ausgesehen hat. Und es gibt, unglaublich, aber wahr, einen Film, in dem Don Johnson den Marlboro-Mann mimt. Die Werbungen mit ihren sonnengegerbten Pferdemännern und Kuhbuben haben ein Männerbild romantisiert, das von Freiheit und Individualität kündete, das in Wahrheit die Leute nur dazu bringen wollte, alle das gleiche tun: Zigaretten kaufen. Gut, dass das Zeug nicht mehr beworben werden darf, aber irgendwie stehen wir halt auf Romantik, sogar dann, wenn diese durch und durch verlogen und toxisch ist. Im Wortsinn.
BILD DER WOCHE 21 | 2023
Sie werden auch Kuchen essen

Von Martin Gasser

Diese Woche trieb man es westlich von Paris wieder sehr bunt. Die alljährliche "Fête galante" zählt zu den Höhepunkten der Veranstaltungen auf Schloss Versailles. Der Dresscode ist streng, nur im "qualitativ hochwertigen Barockkostüm" gibt es Zutritt zum Vergnügen, dessen Gäste sich nach alter Manier zerstreuen können. Man darf dabei nicht nur künstlerischen Darbietungen beiwohnen, es ist durchaus erlaubt, selbst eine heiße Sohle aufs Rokoko-Parkett zu legen. Und dazwischen wurde sicher nicht nur Brot, sondern gewiss auch Kuchen gereicht. So konnte jede Bürgerin und jeder Bürger tun, als wären sie adlig und sich als Mitglied des Hofstaats wähnen.
Wobei die Elite damals rein zahlenmäßig gar nicht so elitär war: Grob geschätzt gab es im 18. Jahrhundert immerhin mehrere Hunderttausend Adlige, was ein bis zwei Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung Frankreichs entsprach. Über die beste Regierungsform kam das Häuflein mit der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger damals zu einer Meinungsverschiedenheit, die zum Ende hin recht feindselig geführt worden ist und für nicht wenige Großkopferte mitten auf der Pariser Place de la Révolution endete.
Der "Wind of Change", der den Gästen des Kostümballs um die Ohren blies, war indes absolut ungefährlich. Höchstens eine Perücke oder ein Dreispitz kamen in Gefahr, ihren Kopf konnten die "adligen" Herrschaften alle behalten. Und eigentlich zeigen die Franzosen bei solchen Festen ja keine monarchistische, sondern eine tief republikanische Gesinnung. Heute darf einfach jeder in Versailles tanzen. Er muss sich nur gut verkleiden
BILD DER WOCHE 20 | 2023
Der Koloss von Belfast

Von Martin Gasser

In 4000 Metern Tiefe, mitten im Nordatlantik, ruht dieser Koloss. Seit seinem Zusammenstoß mit einem Eisberg im Jahre 1912 ist das im irischen Belfast gebaute Mega-Schiff "Titanic" ein Symbol für alles Mögliche geworden: für menschliche Anmaßung und Stolz, für menschliches Versagen und für menschliche Tragödien. Der untergehende Koloss hat 1500 Personen in den Tod gerissen, Hollywood hat ein zuweilen arg kitschiges, aber vor allem beeindruckendes Filmdrama daraus fabriziert und noch heute lässt die Geschichte den Atem stocken. Nun wieder einmal, und zwar mit einem Foto, beziehungsweise mit 700.000 Fotos, die U-Boote im Sommer 2022 aufgenommen haben und die zu einem 3D-Modell zusammengesetzt worden sind. Diese "Aufnahme", die den gesamten zerfallenden Schiffsrumpf zur Gänze zeigt, scheint vom Mond zu stammen, weil das Wasser, welches das Wrack umgibt, herausgefiltert wurde. Ein Mahnmal, das in Ernst und völliger Stille daliegt, zur Schau gestellt mittels der faszinierenden digitalen Hexenkünste unserer Zeit.
Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass dies der letzte Blick auf ein einigermaßen erhaltenes Schiff sein könnte. In den nächsten Jahrzehnten wird das empfindliche Gefüge in sich zusammenfallen und allmählich verschwinden. Schon bei der Dokumentation im Vorjahr war es untersagt, das Wrack zu berühren. So wird die "Titanic" auch zum Symbol für die Vergänglichkeit. Der Mensch nimmt sich ja furchtbar wichtig und hat durchaus eine hohe Meinung von sich, aber aus erdgeschichtlicher Perspektive ist unsere Zivilisation bislang nicht mehr als ein matter Hauch. Geologen behaupten, dass alle in den letzten Jahrtausenden bis in die Gegenwart entstandenen Bauwerke in Millionen von Jahren auf einen papierdünnen Streifen in der Gesteinsschicht zusammengepresst sind. Neben ein paar zufällig erhaltenen Fossilien und Artefakten wäre dann ein nicht einmal Zehntelmillimeter schmaler Strich im Sediment der Überrest der Menschheit. So kolossal sind wir dann doch nicht.
BILD DER WOCHE 19 | 2023
Weil es ist,
was es ist

