Das "heimlich" kann man sich längst ersparen, Graz ist die Literaturhauptstadt Österreichs. Basta. Wichtiger Dreh- und Angelpunkt – neben Forum Stadtpark und "manuskripte" – war und ist das Literaturhaus Graz, das im September 2023 sein 20-Jahr-Jubiläum begeht. Aus diesem Anlass stellen wir hier 20 Bücher vor, die zwischen 2003 und 2023 erschienen sind und alle von steirischen bzw. Grazer Autorinnen und Autoren stammen oder von Schreibenden, die hier eine neue Heimat gefunden haben. Der Bogen reicht von Barbara Frischmuth und Olga Flor über Alfred Kolleritsch, Gerhard Roth und Wolfgang Bauer bis Nava Ebrahimi und Valerie Fritsch. Konzipiert wurde die Sammlung von Kleine-Zeitung-Literaturchef Bernd Melichar in Zusammenarbeit mit dem Team des Grazer Literaturhauses unter der Leitung von Klaus Kastberger. Wir wünschen Ihnen "unheimlich" viel Lesevergnügen.

 1.

WILHELM HENGSTLER

Trügerische
Orchidee

"Eine griechische Novelle: über das Leben, das Kochen und die Kunst des Verschwindens". Das schreibt der Verlag über dieses Buch – und das stimmt auch. Zunächst. Doch was es mit diesem "Verschwinden" auf sich hat und vor allem wie es vonstattengeht, das mündet von einem anfänglich recht harmlos anmutenden Leseerlebnis in eine tiefe Verstörung. Wilhelm Hengstler erzählt die Geschichte von Iannis, der auf einer kleinen griechischen Insel aufwächst und sich zu einem genialen, international hofierten Koch entwickelt. Mehr darf an dieser Stelle zum Fortgang der Geschichte nicht verraten werden. Nur so viel: Autor Wilhelm Hengstler selbst kann die Irritation verstehen: "Dieses Buch ist tatsächlich unfassbar, und die Verstörung wundert mich nicht. Dieses Werk lockt wie eine schöne Orchidee, entpuppt sich aber als fleischfressende Pflanze." Wilhelm Hengstler gehört zum Urgestein der Grazer Literaturszene. Neben dem Schreiben ist er auch Regisseur, der u. a. den Film „Fegefeuer“ nach dem Roman von Jack Unterweger drehte. Beinahe zum Mythos wurde sein Opus Magnum "Zulm"; ein Roman, an dem Hengstler bereits seit vielen Jahren arbeitet. "Aber die Chancen stehen gut, dass ich im nächsten Jahr, zu meinem 80. Geburtstag, daraus vorlesen werde."
Bernd Melichar

 2.

BARBARA FRISCHMUTH

Die Stimme der Verständigung

Die Beschäftigung mit dem Orient, speziell mit der Türkei, ist eine Konstante im Werk von Barbara Frischmuth. Geboren 1941 in Altaussee, studierte sie Türkisch und Englisch in Graz und erhielt als erste Europäerin ein Stipendium an der anatolischen Universität Erzurum. Studien der Turkologie, Iranistik und Islamkunde folgten. 1962 wurde Frischmuth Mitglied der "Grazer Gruppe", 1968 debütierte sie mit dem Roman "Die Klosterschule".

Im 2004 erschienenen Roman „Der Sommer, in dem Anna verschwunden war“ leuchtet Frischmuth in die Untiefen einer in Österreich ansässigen deutsch-türkischen Familie hinein, aus der plötzlich die Mutter verschwindet. Es geht um den Konflikt zwischen den Kulturen, Geschlechtern und Generationen, den Frischmuth in einem vielstimmigen Tableau beschreibt.

Literaturhaus-Chef Klaus Kastberger: "Barbara Frischmuth ist ein Glücksfall. Für die steirische Avantgarde, deren einzige weibliche Vertreterin sie lange Zeit war. Für ein breites und begeistertes Publikum, dem sie die Inhalte ihres Schreibens auch in avancierteren Formen klargemacht hat. Und für Politik und Gesellschaft dieses Landes, in dem sie als eine unbestechliche Stimme der Vernunft und der interkulturellen Verständigung wirkt."
Bernd Melichar

 3.

OLGA FLOR

Sie seziert die Krisen der Zeit

Aus heutiger Sicht und mit den kollektiven Quarantäneerfahrungen in der Coronazeit wirkt Olga Flors Roman "Talschluss" geradezu visionär. Weit relevanter ist freilich die Feinheit, mit der die Autorin ihre Erzählerin einsetzt, und wie sie, in jeder Zeile sprachliches Vergnügen bereitend, den Kosmos einer Familienkonstellation ergründet.

Die Hermetik des Erzählten findet in der Breite der erzählerischen Qualität ein mächtiges Gegenüber: Flor siedelt ihre Geschichte am Ende der sichtbaren Welt an, wo nur Zäune und Ängste die Freiheit verstellen. Mit analytischer Art benennt sie die eingeübten Unarten auf den Beziehungsebenen einer Familie, die sich just hier im letzten Tal einfindet, um Gretes 60. Geburtstag zu feiern. Als eine Viehseuche auftritt, gibt es aus dieser geografischen Sackgasse kein Entrinnen mehr. Mit einem Mal lässt sich die Disbalance in der Welt endgültig nicht mehr kaschieren, und das Familienfest wird zur Kollektivhaft.

Seit "Talschluss" schrieb die gebürtige Wienerin fünf weitere Romane, dazu eine Abrechnung mit einer Politik auf dem populistischen Irrweg. Neben dem Nabl-Preis (2019) erhielt sie u. a. den von der Stadt Wien vergebenen Veza-Canetti-Preis (2014).
Daniel Hadler

 4.

THOMAS GLAVINIC

Beklemmung in Dauerschleife

Man würde es ihm von Herzen wünschen, dass ihm Netflix & Co einen Batzen Geld für die Serienumsetzung auf den Tisch knallen. 2006 hat Thomas Glavinic die Dystopie "Die Arbeit der Nacht" auf den Markt geworfen, und die Kritiker jubelten. Wer sich auf das Leseabenteuer einließ, der kippte in eine Welt, die einen ganzen Schwall an Gefühlen aus einem hervorstierlte: Zunächst die gedankliche Euphorie, plötzlich wie der Protagonist Jonas in einer Welt aufzuwachen, in der man völlig allein ist. Tun und lassen, was man will! Schon bald verschwand die Lust, und es packte einen, wie Jonas auch, die Angst, die bald in nackte Angst umschlug. Wäre man selbst für das völlige Alleinsein gewappnet, oder würde einem die Angst schon bald in den Knochen stecken?

Der Grazer Autor wirft Jonas in diese Dystopie wie eine Laborratte und schaut ihm genüsslich beim angewandten Menschsein zu. Ein Stoff, der nie alt wird, im Gegenteil, er ist ein Stück weit sogar realer geworden.

Der 51-jährige Glavinic selbst hadert bekanntlich in Wellenbewegungen mit seinen inneren Dämonen. Im April wurde seine Zahlungsunfähigkeit gemeldet. Seinem Können kann das nichts anhaben, perfekte Wellen kommen immer wieder.
Susanne Rakowitz

 5.

KLAUS HOFFER

Ein rätselhafter Meilenstein

Was den Umfang anbelangt, hat Klaus Hoffer bislang ein schmales Œuvre vorgelegt, aber was die literarische Bedeutung und Einzigartigkeit betrifft, ist der Grazer Schriftsteller ein wahres Schwergewicht. Und aus seinem Werk ragt besonders ein Roman wie ein Solitär hervor. "Halbwegs. Bei den Bieresch I" erschien 1979 - der Folgeband ("Der große Potlatsch") 1983. Die Romane sorgten sofort für Furore und wurden von Schriftstellerkollegen wie Peter Handke, Urs Widmer oder Wolfgang Hildesheimer hymnisch rezensiert. Hoffer, geboren 1942, erhielt dafür den renommierten Alfred-Döblin-Preis und den Rauriser Literaturpreis.