Von Marianne Fischer

Wir sind Mütter. Wir sind auch Journalistinnen, Producerinnen, Grafikerinnen und Sekretärinnen bei der Kleinen Zeitung. Und wir sind Köchinnen, Reinigungs- und Waschkräfte, Krankenschwestern, Schiedsrichterinnen, Streitschlichterinnen, Psychologinnen, Aushilfslehrerinnen und Nachmittagsbetreuerinnen. Zusammengefasst: Wir sind berufstätige Mütter. Das heißt auch, es reißt uns täglich zwischen unseren Aufgaben hin und her und das Herz heraus. Nicht, weil wir die ersten Schritte unseres Nachwuchses versäumen könnten, denn bei allen weiteren sind wir zur Stelle. Sondern weil wir uns grundsätzlich fragen: Sind wir genug da? Sind wir gut genug? Sind wir genug Vorbild?
Den eigenen Nachwuchs mit diesen Fragen zu belasten, hat sich als wenig hilfreich herausgestellt. Der Jüngere hat ratlos gemeint: "Bist eh okay." Der Ältere hat frech gegrinst und "Natürlich" geantwortet. Ein bisschen erinnerte das an die Karte, die zu Hause am Schrank hängt und auf der ein älteres Paar zu sehen ist. Sie (via Sprechblase): "Du hast mir lange nicht mehr gesagt, dass du mich liebst." Er: "Ich habe es einmal gesagt. Wenn sich was ändert, gebe ich Bescheid." Ich fand seinen absoluten Anspruch, dass sie seine Gefühle kennen müsse, immer tröstlich. Denn in einer Familie gehen die Emotionen eh ständig über. Man ist nicht vorbereitet auf die Angst, die man um die Kinder hat. Noch weniger auf die Wut, wenn der Nachwuchs wieder einmal genau an der Stelle bohrt, wo es am meisten wehtut. Und nicht auf diese grenzen- und bedingungslose Liebe. Denn die ist immer da – auch dann, wenn man sich gerade einmal nicht so richtig mag. Wie hat Erich Fried in seinem berühmten Gedicht über die Liebe gesagt: "Es ist, was es ist." Und weil es so ist, ist jeder Tag Muttertag.
BILD DER WOCHE 17 | 2023
Die Gaude auf dem Maibaum

Von Bernd Melichar

Das schaut ganz nach Gaude aus, die die auf dem Maibaum hockenden Kinder da haben, und natürlich suggeriert dieses Foto – aufgenommen in Stübing – ein ländlich-heiles Idyll, das man jetzt naserümpfend als Kitsch und billigen Eskapismus abtun kann. Muss man aber nicht. Man kann es auch so sehen: Einfach schön ist sie, die mit Löwenzahn übersäte Blumenwiese, und bald wird der Maibaum – prächtig geschmückt mit Bändern, Kränzen und Schnitzereien – stolz in den hoffentlich frühlingshaften Himmel spitzeln.
Die Ursprünge des Maibaumbrauchtums sind ungeklärt bzw. umstritten. Die Germanen verehrten Waldgottheiten, denen sie in Baumriten huldigten. In Österreich wurde das Aufstellen eines geschmückten Baums erstmals im Jahr 1230 in Wien dokumentiert, in seiner heutigen Form – mit grüner Spitze und Kranz – ist der Maibaum aber erst seit dem 16. Jahrhundert bekannt. So vielfältig und länderweise unterschiedlich wie Form und Schmuck ist auch die Deutung des Zwecks. Am wahrscheinlichsten ist eine Mischung aus religiösem Hintergrund (Kirchweihbaum), Bauernkult und Volksbrauchtum.
Emporgestemmt wird der Maibaum mit vereinten Kräften, und wenn er einmal steht, ist die größte Gefahr gebannt. Denn gestohlen werden darf ein Maibaum nur, solange er nicht steht; einmal fest verkeilt, ist er unantastbar. Eigentlich, theoretisch. Dass sich finstere, hinterlistige Gesellen aus dem Nachbarort oft nicht daran halten, gehört auch zum zünftigen Brauchtum. Übrigens, am Maibaum könnten auch wir Menschen uns gut orientieren, seinen Wuchs und seine Ausrichtung zum Vorbild nehmen. Kerzengerade und zuversichtlich ragt er in die Höhe, hat einen guten Weitblick und keine Angst vor der Fremde und dem Fremden. Sein Stamm ist aber erdverbunden, fest verankert im Boden, das symbolisiert den Mut zur Nähe und das Schätzen des Bekannten, Gewohnten, Vertrauten. Das eine schließt das andere nicht aus: Weitblick und Erdung. Und die Verankerung im Fundament, die darf man ruhig Heimat nennen.
BILD DER WOCHE 16 | 2023
Der gerechte Zorn des Reggae

Von Martin Gasser

Der Künstler, der sich dem Moment hingibt, zum Medium für etwas Größeres, nur schwer Erklärbares wird. Das Foto scheint einen solchen Moment festzuhalten – Bob Marley wirkt, als würde er in einem seligen Augenblick in seiner Kunst aufgehen. Vor 50 Jahren erschien "Catch a Fire", das erste Album, das Bob Marley and the Wailers bei einer großen Plattenfirma veröffentlichten und damit den ersten internationalen Erfolg der Reggaeband aus Jamaika. Reggae – das war keine Wohlfühlmusik zur Untermalung der nächsten Gartenparty, sondern ein Statement, vorgetragen von jungen, zornigen Männern. "Catch a Fire" – "Geh zur Hölle" ist die unmissverständliche Aufforderung an die Sklaventreiber, endlich zu verschwinden. Der im Slum der Hauptstadt Kingston groß gewordene Künstler verknüpft auf "Catch a Fire" Sozialreportage mit politischer Utopie. Mitten in der Betonwüste träumt er vom Ende des Kolonialismus, denn mit dem Abstreifen der Ketten war es eben nicht getan. Bob Marley singt von den Ketten in den Köpfen, von Gott, von der Revolution, von Drogen und von der Liebe. Jeder Moment, jeder Takt, jede Synkope ist mit Bedeutung aufgeladen, es geht immer um alles. Gegen Ende umschmeichelt er in "No More Trouble" die Hörerinnen und Hörer mit einer flehentlichen Bitte um Frieden, um mit "Midnight Ravers" doch noch einen anderen, unversöhnlichen Schlusspunkt zu setzen: Der Song ist ein illusionsloser Sozialbericht, eine surreale, drogenumwölkte Vision über eine verlorene Generation. Der verstörende Ausklang eines Meisterwerks, dem selbst die spätere Kanonisierung als Meisterwerk nichts von seiner ursprünglichen Kraft nehmen konnte.
Bob Marley wurde zur Ikone, bevor er acht Jahre später, mit 36 Jahren, an Krebs zugrunde ging. Dieser spirituelle, hellwache Künstler predigte zeit seines Lebens, wie nur ein Rockstar predigen kann: mit Eleganz und Stil, mit Sexyness und Wucht. "Catch a Fire" macht noch 50 Jahre später den gerechten Zorn des Entrechteten gegenwärtig.
BILD DER WOCHE 15 | 2023
Refugium der "armen Viecherl"

Von Martin Gasser

Es gibt ein etwas rätselhaftes, aber weit verbreitetes Phänomen. Man streichelt ein Tier und sagt (oder denkt): "Arm!" Dass Menschen Tiere als "arme Viecherl" bezeichnen: Es ist häufig bei anderen zu beobachten und auch bei sich selbst. Dabei beschränkt sich diese spezielle Form der Zuneigung überhaupt nicht auf notleidende Tiere. Man fährt dem munteren Nachbarshund oder der wohlgenährten Katze, dem stolzen Pferd oder sonst einem streichelfähigen Tier (bei Löwen und Giftspinnen empfiehlt sich die Praxis nicht) über den Kopf und bezeichnet es als "arm". Irgendwas in unserem Stammhirn muss so verdrahtet sein, dass wir mit dem Mitgeschöpf automatisch Mitleid bekommen und hinter der Kreatur ein Wesen vermuten, dass es auch nicht leicht hat.
Nicht so leicht ist die Lage tatsächlich für die Katzen auf dem Foto. Wobei sie das Gröbste hinter sich haben dürften. In Idlib, im Norden Syriens, kümmert sich ein Tierasyl um Katzen, die wegen Kriegshandlungen oder der jüngsten Erdbeben zu leiden hatten. "Ernesto’s Sanctuary" beherbergt etwa 2000 Katzen und – laut Eigenauskunft – in einer Zweigstelle auch noch Hunde, Pferde, Ziegen, Hühner, Esel, Gänse, Affen, Pfaue, Tauben und Enten.
"Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", lautet ein oft zitierter Satz des Dichters Friedrich Hölderlin. "Nah ist und schwer zu fassen der Gott", heißt es bei Hölderlin diesbezüglich auch. Ein bisschen leichter wird er eventuell zu fassen sein, wenn man daran denkt, dass es dort, wo es tierische Kriegs- und Erdbebenopfer gibt, auch immer Menschen gibt, die helfen. Den armen Vicherln
BILD DER WOCHE 12 | 2023
Auch das Leid ist ohne Namen