Im ersten Bieresch-Roman wird der Städter Hans ins burgenländische Dorf Zick gerufen, um dort, wie es Brauch ist, die Rolle seines verstorbenen Onkels einzunehmen. "Unsere Geschichte ist der Knoten, der sich knüpft, wenn man ihn löst", heißt es an einer Stelle dieses bis heute faszinierenden und enigmatischen Buches, das Clemens Setz als "unser Moby Dick" bezeichnet hat. Klaus Hoffer, von Beginn an Mitglied der "Grazer Gruppe", ist auch Übersetzer, der Werke von Kurt Vonnegut, Raymond Carver, Nadine Gordimer und anderen kongenial ins Deutsche übertragen hat.
Bernd Melichar

 6.

WERNER SCHWAB

Der Hendrix
von Graz

Werner Schwabs Texte wirken wie durch den Fleischwolf gedreht. Der 1958 in Graz geborene Schwab, der zu Beginn der 90er binnen kürzester Zeit zum Kulturautor avanciert, zersetzt die Sprache. Er wirkt wie ein Enkel jener Nachkriegsliteratur, die nach der Erfahrung des Nationalsozialismus von einer tiefen Skepsis gegenüber der Sprache geprägt war. Schwabs Material ist dagegen der Jargon seiner Gegenwart. Eine Gegenwart, in der der Sozialstaat auf seinem Höhepunkt anzukommen schien, in dem es allen gut gehen sollte. Die Beschädigungen des Wohlstands, die Verzweiflung der Abgehängten und der Randgruppen werden in Werner Schwabs Sprache greifbar.

2008, 14 Jahre nach Schwabs Tod, erscheint "Abfall, Bergland, Cäsar" als zweiter Teil einer Werkausgabe. Der Text von 1992, im Untertitel "eine Menschensammlung", ist ein Prosakonglomerat und typisch Schwab: böse, gallig, giftig, brutal. Aber Schwab ist in Wahrheit natürlich überhaupt kein Zerstörer. So wie Jimi Hendrix mit seiner Gitarre einst alte Formen zerlegte, um daraus etwas Neues zu kreieren, so schöpft Schwab aus dem Idiom seiner Zeit eine neue Form, die ihre eigene Beschädigtheit vor sich herträgt und dennoch in glanzvoller Herrlichkeit dasteht.
Martin Gasser

 7.

ANDREAS UNTERWEGER

Der Zauber des Anfangs

Der siebente Himmel, fällt einem spontan ein. Gemeint ist aber auch der siebente Bezirk in Wien, in dem Judith und Andreas wohnen und fest daran glauben, dass das Leben ein Glücksfall ist oder besser: sein kann. Klingt jetzt kompliziert, ist aber ein raffiniert-ungestümes Vexierspiel: "Wie im Siebenten", der Debütroman des Grazer Schriftstellers Andreas Unterweger, handelt davon, wie dieser Andreas seinen Debütroman darüber schreibt, wie er an seinem Debütroman arbeitet. Im Roman selbst scheitert das Projekt an der Fallhöhe zwischen Ideal und Wirklichkeit, in Wirklichkeit aber hat dieser Erstling durchgehend gute Kritiken erhalten.

Heute blickt Unterweger so auf sein Debüt zurück. "Kleinere technische Mängel fallen einem zwar auf im Nachhinein, aber es überwiegen der Zauber und die Magie, die dem ersten Roman innewohnen. Man legt alles hinein in so ein Werk – und noch viel mehr." Seit dem Tod von Literatur-Doyen Alfred Kolleritsch im Jahr 2020 ist Andreas Unterweger auch alleiniger Herausgeber der Zeitschrift "manuskripte". Ein schwieriges Erbe, das er mit empathischem Pragmatismus und unaufgeregter Umsicht nicht nur verwaltet, sondern sanft und sicher in die Zukunft führt.
Bernd Melichar

 8.