Von Bernd Melichar

Da war doch was. Ach ja, Afghanistan. In unserer Betroffenheits- und Wahrnehmungsskala, die ohnehin begrenzt ist, umso mehr wir uns informiert glauben, ist das malträtierte Land am Hindukusch wieder weit nach unten gerutscht. Der Krieg in der Ukraine ist uns näher, nicht nur geografisch.
Wie der "Drachenjunge" mit dem Mickey-Mouse-Pullover heißt, diese Information wurde mit dem Foto nicht mitgeliefert. Auch das ist bezeichnend für das namenlose Leid, das in Afghanistan wieder verstärkt herrscht, seit 2021 die US-Truppen abgezogen sind und das Land der Herrschaft und Willkür der radikal-islamistischen Taliban überlassen wurde. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben 97 Prozent der Bevölkerung in Armut, etwa 28 der 40 Millionen Einwohner sind beziehungsweise wären auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Frauen im Land sind de facto völlig entrechtet und verschwinden unter der Burka; Widerstand, sofern noch jemand die Kraft und den Mut dazu hat, wird mit Verfolgung, Folter oder Tod geahndet.
Der Drachenjunge, der seinem Fluggerät etwas skeptisch nachblickt, steht auf einem Hügel, im Hintergrund sehen wir Kabul. Spätestens seit dem Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini wissen wir, dass das Drachensteigen in Afghanistan Nationalsport ist, unbeschwertes Freizeitvergnügen für Kinder und Erwachsene und kurzzeitiger Eskapismus aus Elend, Angst, Not und Vernichtung. Ziel ist es nicht, wie bei uns, die fragilen Papierkonstrukte möglichst ruhig und lang dahinschweben zu lassen, sondern durch geschicktes Manövrieren des eigenen Drachens die Schnur des Gegners zu durchtrennen und seine Konstruktion zum Absturz zu bringen.
In der absurden, pervertierten Logik der Taliban war auch das Drachensteigen in Afghanistan zwischendurch verboten, weil es nicht gottesgefällig sei. Jetzt ist es großzügigerweise wieder erlaubt. Frauen sind natürlich ausgeschlossen. Da war doch was?
BILD DER WOCHE 11 | 2023
Emotionale Urgewalt, Jahr für Jahr

Von Bernd Melichar

Dieses Foto verleitet naturgemäß zu pseudo-poetischen Höhenflügen. Von wegen: Die Steine, Synonym für Härte, Unnachgiebigkeit und einen Stoizismus der brutalen Art, werden umgeben, ja regelrecht umzingelt von einer (friedlichen) Heerschar unzähliger Krokusse; von lieblichen Blumen also, dem Symbol für Schönheit, Zartheit und Liebe natürlich.
Man könnte die Symbolik aber auch umdrehen, Steine als Zeichen der Beständigkeit sehen – und Blumen als solches der Vergänglichkeit. Es kommt – im Großen wie im Kleinen – immer auf den Blickwinkel an, den Standpunkt. Frühlingsbeginn. 20. März, also. Jetzt sprießen sie wieder üppig, die Worte der wahren Dichter. Mörike lässt sein blaues Band durch die Lüfte flattern, Rilkes Sonne schreibt sich hoffnungsvoll mit großen Lettern ins junge Gras, Lenau hört gar die Wälder in tiefer Lust stöhnen, und er darf natürlich nicht fehlen, Hesse: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben."
Dass wir alle unverhofft in Situationen geraten können, in denen wir Schutzbedürftige sind, die "Lebenshilfe" brauchen, zumindest das haben wir in den vergangenen Jahren gelernt – wenn wir denn etwas gelernt haben aus dem polyphonen Krisen- und Katastrophenstakkato. Frühling also. Unsere Welt und wir Mieter darauf sind längst digitalisiert, virtualisiert, verappt, verchatbotet, vernetzt mit allem und jedem, aber kaum noch geerdet – weder mit uns selbst noch mit der Natur. Doch im Frühling passiert etwas Sonderbares und Wunderbares mit uns. Wir atmen erleichtert auf und tief durch, schöpfen Zuversicht, "liken" wieder das echte Leben und vielleicht sogar unsere Mitmenschen und warten mit nahezu mystischer Erregung auf jenen Moment, in dem das erste Blümchen sein zartes Köpfchen durch den Winterboden streckt. "Endlich!", jubelt dann der verzauberte Mensch. "Endlich ist er da, der Frühling." Diese emotionale Urgewalt ist Jahr für Jahr herzzerreißend – zum Steinerweichen gleichsam.
BILD DER WOCHE 10 | 2023
Buntes Fest der Entgrenzung