GÜNTER BRUS

Die Berliner Luft, Luft, Luft

"Die vielen Sekunden, welche man empfunden hat, entschlafen im Gehirn, dem Zentrum des Herzens, für immer." Zum Glück ist es nicht ganz so, wie Günter Brus in "Das gute alte West-Berlin" es beschreibt. Er erinnert sich noch recht gut an sein Exil. 1969 flüchtete der Aktionskünstler mit Familie vor der österreichischen Justiz nach Berlin. Vor vier Monaten Haft (wegen Herabwürdigung österreichischer Staatssymbole) unter verschärften Bedingungen. Natürlich ist das Buch anekdotisch, aber Brus beschreibt die Künstler-Bohème Westberlins mit viel Witz, der Sound seiner Prosa ist ebenso einnehmend wie der Umstand, dass er jene Zeiten zwischen Existenzminimum und Alkoholmissbrauch nicht über Gebühr romantisiert. Natürlich schildert er die Eskapaden mit einigem Genuss: „Entweder wird einem anarchistisches Verhalten in die Wiege gelegt, oder man muss es im Laufe des Erwachsenwerdens erobern.“

Der Band gefällt nicht nur als Ansammlung von Genre-Bildern, es ist zugleich Zeitdokument und alternatives Stadtporträt: West-Berlin beschreibt Brus liebevoll als Ort der Freiheit, für den Osten und seine kleinbürgerliche Diktatur hat er dagegen nichts als Verachtung übrig.
Martin Gasser

 9.

GERHARD ROTH

Der Tod, nicht nur nehmend

Mit seinen beiden großen Zyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus", an denen er 32 Jahre lang gearbeitet hatte, nahm der im Vorjahr verstorbene Schriftsteller Gerhard Roth monumentale, akribische, zuweilen manische Land-, Zeiten- und Menschenvermessungen vor. Der Band "Orkus", Reisen zu den Toten, ist der Schlussstein dieses einzigartigen Werkes, in dem das Leben des Autors mit dem Dasein seiner Figuren auf faszinierende Weise verschmilzt. Das Buch spannt noch einmal einen weiten Bogen über diese Schriftstellerexistenz, die geprägt war von der immerwährenden Suche des Menschen nach dem Paradies und der Erkenntnis, dass die Hölle auf Erden zu finden ist. Leben war für Gerhard Roth schreiben. Schreiben war für ihn leben. Der Tod, dem er bis zum letzten Atemzug schreibend entgegensah, hat seinen Stachel verloren. Dem Buch ist ein Zitat von Arthur Schopenhauer vorangestellt. Der Orkus sei "also nicht nur der Nehmende, sondern auch der Gebende, und der Tod das große Reservoir des Lebens ... aus dem Orkus kommt alles, und dort ist schon jedes gewesen, das jetzt Leben hat." Im nächsten Jahr erscheint übrigens Gerhard Roths letztes Buch, das Fragment bleiben musste. Es trägt den Titel "Jenseitsreise".
Bernd Melichar

10.

CORDULA SIMON

"Auferstehung" in Odessa

Ein Mann, Anatol, irrt in Odessa durch die Gegend – einem Hund hinterher. Der Mann ist schmutzig und stinkt. Kein Wunder: Er ist erst kurz zuvor aus seinem Grab gestiegen, wieder zum Leben erweckt durch seine Nachbarin Irina, die unsterblich in Anatol verliebt ist. Dummerweise weiß sie nicht, dass ihre Wiederbelebungsversuche erfolgreich waren – und irrt ihrerseits durch die Welt.

Das ist ansatzweise die Handlung von Cordula Simons Debütroman "Der potemkinsche Hund", für den die steirische Schriftstellerin mit vielen guten Kritiken und sehr wohlwollenden Vergleichen bedacht wurde. So wurde ihre fantastisch-absurde Erzählweise sogar mit den Werken von Michail Bulgakow in Verbindung gebracht. "Mit manchen Dingen bin ich auch aus heutiger Sicht zufrieden", sagt Simon über ihr Debüt. "Mein Lektorat hätte vielleicht etwas strenger sein sollen mit mir."

Geografisch und emotional bleibt Cordula Simon, die vier Jahre in Odessa gelebt hat, der Ukraine auch in ihrem aktuellen Roman "Die Wölfe von Pripyat" treu. Die grandiose literarische Dystopie wurde leider von der Wirklichkeit eingeholt. "Ich wünsche mir, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Alles andere mag ich mir nicht vorstellen."
Bernd Melichar

11.