Von Martin Gasser

Im Westen kennt man es seit ein paar Jahren in einer Kommerz-Variante, in Indien ist Holi – sozial betrachtet – in etwa Ostern, Weihnachten und Neujahr zusammen. Bei diesem hinduistischen Fest gedenkt man neben vielen anderen Dingen der Liebe zwischen den Göttern Krishna und Radha sowie der Vernichtung der Dämonin Holika. Es ist ein Frühlingsfest der sinnlichen Liebe, Läuterung, Vergebung und des Neubeginns, das zum verwichenen Vollmond wieder mehrere Tage lang den Farbrausch Indiens auf die Spitze getrieben hat. Schon vor Jahrhunderten, ja vielleicht Jahrtausenden sind die Leute mit Spritzen, gefüllt mit gefärbtem Wasser, aufeinander losgegangen. Früher sollen Heilkräuter für die Färbung gesorgt haben, was also nichts anderes bedeutet, als dass man sein Gegenüber mit Arznei angespritzt hat.
Das bunte Spektakel wurde auch im Dorf Baldeo im Bundesstaat Uttar Pradesh gefeiert. Die 3558 Jahre alte Tempelanlage dort zählt zu einem der Zentren des Kults rund um Holi. Das Foto zeigt eine im blutorangenem Wasser watende Menge, die sich gegenseitig immer neue Farbschichten auflegt: wie in einem surrealen Technicolor-Traum, vermutlich befeuert von Bhang, einem Hanfgetränk, nach dessen Konsum Sie in keine europäische Polizeikontrolle kommen möchten. Wasser und Farbe werden zum Klebstoff der Gesellschaft, zu etwas, was Leute zusammenbringt und im positiven Sinn gemeinmacht. Angeblich zählt zu Holi keine Kaste, es ist eine zeitweilige Entgrenzung in einem Land, das von gesellschaftlichen Grenzen sonst schlechterdings besessen ist.
BILD DER WOCHE 9 | 2023
Bedrohter König des Himalaja

Von Thomas Golser

Die Welt gehört mir", heißt diese Aufnahme, die nun bei den "World Nature Photography Awards" in der Kategorie "Tiere in ihrem Habitat" gewann. Fotografiert wurde der majestätische Schneeleopard von Sascha Fonseca im Himalaja-Gebiet in der nordindischen Region Ladakh. Bilder der überaus scheuen Großkatze im angestammten Revier – dem zentralasiatischen Hochgebirge – sind fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zu selten ist "Panthera uncia" geworden: Schätzungen gehen mittlerweile von 4000 bis 6600 noch wild lebenden Exemplaren aus, die sich auf eine riesige Fläche von 1,8 Millionen Quadratkilometern verteilen. Die illegale, aber äußerst lukrative Pelzjagd hat die Bestände dieser Raubkatze erheblich dezimiert. In China werden ihre Knochen gar zu Medizin verarbeitet. Die Anmut der Schneeleoparden, die zu den am stärksten bedrohten Großkatzen der Erde gehören, ist atemberaubend. So massig ihr Körper auf den ersten Blick wirkt, so unglaublich beweglich ist die Großkatze in all ihrer Grandezza. Tiere wie dieses zeigen, in welcher Perfektion die Natur ihre Kreaturen entwirft und wie achtlos Mensch, selbst nur ein Mitreisender auf dem Planeten, mit ihnen umgeht. "CITES", das Artenschutz-Übereinkommen, wurde gerade 50 Jahre alt. Die Bilanz ist düster: In den Anhängen des Abkommens sind inzwischen 40.000 Tier- und Pflanzenarten gelistet, Tendenz stark steigend. Der gefährdete Schneeleopard ist sogar auf bis zu 6000 Metern Höhe vor Menschen nicht sicher. Er ist übrigens die einzige Großkatze, die nie brüllt, obgleich ihm mitunter wohl danach zumute wäre – seine Kehlkopfanatomie lässt es nicht zu. "Naturwerke sind wie ein erstausgesprochenes Wort Gottes", wusste Goethe.
BILD DER WOCHE 8 | 2023
Von der Leuchtkraft der Kunst

Von Susanne Rakowitz

Es ist nicht falsch, hier von Starkult zu sprechen. Eine Menschentraube, deren Blick auf eine Person gerichtet ist, Fotografen, Smartphones, die aufgeregte Stimmung, sie ist spürbar. Innerhalb von nur drei Tagen wurden alle 450.000 Karten für die große Vermeer-Ausstellung im Amsterdamer Rijksmuseum verkauft. Nun bemüht man sich um eine Verlängerung. Blockbusterausstellungen und Superlative, sie gehören zusammen wie Pinsel und Leinwand. Nicht selten wird darüber die Nase gerümpft: Menschenmassen, die sich in Time-Slots gepresst durch Museen schieben. Wo bleibt da der Kunstgenuss? Vielleicht sollte man von dieser oberflächlichen Betrachtung Abstand nehmen, es ist wohl komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint – wie die Kunst Jan Vermeers (1632–1675) übrigens auch, der es geschafft hat, scheinbare Alltagsszenen geradezu magisch aufzuladen. "Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge", entstanden um 1665, ist eines seiner bekanntesten Werke. Und es wirkt wie ein Brennglas in die Vergangenheit, um das Hier und Jetzt klarer zu sehen: Es geht hier nicht nur um ein Gemälde von Weltformat, sondern um ein Original. Eine seltene Währung in einer Welt, die sich zunehmend in ihren digitalen und von Bildern gefluteten Universen verliert und das massenhafte Vervielfältigen zum Tagwerk zählt. Dort, wo unsere Wahrnehmung von Bildern oft nicht mehr ist als ein schnelles Sondieren. Blick, Klick, weg. Und dann steht man vor einem Gemälde wie diesem, das über 350 Jahre alt ist. Die Frau darauf ist unbekannt, aber durch Jan Vermeer wurde sie unsterblich. Magie ist das keine, sondern nur die hohe Kunst der Kunst.
BILD DER WOCHE 6 | 2023
Sogar der Opernball geht sich noch aus