ALFRED KOLLERITSCH

Die Worte wollen zu den Gedichten

Ohne ihn wäre Graz wohl nicht das, was es heute ist: Österreichs Literaturhauptstadt. Alfred Kolleritsch (1931–2020) war der große Ermöglicher und Förderer; einer, der lieber anderen die literarische Bühne gab als sich selbst. Die von ihm 1960 gegründete Literaturzeitschrift "manuskripte" war für unzählige Autorinnen und Autoren das Sprungbrett zu einer großen Karriere. Die literarische Karriere von Kolleritsch selbst rückte dabei – unverdientermaßen – in den Hintergrund. Neben drei Romanen ("Der Pfirsichtöter", "Die grüne Seite", "Allemann") veröffentlichte Kolleritsch vor allem Lyrikbände.

"Es gibt den ungeheuren Anderen" (2013) ist der Titel einer Veröffentlichung mit oft düsteren Gedichten, die aber auch Hoffnung, Energie und Neugier auf die Welt und das Wort in sich tragen. Peter Handke, ein lebenslanger Freund, weist in seiner Einleitung darauf hin, dass diese Gedichte nach schwerer Krankheit von Kolleritsch entstanden seien; das sei vielleicht der Grund, warum öfter Engel auftauchen würden. Jene der Todesangst ebenso wie jene des Trostes. Und was immerdar der größte Trost für einen Dichter ist, hat Kolleritsch selbst niedergeschrieben: "Worte gehen an den Gedanken vorbei,/sie wollen fort/zu den Gedichten."
Bernd Melichar

12.

ANGELIKA REITZER

Tief reichen die Wurzeln

Verwurzelt, dort, wo die Bäume wachsen. Wo sie unterrichtet werden, indem sie zusammenwachsen, gepfropft durch die kundige Hand. Bis diese Bäume verkauft und weggebracht werden. Nur Marianne bleibt in der Baumschule und damit in einem Zuhause, das nie ganz ihres ist. Gespiegelt wird Mariannes Dasein in Angelika Reitzers 2014 erschienenem Roman "Wir Erben" von Siri, einer aus der DDR geflüchteten, geografisch unsteten Freundin. Gemeinsam bilden sie zwei Seiten einer Medaille, die man, unzureichend vereinfachend, Heimat nennen könnte. "Wir Erben" sei bis heute ihr komplexester Roman gewesen, erinnert sich Reitzer. Thematisch trifft er ein Lebensthema: jenes vom Halten und Festhalten, von der Unordnung im Sein und, mehr noch, im Werden. "Indem ich aus einer der beiden Hauptfiguren eine Baumschulbesitzerin gemacht habe, hatte ich die Gelegenheit, mich mit einem Teil meinen eigenen Wurzeln auf einer fachlichen Ebene auseinanderzusetzen", erklärt die Autorin und Filmemacherin, die 2014 den Literaturpreis des Landes Steiermark erhielt. "Sich selber umzutopfen" führe zu Fragen, die sie auch aktuell umtreiben, sagt Reitzer: "Gibt es ein vollständiges Leben, das niemanden nirgends zurücklässt?"
Daniel Hadler

13.

WOLFGANG BAUER

Das verschollene Rüssel-Stück

Wolfgang Bauer (1941-2005) gehört(e) zur Literaturhauptstadt Graz wie der Uhrturm und die Haring Weinstube. Nicht nur seine Werke, sondern auch er selbst: der Mensch, die Erscheinung, der Leitwolf der frühen Jahre; als die Worte an der Mur laufen lernten. Und brüllen! Mit längst ikonischen Stücken wie "Magic Afternoon" (1968) und "Change" (1969) zwickte Bauer die Stadt aus dem Dornröschenschlaf. Doch schon zu Beginn der 60er-Jahre war Bauer äußerst produktiv und schärfte sein Wortmesser an Stücken, die in der Tradition des absurden Theaters standen. Von Mythen umrankt ist das 1962 entstandene Stück "Der Rüssel". Es war jahrzehntelang verschollen, war Gegenstand einer abenteuerlichen Schnitzeljagd und wurde erst 2018 am Wiener Akademietheater posthum uraufgeführt. Der Literaturwissenschaftler Thomas Antonic, der auch das umfassende Nachwort in der vorliegenden Ausgabe verfasst hat, merkt an, dass das Stück "aufgrund seiner bemerkenswerten Qualität keinesfalls als Jugendwerk" bezeichnet werden kann. "Rüssel"-Schauplatz ist die Stube einer Bauernfamilie in einem Alpendorf, das zunehmend "afrikanisiert" wird und dadurch Touristen, Presse und die Dattelindustrie anlocken soll. Klingt absurd. Und sehr heutig.
Bernd Melichar