Von Martin Gasser

Es ist eine alte Frage: Wie viel Leben passt in eine Lebensspanne? Jane Fonda hat in ihren bisherigen 85 Jahren mehr Leben untergebracht als andere. Sie stammt aus dem schauspielerischen Hochadel Hollywoods. Die Tochter der Kino-Ikone Henry Fonda startet in den 1960ern eine Karriere in der Glamourwelt Kaliforniens. Der komische Western „Cat Ballou“ macht sie zum Star, an der Seite von Robert Redford spaziert sie „Barfuß im Park“, und spätestens nach "Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss" nimmt man sie als ernsthafte Künstlerin wahr. Dabei war sie zugleich Sexsymbol, das sich als "Barbarella" in einem poppigen Plüschweltraum rekelte. Doch mit ihrer Berühmtheit steigert Jane Fonda auch ihr politisches Bewusstsein. Sie wird zur Linken, die gegen den Vietnamkrieg protestiert und in Hanoi vor einer Flak posiert. Als sie 1972 den Oscar für den Thriller "Klute" entgegennimmt, trägt sie aus Protest einen Hosenanzug mit Mao-Kragen. Ihren zweiten Oscar 1979 nutzt sie, um auf die Benachteiligung von Gehörlosen hinzuweisen. Ihr Engagement bekommt ihrer Filmkarriere nicht. Fonda wird Aktivistin gegen Kernenergie und Protagonistin der Fitness-Welle, die Millionen von Aerobic-Videos verkauft. Die Vorturnerin der Nation ehelicht den Medien-Mogul Ted Turner, den Gründer des Nachrichtenkanals CNN – ihre dritte Ehe nach jenen mit Regisseur Roger Vadim und dem linken Aktivisten Tom Hayden, einem der legendären "Chicago Seven". Fondas Karriere nimmt spät nochmals Fahrt auf: 2015 bekommt sie eine Hauptrolle in "Grace and Frankie", das zur längstlaufenden Sitcom auf Netflix wird. Und sie lässt sich von viel jüngeren Menschen wie Greta Thunberg nicht ärgern, sondern inspirieren. Fonda wird Klimaaktivistin, die sich PR-wirksam mehrfach verhaften lässt (siehe Foto von 2019). 85 Jahre pralles Leben. Sogar ein Job bei Richard Lugner und ein Besuch beim Wiener Opernball am Donnerstag gehen sich da noch aus. Locker.
BILD DER WOCHE 5 | 2023
Der erste Stich und was von ihm blieb

Von Bernd Melichar

Ja, Christoph Wenisch kann sich noch genau an das Datum erinnern: Am 27. Dezember 2020 war es, als der Primararzt der Klinik Favoriten in Wien als einer der ersten Österreicher die Coronaimpfung erhielt. Das ikonische Foto davon schaffte es sogar auf die Titelseite der "New York Times". Das kommentiert der 54-Jährige heute gelassen. "Alle waren narrisch damals, aber für mich war der Stich das schönste Weihnachtsgeschenk." Mit welchen Gefühlen blickt der Facharzt für Infektiologie auf die letzten beiden Jahre zurück, wie fällt seine persönliche Bilanz aus? "Ich habe eine ergreifende Erinnerung an die Anfangszeit der Pandemie", sagt Wenisch, der für langen Atem, Vernunft, Teamgeist und viel Humor bekannt und beliebt ist. "In dieser Anfangszeit herrschte das Gefühl, dass alle Menschen gleich sind – auch in ihrer Verwundbarkeit. Es war trotz der Katastrophe, die auch in meinem Arbeitsumfeld hereinbrach, ein Gemeinschaftssinn im Land spürbar, den ich so noch nie erlebt habe."
Dieses Gefühl sei leider "rasch zerbröselt", so Wenisch, der einräumt, dass es in vielen Bereichen – Politik, Gesundheitswesen, Medien – zum Kommunikationskollaps gekommen sei. Salopp sagt er: "Das war schon alles sehr zach." Von der Wirkung der Impfung ist er nach wie vor fest überzeugt. "Sie ist das beste Mittel, um schwere Krankheitsverläufe zu verhindern." Er selbst ist fünfmal geimpft. "Und ausgerechnet nach dem letzten Stich hat mich Corona erwischt, aber nach zwei Tagen war es wieder vorbei."
Und was wünscht sich Wenisch für die Zukunft? "Dass wir mehr an der Eigen-, aber auch Fremdverantwortung bezüglich unserer Gesundheit arbeiten. Dadurch werden wir zufriedener, widerstandsfähiger und können besser mit Krisen umgehen." Klingt nach einem gesunden Kreislauf.
BILD DER WOCHE 4 | 2023
Ein Schritt bis zur Ewigkeit