14.

FISTON MWANZA MUJILA

Ein atemloser Tauchgang

"Überlebensinstinkt kann man nicht lernen. Das kommt von innen", heißt es in "Tram 83". Ohne diese Form der Standardausrüstung ist man im gleichnamigen Nachtclub – irgendwo in Afrika – eher auf der Verliererseite. Wobei sich das Verhältnis von Opfer und Täter hier permanent verschiebt, umdreht, neu ausrichtet. Auch, weil es Verhandlungssache ist, wer gerade am längeren Ast sitzt. Im "Tram 83" haben alle Platz, wobei sich die einen mehr nehmen als die anderen. Für die einen ist es ein Ort, Ankerpunkt ihres Seins. Für die anderen ist es ein Nicht-Ort, ein Schauplatz des flüchtigen Glücks oder Unglücks. Ein Zirkus, deren Artisten tagtäglich über das schwankende Seil tänzeln, darunter die beiden Hauptprotagonisten Requiem und Lucien. Um sie herum zeichnet Fiston Mwanza Mujila ein lautes und rastlose Szenario, in das man ohne Vorwarnung hineinkippt und in dichten Zustandsbeschreibungen hängen bleibt – als wäre man selbst mittendrin. Ob es einem dort gefällt? Kommt darauf an, ob man Gewinner oder Verlierer ist. 1981 in der Demokratischen Republik Kongo geboren, kam er 2009 als Stadtschreiber nach Graz und blieb. Bereits sein Debüt "Tram 83" wurde mehrfach ausgezeichnet und für das Theater adaptiert.
Susanne Rakowitz

15.

NAVA EBRAHIMI

Weggehen und ankommen

Es war wohl mehr als ein Debütroman; vielmehr eine weitere Zäsur, eine zweite Migration, wieder ein Eingewöhnen in eine neue "Heimat". Im Alter von drei Jahren ist Nava Ebrahimi 1981 mit ihren Eltern aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet, wo sie lange Jahre lebte, studierte und als erfolgreiche Journalistin arbeitete. 2012 zog Ebrahimi dann nach Graz, gründete eine Familie und veröffentlichte 2017 ihren ersten Roman "Sechszehn Wörter". Das Buch ist stark autobiografisch grundiert, aber dennoch kein autofiktionales Werk.

Die Ich-Erzählerin Mona reist nach dem Tod ihrer Großmutter in ihr Herkunftsland Iran, mit dem sie eine anstrengende On-off-Beziehung unterhält. "Es kann sein, dass man nirgendwo mehr ankommt, wenn man sich einmal aufmacht", sagte Ebrahimi kurz nach der Veröffentlichung dieses Buches, das damals mit dem Österreichischen Buchpreis für ein Debütwerk ausgezeichnet wurde.

2019 erhielt Ebrahimi den ersten "Morgenstern-Preis", den das Land Steiermark gemeinsam mit der Kleinen Zeitung verleiht, zugesprochen. Und 2021 schließlich gewann Nava Ebrahimi den Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Das klingt ganz nach einem schrittweisen Ankommen.
Bernd Melichar

16.

MARIE GAMILLSCHEG

Über das Unbewohnbare

Es ist etwas faul im Berg, dessen Erz einmal die ganze Region lebendig gemacht hat. Zuerst verläuft nur ein schmaler Riss in der Landschaft, aber das Unheil rumort in den Tiefen. In Marie Gamillschegs "Alles was glänzt" geht es um eine langsam vor sich hinsterbende Region, um "strukturschwaches Gebiet". Es ist zu vermuten, dass auch die Bemühungen des neuen Regionalmanagers keine Trendumkehr versprechen.

Das Dorf ist ein typisches Anti-Idyll, ein sich langsam leerender Menschenzoo, einige der letzten Exemplare klammern sich verzweifelt an das, was einmal Heimat war, andere wollen nur mehr weg.

"Alles was glänzt" zeigt, dass sich die Rezeption eines Buches in kurzer Zeit ändern kann. Marie Gamillscheg: "Vor fünf Jahren wurde er anders gelesen. Damals als Antiheimatroman, heute eher als Klimaroman." Die 31-jährige Grazer Autorin, die in Berlin lebt, ließ vergangenes Jahr ihrem Debüt noch einen weiteren Roman folgen, "Aufruhr der Meerestiere" wurde ebenso gut besprochen wie "Alles was glänzt".

Und sie ist nicht nur als Autorin tätig. Im August sind im Leykam-Verlag zwei Übersetzungen Gamillschegs aus dem Französischen erschienen: "Magie der Blumen" und "Magie der Vögel".
Martin Gasser

17.

REINHARD P. GRUBER

Ins Offene geschrieben

Anfangs war es ein Experiment und Versuch, die eigene Schreibdisziplin zu prüfen: die Chronik eines Jahres in täglichen Eintragungen vom 6. 12. 2017 bis 5. 12. 2018. Geworden ist daraus ein Dokument des Rückzugs, der zornigen Abkehr von einer Welt, die auf Wirtschaftlichkeit bis zur (Selbst-)Zerstörung programmiert ist. Tatsächlich liest sich Reinhard P. Grubers "365 Tage" wie das Journal eines Abschieds vom Zeitgeschehen. Vor großem Horizont. Mancher sah in dem Text gar einen Abschied von der Literatur, selbst der Verlag pries das Buch als das "letzte Buch eines Autors, der von der Bühne der Schreibenden abtritt". Irrtum. Gruber hat keineswegs aufgehört; den in "365 Tage" angerissenen Grimm hat er ein Jahr später, 2020, im Essayband "Anders denken" ausformuliert: als Plädoyer gegen das Diktat steten Wachstums und für die radikale Neuausrichtung des Lebens. 2019 aber ging es Reinhard P. Gruber um anderes: ums Schreiben ins Offene. Ein neues Format für einen der vielseitigsten Dichter der neueren österreichischen Literatur. Immerhin ist er Erzähler, Dramatiker, Essayist, Kochbuchautor, Asterix-Übersetzer und hat mit seinem „Hödlmoser“ den Anti-Heimat-Roman miterfunden. 2019 bewies er mit "365 Tage", dass ihn die Weltlage, in seinen Worten, "nicht zum Schreiben an-, sondern vielmehr aufregt".
Ute Baumhackl

18.

VALERIE FRITSCH

Sprache gegen das Schweigen

Mit "Winters Garten" ist die Grazer Schriftstellerin Valerie Fritsch 2014 beim renommierten Suhrkamp-Verlag gelandet und der Roman selbst mit hymnischen Kritiken im Feuilleton. Von der Kritik sehr wohlwollend aufgenommen wurde dann auch der Nachfolgeroman "Herzklappen von Johnson & Johnson", allerdings fiel der Zeitpunkt der Veröffentlichung ausgerechnet ins Jahr 2020: Corona, Lockdowns, zugesperrte Buchhandlungen, abgesagte Lesungen ... "Ich habe mit diesem Roman versucht, die Sprachlosigkeit in Sprache zu gießen", sagte Fritsch damals in einem Interview mit der Kleinen Zeitung. Alma, die Hauptfigur, wächst in einem Haushalt auf, in dem ständig Theater gespielt wird. Sogar Emil, Almas Sohn, spielt – nämlich den Schmerz, den er bedingt durch eine Krankheit nicht empfinden kann. Eingebettet ist der Roman in einen historischen Kontext. Die Großeltern sind die Kriegsgeneration, vor allem der Großvater entzog sich "der Pflicht des Erinnerns". Alma ist die Erste, die die Mauer des Nichtgesagten durchbricht. Einmal mehr erweist sich Fritsch als sprachsensible Erzählerin, die ihre Figuren behutsam durch Licht und Schatten trägt. Ihren neuen Roman hat sie unlängst fertiggestellt, Veröffentlichung voraussichtlich im nächsten Jahr – ohne Lockdown bitte.
Bernd Melichar

19.