Von Martin Gasser

Vor einigen Jahrzehnten kurvte ein ruhiger, fast schüchtern wirkender Schwede um die Torstangen wie kein Zweiter. Allein sein Name trieb der Konkurrenz den Angstschweiß auf die Stirn. Stenmark. Unschlagbar in Slalom und Riesentorlauf. Ein Skifahrer, der die Konkurrenz deklassierte. Stenmark. Seine 46 Siege im Riesentorlauf und 40 Siege im Slalom setzten eine Marke für die Ewigkeit. So schien es. Aber die Ewigkeit dauert in diesem Fall 34 Jahre. Die Frau auf dem Bild hat heute die Chance, Ingemar Stenmarks Rekord von 86 Siegen im Ski-Weltcup einzustellen. Selbst wenn es nicht gelingt: Wenn Mikaela Shiffrin aus Vail, Colorado, gesund bleibt, besteht kein Zweifel daran, dass sie den kühlen Schweden demnächst überflügeln wird. Der 27-jährigen Topathletin Kränze zu winden, wird fast schon langweilig. Shiffrin gibt auch abseits der Piste genug Anlass zur Bewunderung. In dieser Woche sprach sie offen darüber, dass ihr Monatszyklus sie gerade beeinträchtige. Der ORF-Kommentator übersetzte den "monthly cylce" in "ich fahre jeden Monat Rad". Shiffrins fantastische Reaktion: Sie postete ein Video von sich auf einem Hometrainer und schrieb: "Um es klarzustellen. Es ist meine Periode. Wir sprechen über meine Periode."
Über die Menstruation zu sprechen, ist noch immer eine Art Tabu, ein von falscher Scham erfülltes Thema. Es wird langsam besser: In einem Werbespot zu Monatsbinden wird aktuell eine rot und nicht blau gefärbte Flüssigkeit zu Demo-Zwecken eingesetzt. Und das American Girl Mikaela Shiffrin spricht über ihren Zyklus, hat obendrein so viel Humor, auch noch Witze darüber zu reißen.
Die Amerikanerin erstaunt uns Woche für Woche, diesmal auch mit ihrer nicht selbstverständlichen Normalität. Der sympathischen, enorm fairen Sportlerin werden mehr als 100 Weltcupsiege prophezeit. Man wird diesen Namen noch lange voller Achtung aussprechen. Shiffrin. Nicht nur ihres genialen Skifahrens und ihrer Erfolge wegen.
BILD DER WOCHE 3 | 2023
Polarisierung, Polizei und Polkappen

Von Bernd Melichar

Sie wird vergöttert oder verdammt, ist Heilige oder Heuchlerin, Warnerin oder Wüterin, und während die Polkappen schmelzen, geht die hysterisch aufgeladene Polarisierung weiter. Eine emotionsneutrale Annäherung an Greta Thunberg, weltweite Ikone des Klimaaktivismus, ist kaum möglich. Auch der (Gast-)Auftritt der 20 Jahre alten Schwedin bei Demonstrationen im deutschen Braunkohledorf Lützerath Anfang der Woche geriet zur aufgeregten Schlammschlacht. Wie andere Teilnehmer auch, war Thunberg von Polizeikräften kurzfristig in Gewahrsam genommen worden, um die Personalien aufzunehmen. Fotos der Aktion gingen naturgemäß um die Welt. Und weil auf einem Video zu sehen ist, wie Thunberg vor dem "Abtransport" entspannt mit Polizisten plaudert und auf einigen Aufnahmen sogar schelmisch lächelt, tauchte sofort der Verdacht der Inszenierung auf. Faktenchecks einiger Medien und Aussagen der Polizei förderten jedoch zutage, dass die Vorwürfe haltlos sind.
Wenngleich: Natürlich ist Greta Thunberg ein Marketing-Genie und ihr Erscheinen stets kunstvoll in Szene gesetzt. Aber das sind die Auftritte von Politikern und Popstars auch – und Thunberg ist eine Kombination aus beidem. Der apokalyptische Alarmismus von Klimaaktivistinnen und -aktivisten mag so manche verstören oder sogar im Handeln hemmen, weil ohnehin alles zu spät ist und deshalb egal. Aber die Szenarien von Thunberg und Co sind keine hochgejazzten Meinungsäußerungen, sondern beruhen auf wissenschaftlichen Fakten. Zu befürchten ist aber, dass beides ungehemmt weitergeht: die Polarisierung und das Schmelzen der Polkappen.
BILD DER WOCHE 2 | 2023
Blumig-böse Welt der Erwachsenen