GÜNTER EICHBERGER

Überkochendes Bewusstsein

Gastrokritiker Bosch bekämpft die Müdigkeit an seinem Beruf mit höhnischen Verrissen und lebt die kärglichen Reste seiner Sinnlichkeit mit geriatrischen Prostituierten aus, als ihn die Künste einer Köchin derart berücken, dass er sie zu fördern beschließt. Doch die Virtuosin entzieht sich seinen Plänen durch Flucht. Bosch heftet sich auf ihre Spur, die sowohl nach Istanbul als auch ins eigene Bewusstsein führt, in dem alsbald ein "gewichtsloses Wesen" namens Max Stirner das Regiment übernimmt.

Handlung ist stets Täuschung in Günter Eichbergers Texten. Man wird von ihm an Abgründe geführt sowie an der Nase herum. Der Autor, der Kleinen Zeitung einst als "Stadtflaneur", heute als Gastkommentator verbunden, fügte seinen "Bosch" 2021 einem schillernden Oeuvre hinzu, das von gesundem Misstrauen gegen die Wirklichkeit geprägt ist und in dem sich literarische Spracherkundung und scharfe Satire auf einzigartige Weise verbinden. Bemerkenswert: Der Klagenfurter Ritter Verlag hat zwölf Bücher des produktiven Autors im Programm, das jüngste, unlängst erschienen, trägt den Titel "Weltverlust": nächste Fortsetzung eines Werks, das die menschliche Wahrnehmung lustvoll als Mängelexemplar seziert.
Ute Baumhackl

20.

PRECIOUS NNEDBEDUM

Muttermale
der Seele

Mittlerweile alt gewordene weiße Männer haben die steirische Literatur lange bestimmt. Die Lebenswelt der Gegenwart ist anders, der Diskurs hat sich verschoben. Im Debüt von Precious Chiebonam Nnedbedum zeigt sich der Zeitenwandel auf aufregendste Weise. Sie ist eine in Nigeria und Österreich aufgewachsene Frau, die also aus mehreren Kulturtraditionen zu schöpfen vermag.

Auch wenn dieser Reichtum mit Schmerzen verbunden ist, wie sie als nach Österreich eingewandertes Kind erfuhr. Die Autorin kommt nicht über einen Umweg zur "echten Literatur", sondern zeigt als Poetry Slammerin, dass Literatur in neuen Formen in Erscheinung tritt: als Slam, wo orale Traditionen reanimiert werden.

Man kann das zweisprachige "birthmarks" ("Muttermale") aber nicht auf die kulturellen Aspekte reduzieren. Hier ist eine Stimme, die von Selbstermächtigung spricht, eine Seele, die ihren Platz in der Welt sucht und diesen für sich beansprucht. Also all dem, was Literatur seit viertausend Jahren mit ausmacht. "am beginn war das Wort / somit wird das ende von dem Wort einberufen.", schreibt/sagt Nnedbedum, deren Debüt auch eine Hommage an die Kraft der Sprache ist.
Martin Gasser

Fotos: Helmut Lunghammer, Christoph Huber, Imago/SKATA, Imago/Eventpress, Andreas Fischer, Imago/Horst Galuschka, KLZ/Bernd Melichar, Marija Kanizaj (2), Elmar Gubisch, Wolfgang Schnuderl, Peter Rigaud, Helmut Utri, Imago/Christoph Hardt, KLZ/Jürgen Fuchs, Leonie Hugendubel, KLZ/Herwig Heran, oxyblau photography/Martin Schwarz, KLZ/Markus Traussnig, KLZ/Richard Großschädl