Von Julian Melichar

Wer entscheidet, wann die Adoleszenz endet? Wer, wann man alt ist; womöglich sogar reif, integer, ernst zu nehmend? Alt ist man nicht, niemals. Alt wird man. Weil Zeit erst im Rückblick Sinn ergibt. Aber auch, weil man sich zum Altern entscheiden muss. Und dazu gemacht wird, auch wenn man entschieden dagegen ist. Wie etwa in Japan, wo dieses Bild entstanden ist. Jährlich werden dort am zweiten Jänner-Montag junge Menschen gefeiert, die ihre Volljährigkeit erreicht haben. "Seijin no Hi" heißt der Ehrentag. In üppigen Zeremonien wird den Jungen von Älteren eingebläut, was sich schickt und worauf es im Leben ankommt. Seit Kurzem ist das Alter sprichwörtlich relativ in Japan. Die Volljährigkeit wurde auf 18 gesenkt. Auf einen Schlag wurden Millionen "erwachsen", dürfen Kredite aufnehmen, das Mindestalter für Alkohol bleibt 20. Aber in jenem Land, das den Eintritt ins Erwachsenenreich wie kaum ein anderes zelebriert, wollen die wenigsten aus der Adoleszenz treten. Zu verstörend der Anblick von erschöpften Geschäftsmännern, die in U-Bahn-Stationen übernachten, zu hoch der Erwartungsdruck der Eltern.
Japan ist anders. Hier werden Junge zum Alkoholtrinken ermutigt, weil der Konsum nachlässt und Steuereinnahmen fehlen. Auch haben Menschen hier deutlich weniger Sex. Das junge Eremitentum, die "Kultur der Scham", hat hier einen eigenen Begriff: Hikikomori. Rund 540.000 Japaner schließen sich jahrelang in ihren Zimmern ein. Das Leben mag bunt und blumig sein, wie die seidigen Kimonos der Frauen auf dem Bild – doch überfordert es oft. Auch das strahlt diese überfrachtete Aufnahme aus. Eine Frau lacht, die andere wirkt skeptisch. Die Dritte – in gold-schwarzem Gewand – spiegelt sich in der glatten Fassade. Sie erinnert an Caravaggios "Narziss"-Gemälde. Narziss erblickt sein Antlitz in der Wasserspiegelung und verliebt sich. Er geht am Versuch, seine Jugendlichkeit zu konservieren, zugrunde. Das Gemälde ist eine Warnung vor den vergeblichen Freuden der Jugend. Vielleicht resultiert die Unsicherheit junger Erwachsener aber auch aus der dringlichen Verantwortung, die sie ereilt. Vielleicht verängstigt die "Hinter mir die Sintflut"-Attitüde vieler Älterer. Die Jungen sollen es besser machen, aber gleichzeitig nichts verändern. Und dafür soll man erwachsen werden?
BILD DER WOCHE 1 | 2023
Erdenrund, du viel geprüfte Menschenbühne

Von Thomas Golser

Das ist es also, das Erdenrund, frisch gesehen und fotografiert von Südkoreas erster Mondsonde mit dem Spitznamen "Danuri" (offizieller Name: "Korea Pathfinder"): Schauplatz menschlicher Tragödien und Freuden, vermeintlicher Spielball einer Spezies, die dazu tendiert, sich über alle anderen zu stellen. Dass "Danuri" die Schwarz-Weiß-Bilder überhaupt aufnehmen konnte, ist eindrucksvoll für ein Land, das bislang nicht unbedingt mit Raumfahrt in Verbindung gebracht wurde. Fotografiert wurde aus einem Abstand von etwa 120 Kilometern zum Mond. Das südkoreanische Raumfahrt-Forschungsinstitut will die Erkenntnisse dieser Mission nutzen, um mögliche Landeplätze für eine Mondlandung im Jahr 2032 ausfindig zu machen. Das gestochen scharfe Bild ist schlicht, aber gerade deshalb in seiner Wirkung eindringlich: Im Vordergrund die lunare Ödnis mit ihrem Kratermeer, dahinter über dem Mondhorizont die Erde, deren Schönheit sogar auf einem monochromen Foto augenfällig ist. 2045 sollen schließlich erste koreanische Sonden auf dem Mars landen – die Jahrzehnte bis dahin dürften der Erde einiges abverlangen. Zwei Stunden braucht "Danuri“ für eine Mondumrundung, die eigentliche wissenschaftliche Arbeit der Sonde startet im Februar: Sie soll die Mondoberfläche kartografieren und analysieren, Magnet- und Gammastrahlung messen. "Die Menschen auf der Erde begreifen nicht, was sie besitzen. Vielleicht, weil nicht viele von ihnen die Gelegenheit haben, sie zu verlassen und dann zurückzukehren", sinnierte US-Astronaut James Lovell – nach seinen insgesamt 715 Stunden im All.